Brauchtumspflege

Man braucht jetzt wirklich nicht mehr jedes Mal von System-immanenten Missständen (schlammverkrustete Betrunkene, stundenlange Wartezeiten) zu schreiben, wenn man über große Festivals berichtet. Wir jedenfalls reisten, wie von Geisterhand bewegt, staufrei an und ab – und auch die Geruchsentwicklung hielt sich dank der bei trockenem Wetter absenten Sonne in Grenzen. Generell ist einem ja unbegreiflich, wie man überhaupt 85 000 Leute über drei Tage in halbwegs geordneten Bahnen zusammenführen kann. Und natürlich besteht auch auf einem kommerziellen Großereignis wie Rock am Ring die Möglichkeit, Spaß zu haben und ein paar tolle Konzerte sehen, wenn man bereit ist, sich auf die Konditionen einzulassen.

Am Freitag pegelt das Mammutereignis sich langsam ein, unter anderem mit der in Sauna-Kluft agierenden Band Johnossi und einer spontan von CSS- und Tokyo Police Club-Mitgliedern bestrittenen Jam-Session. Zum strahlenden Höhepunkt beinahe des gesamten Wochenendes gerät dann schon das Comeback-Konzert von Rage Against The Machine. Natürlich ist ihr „Fuck you, I won’t do what you tell me“-Geist hier etwas fehl am Platz – das Coca-Cola-Logo leuchtet heller in der Nürburger Nacht als der obligate rote Stern auf schwarzem Grund hinter Schlagzeuger Brad Wilk. Weshalb man hofft, der reaktivierte Zach de la Rocha würde vielleicht auf seine legendären politicai Speeches verzichten. Tut er natürlich nicht: Beinahe zehn Minuten wird gegen Bush, das System und überhaupt alles gewettert. Aber vielleicht ist die Empörung ja nur konsequent, gehört sie doch in einem derartigen Rahmen ebenso zur Folkore wie am nächsten Tag die Gitarrensoli bei Metallica. Wer schlau ist, liefert hier nach Vorschrift, und schlau sind Rage Against The Machine allemal.

Die zwischen Publikum und Band bewegten Energiemengen sind trotzdem atemberaubend, und während man dem offenbar alterslosen de la Rocha beim Agitieren zusieht, wird einem schlagartig klar, auf welch gewaltigem Irrweg sich die Restbesetzung während der letzten Jahre mit Chris Cornell tatsächlich befand.

Später in der Nacht bringen die Pariser von Justice dann einmal mehr das schon länger erprobte Konzept des DJs als Rockstars zur Vollendung. Wie Gaspard Auge und Xavier de Rosnay auf der Zeltbühne zwischen Marshall-Stacks lederjackenbewehrt an ihren Turntables stehen, Samples abrufen – oder zwischendurch auch einfach mal gar nichts machen, außer das Publikum zum Mitklatschen und sonstigem Rock-Unsinn zu animieren: eine große Freude.

Nach einem relativ ereignislosen Samstagnachmittag (viel Schweinerock im Zelt und auf der Hauptbühne), allenfalls versüßt durch die brillanten Hot Chip und der leider etwas wirkungslosen Kate Nash auf der Alterna-Stage, findet der musikalische Höhepunkt des zweiten Tages leider weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt: James Dean Bradfield, dessen Manie Street Preachers beim harten Rockpublikum offenbar wenig bekannt sind, eröffnet mit den Worten „This is called ,Motorcycle Emptiness'“ einen Greatest-Hits-Set, das die letzten zwei Alben weitgehend ausspart, ob seines konstant hochgradigen Niveaus aber noch lange nachhallen wird.

Unterdessen hat sich das Gros der Harten bereits wieder vor der Hauptbühne versammelt, um sich ein warmes Plätzchen für Metallica zu sichern. Wie überhaupt beinahe sämtliche Headliner-Positionen mit den musikalischen Helden der Neunziger besetzt sind. Ein bereits vom Vorjahr bekanntes Phänomen. Nach Metallica, die vielleicht ein bisschen allzu routiniert agierten, aber durchaus überzeugten und gar einen Song aus dem kommenden Album präsentierten, dann The Verve auf der Alterna-Stage: Der einzige Unterschied zwischen des Sängers Solo-Konzerten und dem schlichtweg langweiligen Auftritt der wiedervereinigten Band ist Richard Ashcrofts heuer deutlich schickere Garderobe.

Pete Doherty hat seinen Babyshambles unterdessen auf ebenso perfide wie inzwischen bekannte Weise den Headliner-Spot auf der Alterna-Stage gesichert. Das alte Spiel: Zuerst hieß es, Doherty stecke, nun ja: im Stau.

Seine Band sei schon da, er selbst hingegen nicht. Irgendwann sollten die Babyshambles dann gar nicht mehr auftreten, und so rieb man sich fast schon verwundert die Augen, als man morgens um zwei, beim Wechsel von einem Zelt ins andere, plötzlich „Delivery“ über das Gelände schallen hörte. Es wurde dann tatsächlich sogar noch ein erstaunlich aufgeräumtes Babyshambles-Konzert.

Der Sonntag war— fast schon eine Tradition bei „Rock am Ring“‚ — der Tag der Toten Hosen, die das Finale souverän gewannen. Die Konkurrenz war diesmal freilich auch denkbar schwach. Im Gegensatz zum stumpfen Kid Rock (der sich auf „Drift Away“ und „Sweet Home Alabama“ verließ) haben die Hosen genug eigene Lieder, bei denen jeder mitsingen kann. Verglichen mit den Sportfreunden Stiller beherrschen sie ihre Instrumente perfekt. Und anders als die deutschen Fußballer bei ihrem EM-Auftakt lassen sie das Spiel nie schleifen. Campino, lernten wir, kann auch mit Gehgips rennen, grätschen und hüpfen – notfalls eben auf einem Bein. Nach längerer Auftrittspause brauchten die fünf zwar ein bisschen zum Aufwärmen, fanden dann aber noch in der ersten Halbzeit locker ins Spiel. Beherzt wechselten sie vom rührenden „Nur zu Besuch“ zum wütenden „Pushed Again“, von den Klassikern zu zwei neuen Songs. Und ganz am Schluss kam natürlich das Stück, das zu diesem Festival mit seinen 160 000 Zuschauern („Rock im Park“ eingerechnet) passt wie das Bier in den Pappbecher: „You’ll never walk alone.“

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