Brexit: England, wir müssen reden!

Das Mutterland des grenzenlosen Pop schottet sich ab. Der Brexit verändert (fast) alles

Ende November beim externen Geburtstagsfest der anglophilen Hamburger Plattenfirma Tapete Records im Londoner Lexington, die Augsburger Friedrich Sunlight hatten gerade mit ihrem deutschsprachigen Sunshine-Pop das Publikum begeistert und fühlten sich zu einem kleinen Scherz auf Kosten des Gastgeberlands ermutigt: „Hallo, wir kommen aus Europa.“

Schuldbewusst verschämtes Gelächter. „Das ist ein ganz, ganz weit entferntes Land.“ Kurz stand die Luft still, aber auf eine gute Art, schließlich schätzen die Engländer ja das humorvolle Spiel mit der Betretenheit. Obwohl, wer sind schon „die Engländer“? Das fragen sie sich selbst derzeit ganz intensiv, die besten unter ihnen leider eher im Stillen. Brexit dagegen ist der rassistische Onkel beim Familienfest, der sich in seinen berauschten Vorträgen zur Weltlage einfach nicht zum Schweigen bringen lässt. Weder vom Augenrollen der Verwandtschaft noch vom zum Riff von „Seven Nation Army“ skandierten „Oh Jeremy Corbyn!“-Gejohle des Nachwuchs aus dem Nebenzimmer.

Ringo Starr

Als einer, der einst in Großbritannien eine von allen Zwängen der Herkunft befreiende Pop-Utopie zu finden glaubte, fällt mir die Einsicht immer noch schwer: dass dieses Land genauso kleingeistig ist, wie jenes, wo ich herkam. Es überraschte mich zwar längst nicht mehr, als Morrissey sich hinter eine Rechtsaußen-Kandidatin von UKIP stellte. Aber Ringo Starr brach mir mit seinem Bekenntnis zum Brexit das Herz, hatten doch gerade die Beatles Großbritannien einst von der Ex-Kolonialmacht zum internationalen Wunderland des Pop umdefiniert. „Ringo war immer schon der Brexit-Beatle“, meinte einer auf Twitter. Schließlich habe jener sich einst Baked-Beans-Dosen nach Indien schicken lassen. Das saß. War ich mit meinen Pop-Utopien bloß einem Riesenmissverständnis aufgesessen?

Noch so ein bezeichnender Moment, während einer Bandprobe mit der hauptsächlich in Marrakesch lebenden, schlohweiß-bärtigen Psychedelic-Legende Twink (Tomorrow, Pretty Things, Pink Fairies): Der 74-Jährige hatte sich gerade über Theresa May beschwert. Dank deren paranoidem Programm, eine „feindselige Umgebung“ für Einwanderer zu schaffen, dürfe selbst seine eigene Ehefrau, eine Marokkanerin, nicht mehr einreisen.

John Charles Alder alias Twink

„Mein Mitgefühl, Twink. Aber etwas wundert mich schon“, räumte ich ein, „dass ausgerechnet deine Generation der Freaks mit so großer Mehrheit für den Brexit gestimmt hat.“

Verletzter Stolz blitzte in seinen blauen Augen auf. „Weil wir uns noch an die Siebziger erinnern können“, sagte er. „Und so schlecht liefen die Dinge damals nicht. In fact, things went very well.“

Nun bin ich ja selbst anfällig für jene Nostalgie, die düsteren Epochen einen posthumen Glorienschein verpasst (in Wahrheit bettelte Großbritannien 1975 als „kranker Mann Europas“ um die Aufnahme in den Europäischen Wirtschaftsraum). Aber ich erklärte Twink, dass just diese Sehnsüchte nun auch meinesgleichen zu unerwünschten Gästen in Theresa Mays „feindseliger Umgebung“ gemacht hätten – „genauso wie deine Frau.“

Da stimmte er schweigend zu. Und ich musste an dieses Mick-Jagger-Video denken, „England Lost“ vom vergangenen Sommer, in dem ein Mann im Tweed-Dreiteiler auf der Flucht vor der bedrohlich modernen Welt ins Wasser geht. Jagger erntete für die vermeintliche Irrelevanz dieser Schnellschuss-Single viel Häme, dabei versuchte er wohl den irrelevanten alten Onkel Brexit auf Augenhöhe anzusprechen. Und das wird dem besseren England auch nicht erspart bleiben. Denn der peinliche Onkel führt immer noch das Wort.

Unser Autor Robert Rotifer, 48, stammt aus Wien und lebt seit 20 Jahren in Großbritannien. Soeben hat der Songwriter ein Album zum Thema veröffentlicht: „Über uns“

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Jorgen Angel Redferns
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