Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (4): Boston, 19.11.2007

Danny's Night: Das rauschhafte finale Konzert der klassischen E Street Band

Aktuell 43 Live-Mitschnitte, aufgenommen zwischen 1975 und 2013, bietet Bruce Springsteen auf seiner Website in der „Archive Series“ in verschiedenen Formaten zum Download an. In der Regel erscheint am ersten Freitag jedes Monats eine neu abgemischte Archiv-Show.

Welches Konzert hatte die schönste Setlist? Wo war der Sound am besten? Ein Springsteen-Guide als Serie, zum 70. Geburtstag des Musikers: Aufnahmen, die man kennen muss.

Die Autoren:

Lutz Göllner ist Redakteur im Medienressort der Berliner Stadtmagazine „zitty“ und „tip“. Bei einem USA-Aufenthalt hat er 1974 erstmals Springsteen gehört, fühlte sich als Kind und Jugendlicher immer wie ein Loser, bis er merkte: Er selber ist die Hauptfigur in Springsteens epischen Songtexten – über Loser. Er hält „Darkness On The Edge Of Town“ für die beste LP aller Zeiten.

Erik Heier ist stellvertretender Chefredakteur von „tip“ und „zitty“, erlebte 1988 in Weißensee sein erstes Springsteen-Konzert, musste aber 28 Jahre ausharren, bis er endlich seinen Lieblingssong „Backstreets“ bei seiner elften Show live zu hören bekam. Jetzt wartet er noch auf „Lost in the Flood“.

Bruce Springsteen: Boston, 19.11.2007

von Erik Heier

Der Präsident hat es nicht so genau mit der Wahrheit, er teilt die Welt in Gut und Böse, seine Administration stürzt ganze Regionen ins Chaos. Immerhin schläft er bestens.

Nein, es geht hier nicht um Donald Trump.

2007 bringt Bruce Springsteen mit „Magic“ sein vielleicht politischstes und wütendstes Album heraus (mit der Ausnahme der weitaus weniger gelungenen Banker-Beschimpfung „Wrecking Ball“ von 2012). George W. Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld haben den halben Nahen Osten in die Luft gejagt, die dikatorische Architektur im Irak zerschlagen und sich nicht darum geschert, was danach kommen könnte. Und Springsteen macht bei jeder Gelegenheit klar, was er von Bush junior und Konsorten hält: herzlich wenig.

Und diese Grundstimmung schwingt auch bei der „Magic“-Tour mit.

Schließlich ist Springsteen schon drei Jahre zuvor mit dem Demokraten John Kerry gegen den Tölpel im Oval Office in den Wahlkampf gezogen, vergeblich freilich, die Amerikaner sind mehrheitlich ein eher komisches Volk. 2006, ein Jahr vor „Magic“, hat er mehrfach dazu aufgerufen, die US-Soldaten aus dem Irak nach Hause zu holen: bei den Grammy-Awards, von der Bühne auf seiner von Pete-Seeger-Songs inspirierten Tour mit der Sessions Band („Bring ‚em home!“). Ein Song auf „Magic“, „Last to Die“, den später übrigens die Pet Shop Boys covern werden, paraphrasiert sogar ein John-Kerry-Zitat über den Vietnam-Krieg von 1971. „Who’ll be the last to die for one mistake?“, singt Springsteen mit  zornesheller Stimme.

Mehr zum Thema
Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (3): The Christic Shows, November 16 & 17, 1990

Gleichzeitig ist es ein in Teilen sehr düsteres, fast depressives Album, auf dem ein untypisch introvertierter Titelsong in wenigen Worten eine apokalyptische Variation der Zukunftswelt zeichnet, die einen das Blut in den Adern gefrieren lässt:

„Now there’s a fire down below
But it’s coming up here
So leave everything you know
Carry only what you fear

On the road the sun is sinkin‘ low
There’s bodies hanging in the trees
This is what will be.“

Kämpferischer klingt es  auf einem der herausragenden Songs des Albums, „Long Walk Home“, der bis heute nichts von  seiner Gültigkeit eingebüßt hat:

„Your flag flyin‘ over the courthouse
Means certain things are set in stone
Who we are, what we’ll do and what we won’t

It’s gonna be a long walk home.“

Mit „Magic“ zum ersten Mal kein distinktiv eigener Sound

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Nicht allen Fans gefällt seine politische Volte. Springsteen ist politisch progressiver als viele der Rednecks, die vor der Bühne die das Bier in der Faust hochrecken, wenn er doch mal – was in den USA jahrelang selten vorkommt – „Born In The U.S.A.“ in der Stadionrock-Version anstimmt.

Als das Album „Magic“ Ende September 2007, wenige Tage nach Springsteens 58. Geburtstag, erscheint, wird es als seine Rückkehr zum Rock apostrophiert. Aber vielleicht zum ersten Mal hat eine Springsteen-Platte keinen distinktiv eigenen Sound, in der Tat gibt es bis dahin keine zwei Alben, die gleich klingen würden. Jetzt aber zitieren Songs den Sound von „Born in the U.S.A.“  („Last to Die,“ „I’ll Work for your Love“), wiederverwerten Saxophon-Parts von „Tenth Avenue Freeze-out“ von „Born to Run“ („Livin‘ In The Future“), brettern à la „Darkness On The Edge of Town“ (1978) mit herzhaften Gitarren auf dem Highway in Richtung Sonnenuntergang (die erste Single „Radio Nowhere“, „Gypsy Biker“) oder nehmen sogar die 70er-Southern-California-Pop-Reminiszenzen von „Working on a Dream“ (2008) und  „Western Stars“ (2019) vorweg („Your Own Worst Enemy“, „Girls in their Summer Clothes“). Ärgerlicherweise fährt allerdings Produzent Brendan O’Brien allzu viele Nuancen munter gegen die Wall of Sound.

Stellenweise könnte man denken, die E Street Band ziehe eine Art Bilanz, haue noch einmal alles rein, ein letztes großes Hurray. Und das ist es irgendwie ja auch.

Es wird die letzte Tour sein, die die E Street Band mit der klassischen Besetzung beginnt. Beim Keyboarder Danny Federici ist Hautkrebs diagnostiziert worden, aber sehr spät, die Tumore haben bereits gestreut. Mit diesem hier vorgestellten zweite Konzert im TD Banknorth Garden Boston, der letzten Show des ersten Teils der „Magic Tour“, endet eine Ära. Noch weiß  an diesem 19. November niemand im Publikum, dass Danny Federici danach wegen der Krebsbehandlung die Tour abbrechen muss, nicht mit zum nächsten Tour-Abschnitt nach Europa reisen wird. Aber alle spüren, es liegt etwas in der Luft.

Dudelkasten mit lustigem Tschingderassabum

Die ganze Intensität der „Magic“-Tour, mit durchdachten, fokussierten, etwas kürzeren Setlists, sie kulminiert in diesem Abend in einer energetischen und gleichzeitig zu Herzen gehenden Performance der Band. Nachdem zum Einmarsch ein wunderlicher Dudelkasten auf der Bühne mit lustigem Tschingderassabum die alte Zirkusnummer „The Man On The Flying Trapeze“ intoniert, geht mit Springsteens Gitarrenintro von „Radio Nowhere“ sofort die Post ab. „Night“, Bang!, „Lonesome Day“, Bang!, „Gypsy Biker“, Bang! Gitarren bis unters Dach. Nur kurz währt das  Innehalten mit einem freundlichen „Fuck you!“ in Richtung Weißes Haus: „Magic“ („This is really not about magic, it’s about tricks“). Und schon ereignet sich das auf dieser Tour zum krachigen Blues-Stomper mit verzerrtem Mundharmonika-Riff glanzvoll umarrangierte „Reason to Believe“ vom 1982er Soloalbum „Nebraska“.

Danny Federici 2001

Aber vor allem ist es die Show von und für „Phantom“ Danny Federici (der Spitzname stammt von einem Polizeieinsatz bei einem frühen Konzert, bei dem er verhaftet werden sollte, weil er angeblich Lautsprecherboxen auf Polizisten geworfen hatte – aber wie ein Phantom verschwand). Mit der Tourpremiere des „Born in the U.S.A.“-Outtakes „This Hard Land“ liegt das Spotlight auf dem schmächtigen Mann an der Hammond-B3-Orgel, dessen Gesicht bereits von dem gezeichnet ist, was ihm bevorstehen wird. „C’mon Danny“, ruft Bruce, und Federicis Orgel scheint noch einmal hell in diesen Song von Freundschaft, Aufbruch und, ja auch: Vergänglichkeit.

„Well if you can’t make it
Stay hard, stay hungry, stay alive
If you can
And meet me in a dream of this hard land.“

Dann schnallt sich Danny Federici das Akkordeon um, steht vorn neben Springsteen, und gemeinsam zelebrieren sie eine wundersame Version von „4th of July, Asbury Park (Sandy)“ vom zweiten Album „The Wild, The Innocent And The E Street Shuffle“ (1973), ein vorletztes Mal. Im März des nächsten Jahres würde Federici noch einmal für dieses Lied in Indianapolis auf die Bühne kommen, vier Wochen vor seinem Tod am 17. April 2008. In seiner Autobiografie „Born to Run“ schreibt Springsteen: „Er wollte noch einmal den Song spielen, auf dem es passenderweise um das Ende von etwas Schönem und um den Anfang von etwas neuem, Unbekannten geht.“

(Gut drei Jahre darauf wird mit Clarence Clemons, dem mächtigen Saxophonisten, dem Big Man, der nächste der originalen E Street Band sterben, dessen Gesundheitszustand schon auf dieser, der „Magic“-Tour, sichtlich Probleme verursacht).

Und Federicis Orgel bleibt im Ohr bei dieser letzten Show, dieser distinktive Signatur-Sound der E Street Band, den auch sein großartiger Nachfolger Charlie Giordano nicht vollends würde imitieren können (oder wollen): beim einzigen „Born In The U.S.A.“-Stück „Working On The Highway“, beim träumerischen Intro des nach dieser Tour aus unerfindlichen Gründen nie mehr gespielten „Devil’s Arcade“ von „Magic“, beim langen Solo in „Kitty’s Back“. Auch die andere Tourpremiere des Abends, „Tenth Avenue Freeze-out“ (mit Peter Wolf als Gast), zitiert noch einmal die Legende der Band.

Als das finale „American Land“ verhallt ist, steht die Band am Bühnenrand. Und dann geht Springsteen rüber zu Danny Federici, drückt ihn an sich. Die Szene flimmert über die riesigen Bildschirme, spätestens jetzt spüren alle, das etwas nicht so ist wie sonst immer, „Danny! Danny!“, hallt es aus dem Publikum zurück. Gitarrist Steven Van Zandt und Springsteen nehmen Phantom Dan in ihre Mitte, wollen ihn schier gar nicht mehr loslassen.

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Manchmal müssen wir Dinge erst wegwerfen, sie sogar zerstören, um zu erkennen, was sie uns wirklich bedeuten. Es hat eine Weile gebraucht für Bruce Springsteen, zu verstehen, warum die E Street Band eine so einzigartige Band für ist, warum er sie so braucht wie sie ihn, vielleicht wäre diese Erkenntnis ohne die zeitweilige Auflösung der Band 1988 bis 1999 auch gar nicht so durchgeschlagen, wer weiß das schon. Aber als er vor ein paar Tagen, kurz vor seinem 70. Geburtstag, bei der Vorstellung des „Western Stars“-Kinofilm auf dem Filmfestival in Toronto noch einmal betont, dass er mit der E Street Band bald ein neues Album aufnehmen werde, ein Rock-Album, ein Band-Album, ist er sich der Bedeutung dieser Kombination, „Bruce Springsteen & The E Street Band“, nur allzu bewusst.

Wie hat er doch auch damals in Boston nach einem rauschhaften Konzert so beschwörend skandiert:

„Boston, you’ve just seen the heart-stopping, pants-dropping, hard-rocking, booty-shaking, earth-quaking, love-making, Viagra-taking, history-making, legendary …

E!

Street!

Band!!!“

Setlist:

  • Radio Nowhere
  • Night
  • Lonesome Day
  • Gypsy Biker
  • Magic
  • Reason to Believe
  • Darkness on the Edge of Town
  • Candy’s Room
  • She’s the One
  • Livin‘ in the Future
  • This Hard Land
  • 4th of July, Asbury Park (Sandy)
  • The E Street Shuffle
  • Working on the Highway
  • Devil’s Arcade
  • The Rising
  • Last to Die
  • Long Walk Home
  • Badlands
  • Girls in Their Summer Clothes
  • Tenth Avenue Freeze-out (mit Peter Wolf)
  • Kitty’s Back
  • Born to Run
  • American Land

>>> Download des Konzerts

Pam Francis Getty Images
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