Aus dem Off (6)

Corona-Tagebuchnotizen von Arne Willander: Things I Miss The Most

Anmerkungen zum Karstadt am Hermannplatz in Berlin und zu Donald Fagen.

Der vierte Tag mit verstörend blauem Himmel, Sonne und Kälte. Der Wetterfrosch im Frühstücksfernsehen weist Spekulationen zurück, die Bläue sei Folge des fehlenden Flugverkehrs. Es ist extrem trockene, klare Luft.

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Ein Ausflug zu dem grandiosen expressionistischen Karstadt-Haus am Hermannplatz, 1929 eröffnet und nach dem Krieg nur teilweise mit Anbauten verschandelt. Das Kaufhaus ist geschlossen, nicht aber die Lebensmittelabteilung und die Drogerie im Keller. Das bunt verpackte Schokoladenzeug ist an den gesperrten Rolltreppen zu einer Art Oster-Ausstellung zusammengefasst, die aber kaum besucht wird. Am Bäckerstand wird vor dem Tresen ein Absperrband wie an Tatorten appliziert.

Manche Frauen bewegen sich wie hypnotisiert, manche Rucksackmänner wie angestochen, an den Kassen herrscht resignative Trance. Eine Kassiererin sitzt beim Kollegen seitlich auf dem Türchen zum Schalter wie in der großen Schulpause. Man muss nicht anstehen. Bezahlen muss man noch. Bei der Drogerie wird so ostentativ Abstand gehalten, dass die Schlange an der einzigen Kasse um die Regale herumreicht. Ein Mädchen verrenkt die Gliedmaßen, verdreht die Augen und sagt naseweis: „Sind viele Männer hier.“ Die keine Orientierung haben.

Damals nannte man Donald Fagen einen Spinner

Die Resilienzforschung empfiehlt Selbstumarmungen und Selbstfeier, damit der menschliche Kontakt nicht abreißt. Ich höre eine ungemein affirmative Platte, „The Nightfly“ von Donald Fagen, auf der er sich 1982 an das International Geophysical Year erinnerte, das vom Juli 1957 bis zum Dezember 1958 dauerte. „What a beautiful world this will be/ What a glorious time to be free.“

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Von New York nach Paris in 90 Minuten! Die Zukunftshoffnung befeuerte noch Fagens zweite Platte, „Kamakiriad“ von 1993, ein Konzeptalbum, das die Reise des Erzählers in einem dampfgetriebenen Ökomobil mit angeschlossenem Gemüsegarten beschreibt. Damals nannte man ihn Spinner, heute wird man ihn einen Rationalisten nennen, wenn „Trans-Island Skyway“ bei YouTube wiederentdeckt wird, was nicht mehr lange dauern kann.

Fagens ohnehin nicht heiteres Gemüt verdunkelte sich mit den Jahren. Mit Walter Becker nahm er zur Jahrtausendwende noch zwei Platten als Steely Dan auf, „Two Against Nature“ und „Everything Must Go“. Ein Film zu dem zweiten Album zeigt Becker und ihn auf einer missvergnügten Taxifahrt durch Las Vegas, bei der sie eine angehende Schauspielerin und eine Hostess mitnehmen und Champagner aus Plastikbechern trinken.

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Fagen mit seinem kleinen Klimperkeyboard sieht aus, als müsste er sich gleich übergeben, während der ironisch stichelnde Becker wahrscheinlich gern mit den Damen in ein Hotel am Strip gehen würde. Die blonde Lizzy, der erste – und übrigens bauchfreie – Fahrgast, kreischt bei der Entdeckung, dass sie mit den „guys from Steely Dan!“ im Taxi fährt und stößt mit den gespreizten Fingern in die Luft. Sie ist sehr laut. Es sei nämlich so: Ein Freund am College, wohl ihr Liebhaber, sei ein Fan der Musik von Steely Dan gewesen. Becker fragt, wie der Freund heiße. „Rave“, sagt Lizzy. Er habe GESAGT, er heiße Rave, aber wie sich dann herausstellte, sei sein Name Ralph! Becker und Fagen sind fassungslos. Überhaupt sei dieser Rave-Ralph ein Lügner gewesen. Nicht gelogen war aber seine Liebe zu Steely Dan. Jetzt fragt Lizzy, wie die Jungs eigentlich so auf ihre Songs kommen: „Are you reeling in the sheaves or what?“ Fagen sagt: „,Reeling In The Sheaves‘, das ist ein guter Songtitel.“ Einen Song mit einem ganz ähnlichen Titel haben sie tatsächlich geschrieben, aber das sagt er nicht. Weshalb diese Texte, die oft zunächst keinen Sinn zu ergeben scheinen, dann doch Sinn ergeben. Fagen murmelt etwas von Unbewusstem. „Right“, sagt Lizzy und nickt bestätigend. „Das ergibt Sinn.“

Die lebenskluge ältere Taxifahrerin leidet nachsichtig mit. Sie halten dann an einer Raststätte, an der „Everything Must Go“ steht.

Vergnüglich beschriebene Depressionen

Auf der Platte singt Donald Fagen in „Things I Miss The Most“, dass er „the talk, the sex, somebody to trust, the Audi TT, the house on the Vineyard, the house on the gulf coast“ am meisten vermisst. Er schrieb vor einigen Jahren das Buch „Eminent Hipsters“, eine Mischung aus nostalgischen Memoiren und einem Tagebuch der Tournee mit Boz Scaggs und Michael McDonald als Dukes Of September. Nicht einmal Samuel Beckett hat Depression so vergnüglich und liebevoll geschildert.

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Vor zwei Jahren veröffentlichte Fagen seine bloß vier Soloalben in einer Schachtel als „Donald Fagen Complete“ unter dem Titel „Cheap Xmas“. Seinen Song „Snowbound“ könnte ich ewig und drei Tage hören, und das mache ich jetzt auch. „We sail our icecats on the frozen river/ Some loser fires off a flare, amen/ For seven seconds it’s like Christmas day/ And then it’s dark again.“

Hoffentlich bleibt Donald Fagen gesund.


Aus dem Off – Corona-Tagebuchnotizen von Arne Willander

Arne Willander

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