Der Fernseh-„Tatort“ ist aus deutschen Wohnzimmern nicht mehr wegzudenken

Der Fernsehautor Fred Breinersdorfer warnt vor Weichspülern, die das deutsche TV-Denkmal "Tatort" durch Standardisierung unterhöhlen wollen. Doch auch im 34. Jahr gibt es noch Überraschungen: Kühle Kommissarinnen feiern ungeahnte Quoten-Erfolge, und die Pathologen werden immer wichtiger. Anlässe für eine Bilanz, bevor zum Jahresende die 555. Folge läuft.

Es sind diese Augen. Zwei graugrüne, fast schlupflidrige Augen hinter schmalen Schlitzen. Erst schauen sie mit kurzem Aufschlag von oben, dann mit furchtsamem Rechtsblick gehetzt von unten und schließlich mehr oder minder angstvoll durch die Mitte. Dazu ertönt als unverkennbares Signal dreimal eine Quart aufwärts, bevor sich um die rechte Pupille ein Fadenkreuz spinnt und eine von treibenden Bassläufen und Streichattacken angefeuerte Jagd beginnt. Jeder kennt diese wohl berühmtesten Augen Deutschlands, die Augen aus dem „Tatott“-Vorspann, die Augen von Horst Lettenmeyer. „Die suchen ein paar Augen – melde dich mal“, hatte seine Agentur dem Schauspieler 1970 geraten, der daraufhin bei der zuständigen Produktion vorstellig wurde und prompt Fernsehgeschichte schrieb. Einmalig 400 Mark war die Arbeit der ARD wert, 200 pro Auge. Eigendich ein korrekter Preis für elf Sekunden Präsenz in einem Krimi-Projekt, dessen Haltbarkeit die Planer im Ersten optimistisch auf zwei Jahre veranschlagt hatten. Dass wesentlich mehr daraus werden sollten, dass am letzten Sonntag dieses Jahres bereits die 555. Folge läuft, konnte damals niemand absehen, am wenigsten Horst Lettenmeyer, dessen Einsatz der größte seiner schauspielerischen Karriere bleiben sollte, sieht man einmal von der Stimme ab, die er dem in der „Biene Maja“ herumwuselnden Ameisenoffizier lieh. Immerhin war er vor seinem Ausstieg aus der Mimerei einmal noch als Komplettperson im „Tatort“ zu sehen. In „Der Pott“ durfte er 1989 einen Gewerkschaftsfunktionär spielen, bevor er sich wenig später zur Umschulung entschloss.

Heute arbeitet Lettenmeyer erfolgreich als Lampendesigner, und möglicherweise gehört er auch und immer noch zu jenen regelmäßig acht bis zehn Millionen Menschen, die sonntags gespannt in seine traurigen Augen schauen, die der profiliertesten deutschen Fernsehspielreihe auch im 34.Jahr die Treue halten und die sicherlich wieder mit von der Partie seien werden, wenn am 11. Mai Peter Sodann und Bernd Michael Lade in der Rolle der Hauptkommissare Ehrlicher

und Kain den 532. Fall am „Tatort“ lösen.

In „Außer Kontrolle“ geht es im stark entschleunigten Ost-Tempo mit viel Zeit für bedächtige Blicke um den Tod eines Leipziger Obdachlosen. Was anfangs wie ein Unfall wirkt, entpuppt sich bald als Mord, und wieder einmal tritt eine für den „Tatort“ dieser Tage fast schon typische Wendung ein: die emotionale Verknüpfung des Ermittlers, denn Hauptkommissar Kain kannte den Toten aus seiner Schulzeit. Dementsprechend hitzig recherchiert er und muss immer wieder von seinem penetrant altersweisen Kollegen Ehrlicher gebremst werden. Es stellt sich heraus, dass der Stadtstreicher in einem Viertel ums Leben kam, in dem es wundersamerweise seit geraumer Zeit keine Menschen mehr gibt, die auf der Straße leben. Wundersamerweise seit genau der Zeit, da Hauptwachtmeister Lohner die „Pflege“ des Bezirks übernommen hat. Seitdem wird hier nicht mehr gesprüht, nicht mehr gedealt, nicht mehr ohne Dach gelebt Gelegentlich sieht man gar Graffiti-Künstler mit Schwamm und Eimer beim sorgsamen Entfernen ihrer Werke. Eine selbsternannte Bürgerwehr hat das Regiment übernommen und bezahlt die Überstunden des eifrigen Wachtmeisters aus eigener Tasche. Das bringt den Beamten zunehmend in Bedrängnis, denn rein zufällig war der tote Stadtstreicher auch noch der bislang nicht geschiedene Mann seiner Lebensgefährtin.

Solche Verwicklungen und Verwirrungen wären im Jahre 1970 nicht unbedingt ein Thema gewesen, denn damals war die deutsche Realität eine andere. 1970 war das Jahr nach Woodstock, das Jahr, in demjimi Hendrix starb, als die Beatles sich selbst schon ziemlich final JLet It Be“ rieten und Peter Maffay mit „Du“ Geschmacksgrenzen aufbrach. Es war auch 1970, als Bundeskanzler Willy Brandt den Kniefall im Warschauer Ghetto wagte und im Rahmen seiner umstrittenen Ostpolitik Willi Stoph, den Vorsitzenden des DDR-Ministerrates, in Erfurt traf.

Es herrschte ein trotz der angeblich wilden Zeiten von 1968 immer noch vergleichsweise verklemmtes Klima, als Horst Lettenmeyers Augen am 29. November erstmals in deutsche Wohnstuben blickten. Danach war ein Kommissar zu sehen, der statt eines Gesichts eine Knautschzone vorne am Schädel trug. Kommissar Trimmel hieß der von Walter Richter gespielte Hamburger der gleich für den ersten Fall seine hanseatische Wirkungsstätte verließ, um sich einem ziemlich mörderischen deutsch-deutschen Problem zu widmen. In „Taxi nach Leipzig“ wird an einer sächsischen Autobahn die Leiche eines Jungen aufgefunden. Weil der Tote Westschuhe trägt, bittet die Volkspolizei ihre Kollegen auf der anderen Seite der Mauer um Mithilfe, zieht dieses Ansinnen aber kurz danach wieder zurück, was natürlich den Spürsinn eines ARD-Fahnders erst richtig weckt, weshalb der stets ein wenig mürrische Trimmel als Tourist getarnt in der DDR ermittelt.

Dass damit gleich in der ersten Folge das Konzept der Reihe über den Haufen geworfen wurde, nach dem man die Geschichten deutlich einem Landstrich zuordnen können muss, hatte rein ökonomische Gründe. Niemand in der ARD hatte wirklich damit gerechnet, dass der ehemalige WDR-Fernsehspielchef Günther Witte sich mit dem Vorschlag durchsetzen würde, eine föderal organisierte Verbrecherjagd zu institutionalisieren, die sich auszeichnen sollte durch deutlichen Ortsbezug und locker eingestreute private Elemente aus dem Leben der Ermittler. Und so packte jeder Sender dazu, was er eh in Planung hatte.

bei den Wissenden in der Branche allenfalls ein mildes Lächeln auslöst „Wir mussten unbedingt etwas tun gegen die immer erfolgreicheren Unterhaltungsangebote des ZDF“, rekapituliert Witte und berichtet, wie er als Kind immer fasziniert vor dem Radio gehockt und beim Rias einer Radiosendung mit dem Titel „Es geschah in Berlin“ gelauscht hatte. Er schlug daher vor, die neue Reihe je nach Spielplatz „Tatort Hamburg“, „Tatort Berlin“ oder „Tatort München“ zu nennen. Das mit dem „Tatort“ kam an, die Ortsmarke verschwand dagegen schon vor der Premiere.

Jeder schmiss rein, was er gerade hatte“, amüsiert sich der Pensionär heute: „Und keiner hat’s gemerkt“

„So ein Konzept verstieß schon damals gegen jede Krimi-Regel“, erinnert sich Witte, der als Erfinder des „Tatorts“ anerkannt bleibt, selbst wenn gelegentlich mal eine Nachrichtenagentur eine angebliche Teilvaterschaft des damaligen WDR-Fernsehdirektors Peter Scholl-Latour zur Nachricht aufbläst damit aber Nach und nach kamen die einzelnen ARD-Anstalten dann aber immer penibler ihrem Auftrag nach und spiegelten einerseits die gesamtdeutsche Befindlichkeit, trugen andererseits aber auch den Eigenheiten der von ihnen zu versorgenden Bundesländer Rechnung. Sie zeigten, dass die Kommissare in Hamburg anders ticken als die in München. Viel Lokalkolorit sollte in die sonntäglichen Krimis einfließen und Verständnis wecken für die im föderalen System vereinzelten Landsmannschaften. Gerne sollten die Kommissare Dialekt reden, was sie anfangs gelegentlich taten, später aber bald ließen, weil man erkannte, dass sich durchaus größere Bevölkerungsanteile vom Fernsehkonsum abhalten lassen, wenn man norddeutsches Platt zur Handlungssprache macht und das Ergebnis für Bayern eigentlich Untertiteln müsste.

Also beschränkte man sich irgendwann darauf, die Kripo-Beamten in ihrer Stadt herumzuschicken, sie ab und an vor Sehenswürdigkeiten oder anderen identifizierbaren Stellen abzufilmen und gelegentlich mal einen Semi-Dialektler als so genanntes Original einzuschmuggeln, das die Rechercheure am besten noch mit einem Hinweis im ortsüblichen Slang auf die heiße Spur bringt Wie verwechselbar dadurch gelegentlich die Spielorte wurden, zeigte sich bei den Fällen, die der zwischen 1992 und 1997 von Martin Lüttge gespielte Kommissar Flemming 15-mal in Düsseldorf zu lösen hatte. Die wurden nämlich von der in München ansässigen ARD-Tochterfirma Bavaria produziert, die aus Sparsamkeitsgründen etliche Szenen in heimischen Studios und sonstigen Münchner Locations drehen ließ. Das Ergebnis verwirrte viele Düsseldorfer nachhaltig, weil im „Tatort“-Hintergrund schon ICE-Züge über Gleise donnerten, als diese das Rheinland noch gar nicht bedienten. Auch wunderten sich etliche Nordrhein-Westfalen über die in ihrem Landstrich relativ unüblichen Schnörkel und Schneefanger an den Häuserdächern.

Zu solch zweifelhaften produktionstechnischen Tricks musste man in der Frühphase des „Tatorts“ noch nicht greifen, denn da drehte man sowieso mehr drinnen als draußen, und im Mittelpunkt standen sowieso eher die Eigenarten der Hauptfiguren. So gebar der „Tatort“ schon zwei Folgen nach dem Start seinen ersten Popstar. Kressin hieß der von Sieghardt Rupp im WDR-Auftrag gespielte Zollfahnder, der mit lässiger Tolle in James-Bond-Manier Dienstvorschriften Dienstvorschriften sein ließ und einen für das Fernsehen von 1971 ungewohnt sportlichen Einsatz zeigte.

Damit nahm er als singuläre Figur eine Körperlichkeit vorweg, die erst zehn Jahre später sein Kollege Horst Schimanski von der Kripo Duisburg zur Vollendung bringen sollte.

Schimanski war Hardcore. Schimanski soff, prügelte und liebte. Schimanski sagte laut und oft „Scheiße“, weshalb sich sein Sidekick Thanner pro Folge nicht nur einmal mit einem ermahnenden „Horst!“ zu fforte melden musste. Darüber erregten sich alle, die sich immer gerne erregen, wenn sie merken, dass ihre Erregung ihren Aufmerksamkeitswert erigiert. Besonders am Drehort Duisburg erkannte man erst spät den Werbeeffekt für die vom ruhrgebietlichen Strukturwandel arg gebeutelte Stadt und mäkelte imvielen, markierte es doch Anfang der 80er Jahre so etwas wie die gemäßigte Form von televisionärem Behördenpunk, ein kleines bisschen Anarchie in einer Zeit, da die Republik sich anschickte, in eine ziemlich lange Ära Kohl zu schliddern. Da wirkte es wie ein kleiner Gegenentwurf zur betrüblichen Realität, dass Anpassung zumindest auf der Mattscheibe in die Schimpfwortabteilung abgeschoben und die kleine Rebellion hinter dem Rücken des Chefs geprobt wurde. Dementsprechend war Schimanskis schmuddeliger Knitterparka bald Mode und hing lange bei Karstadt in einer Art Young-Fashion-Abteilung.

Schimanski war aber auch Götz George, und Götz George wurde eine ziemliche Zeit lang SchimanskL mer mal wieder lauthals, weil sich Regisseure weigerten, den Helden durch die frisch gepflanzten Grünanlagen flanieren zu lassen und ihn stattdessen durch stinkende Abbruchhäuser und verfallende Industrieanlagen hetzten. Doch die Proteste verhallten folgenlos, denn Schimanskis respektloses Auftreten gefiel Er alterte mit seiner Figur zusehends, und je älter er wurde, desto häufiger begab es sich, dass er sich spätestens nach zehn Sendeminuten die Klamotten vom Leibe riss, um auch dem Letzten begreiflich zu machen, dass er für sein fortgeschrittenes Alter doch noch ziemlich respektable Muskelstränge vibrieren lassen kann. Nach zehn Jahren verabschiedete sich Schimanski per Flugdrachen mit einem laut gebrüllten „Scheiße“ aus dem „Tatort“-Dienst in eine Ungewisse Zukunft. Die findet nach Jahren der Pause inzwischen unter dem Dach einer eigenen Marke statt, sozusagen in einem „Tatort“-Spin-off, das nun nicht mehr „Tatort“ heißt, sondern „Schimanski“.

Anfangs schien es, als ginge mit dem Auftauchen von Schimanski die betuliche „Tatort“-Zeit ihrem Ende entgegen. Direkt abgelöst wurde ein ziemlich dröger Typ wie der von Hansjörg Felmy gespielte Essener Kommissar Haferkamp, der eher durch blitzgescheite Mental-Kombinationen als durch Körperkraftverschwendung auffiel. Haferkamp war geschieden, was sich bei seinem Start im Jahre 1974 gesellschaftlich nicht recht schickte und einem Verstoß gegen die guten Fernsehsitten gleichkam. Noch schlimmer fiel auf, dass er sich regelmäßig von seiner Ex-Frau beraten und bei der Lösung kniffliger Fälle unterstützen ließ. So etwas reichte im deutschen Dreifaltigkeitsfernsehen aus ARD, ZDF und örtlichem Dritten bereits aus, um als zu modern zu gelten, was zugegebenermaßen auch nicht schwer fiel in einer Kommissarenschar, die von Typen wie dem pumuckligen Gustl Bayrhammer (Kriminaloberinspektor feigl), dem grummeligen Österreicher Fritz Eckhardt (Oberinspektor Marek) oder etwa dem heute als Lindenstraßen-Hajo dauerversagenden Knut Hinz (Hauptkommissar Brammer) geprägt war.

Mit Schimanski waren die alle zu Komplementärfiguren degradiert und mussten mehr oder minder bald weichen. Mit zunehmendem Alter von Schimanski wuchs eine neue Generation von Kommissaren heran, die immer weniger geprägt war von dem Ort, an dem sie arbeitete, sondern mit ihrem Sosein der Reihe Charakter gab. Da kamen die Münchner Könner Batic und Leitmayr, Stoever und Brockmöller von der Hamburger Singefront und die Kölner Kumpel Ballauf und Schenk von der Wurstbude. Der bräsige Saarländer Palü war neben dem unerträglich schwäbischen Bienzle ebenso dabei wie die ein Fernsehleben lang zur Aktion in Seifenoper-Atmosphäre verdammten Berliner Roiter und Zorowski, der konstant strunzlangweilige Frankfurter Brinkmann, die dezent müpfige Ludwigshafenerin Lena Odenthal und die nachdenklich-gescheiten Sachsen Ehrlicher undKain.

Zählt man einmal zusammen, wer in der „Tatort“-Bilanz die Charts anführt, dann stehen die Hamburger Kommissare Stoever und Brockmöller ganz oben. Nicht nur führen sie mit ihren 41 Einsätzen vor den 34 Fällen der Münchner Kollegen noch länger die quantitative Auswertung (Stand Ende Mai 2003) an, auch in Sachen Qualität und Quoten gehörten die von Manfred Krug und Charles Brauer gespielten Hanseaten eindeutig mit zur Führungsriege. Erfolgreich profilierte sich das inzwischen pensionierte Duo als dauerfrozzelndes Pärchen, das nur deshalb nicht verheiratet war, weil beide unter Männerliebe höchstens die Notgemeinschaft der Einsamen und emotional Gescheiterten verstanden. Sie erfüllten damit quasi die Anforderung einer der wichtigsten „Tatort“-Grundregeln, nach der Kommissare möglichst nicht verheiratet sein sollten und sich höchstens für eine Folge verlieben dürfen. Für eine Frau, die sich in solch einen Kripo-Mann verguckt, hat das im Normalfall fatale Konsequenzen, denn am Schluss ist sie tot oder sitzt im Knast. Die Nichtehe von Manfred Krug und Charles Brauer wurde in der Regel einmal pro Folge vollzogen, wenn sich die beiden meist vergleichsweise motivlos zum vokalen Verkehr genötigt sahen und an den unmöglichsten Stellen urplötzlich in einen Jazz-Klassiker ausbrachen.

Im Gegensatz zu den Hamburger Kollegen stellen sich die Münchner Mitstreiter Batic und Leitmayr selten über die zu erzählende Geschichte. Natürlich sind auch sie meist unglücklich einsam, lassen das aber eher und Kain gelegentlich so etwas wie Pfiff mit, sind bei eher bescheidenem Auftreten immerhin schon mit 32 Einsätzen auf Platz drei der „Tatort“-Hitliste gelandet und haben gerade erst den lange vor ihnen rangierenden Schimanski (29 Fälle) überholt.

Von hinten rollt indes langsam aber ziemlich unaufhaltsam eine neue „Tatort“-Generation heran. Es sind junge Kommissare, frische Gesichter – und es sind für „Tatort“-Verhältnisse erstaunlich viele Frauen dabei. Musste bislang im Wesentlichen Ulrike Folkerts als toughe Lena Odenthal in 28 Einsätzen beim SWR das weibliche Ludwigshafener Fähnchen hochhalten, so ist nun nicht nur mit der von Sabine Postel gespielten Bremerin Inga Lürsen zu rechnen, auch höchstens heraushängen, wenn es der Spannungsfindung dient Nicht nur deshalb, sondern auch weil regelmäßig die besseren Regisseure und Drehbuch-Autoren ihren Job an der Isar finden, gehören die von Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl gespielten Schnüffler immer wieder zu den Nominierten, wenn es gilt, einen Fernsehpreis zu vergeben. Erst im vergangenen Jahr konnten sie den Grimme-Preis einheimsen, eine Trophäe, die wesentlich strenger als andere Auszeichnungen filmischer Qualität folgt.

Um die bemühen sich die Kölner Kommissare Ballauf und Schenk auch gern, enden aber in ihrer bemühten Hemdsärmeligkeit zu oft an der mentalen Wurstbude. Sie decken stets nur die schlimmsten Verbrechen auf, die meist auch deshalb so schlimm sind, weil Kinder mit im Spiel sind. Das gab den von Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär gespielten Figuren in den bisherigen 24 Folgen ziemlich viel Gelegenheit, mit ziemlich verständnislosen Gesichtern durch eine ziemlich schlimme Welt zu laufen.

Vergleichsweise unauffällig haben sich die Ostzonalen nach oben gekämpft. Peter Sodann und Bernd Michael Lade geben ihren Hauptkommissaren Ehrlidie von Maria Furtwängler im NDR-Auftrag gegebene Hannoveraner Hauptkommissarin Charlotte Lindholm sorgte bereits mit ihrem eigentlich eher halbgarem Debüt „Lastrumer Mischung“ für respektable Quoten und Kritiken. In Konstanz hat Hauptkommissarin Klara Blum alias Eva Mattes sich als „Die Neue vom Bodensee“ qualifiziert, und in Frankfurt versorgt Andrea Sawatzki als Charlotte Sänger ihrem Kommissar-Kollegen Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) mit weiblicher Intuition. Ohne Frau kommt dagegen der demnächst die „Tatort“-Bühne betretende Kommissar Borowski aus, der mit dem Gesicht von Axel Milberg in Kiel seine Fälle löst. Feminine Dreingabe vermisst man auch in Münster, wo sich dem Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) der von Jan-Josef Liefers gespielte Pathologe Prof. Karl-Friedrich Boerne an die Seite geheftet hat.

Damit erfahrt im „Tatort“ eine Berufsgattung Aufwertung, die bislang immer nur als Sidekick kluge Sprüche zuliefern durfte. Im Rahmen der zunehmend auf allen Sendern grassierenden Lust an der Leiche rückt der Aufschneider vom Dienst immer häufiger nicht nur dem Verschiedenen, sondern auch dem Drehbuch auf die Pelle. Pathologen zeichnen sich dabei gern aus als blitzgescheite Kombinierer mit einer gehörigen Portion Zynismus. Anfangs waren in deutschen Krimis alle Pathologen recht morbid erscheinende Österreicher. Inzwischen beherrschen aber auch hiesige Schauspieler die Kunst, investigativ an Leichen herum zu schnibbeln.

Immer weniger herumgeschnibbelt wird nach Ansicht einiger Kritiker an den Drehbüchern. Stattdessen hört der preisgekrönte Fernsehautor Fred Breinersdorfer zunehmend Wfeichspüler gurgeln. In der „Süddeutschen Zeitung“ beklagte er sich jüngst über „neue Normen“, denen zufolge spätestens nach fünf Minuten eine Leiche auftauchen und es bis zum Schluss mehrere Verdächtige geben müsse. Zudem seien die Kommissare angehalten, ständig Witze zu machen, und der Täter dürfe kein schlimmer Bösewicht sein, sondern habe nachvollziehbar zu handeln. Beim Verfassen eines Buches für einen Leipziger „Tatort“ habe man ihm bereits zu verstehen gegeben, die von ihm gezeichneten Skins seien zu militant dargestellt „Es gibt heute ein Diktat der Standardisierung“, empört sich Breinersdorfer: „Das erinnert mich fast an die Glaubenssätze der katholischen Kirche.“

Offenbar soll die Vereinheitlichung helfen, eine Wiederholung früherer Fehler verhindern zu helfen. So hatten sich manche „Tatort“-Redakteure in den Anfangstagen einen Spaß daraus gemacht, den Kommissar erst nach 45 Minuten auftreten zu lassen. Den Tiefpunkt der Reihe schafften sie damit trotzdem nicht. Den erreichten die SFB-Krimis mit den von Winfried Glatzeder und Robinson Reichel gespielten Berlin-Schnüfflern Roiter und Zorowski. Deren Abenteuer wurden aus fehlgeleiteter Sparwut nicht auf Film, sondern auf Video gebannt, was das Format augenblicklich zur Seifenoper entwertete. Doch auch bei Büchern und Regie halten die Berliner einen Rekord, geriet doch eine Folge aus der SFB-Werkstatt so schlecht, dass die ARD-Koordinatoren erstmals eine Erstausstrahlung auf dem geheiligten Sonntagstermin um 20.15 Uhr verweigerten – und das Machwerk ins Spätprogramm verbannten.

In die Bilanz der Fehltritte gehören natürlich auch jene vier Folgen, die noch heute im so genannten Giftschrank ruhen und vergeblich einer Wiederholung harren. Erst kürzlich wurde die brutale Haferkamp-Folge „Drei Schlingen“ wieder einmal hervorgeholt und überprüft. Sie sei aber immer noch nicht für eine Ausstrahlung geeignet, berichtet Witte.

Den Gegenpol zu den Flops bildete im Jahre 1977 der wohl bekannteste „Tatort“. Unter der Regie des inzwischen zum Hollywood-Liebling avancierten Wolfgang Petersen spielte Nastassja Kinski in „Reifezeugnis“ eine frühreife Oberschülerin, die nicht nur ein Verhältnis mit ihrem Lehrer hat, sondern auch in den Mord an einem Mitschüler verwickelt ist. Unter dem Titel JFor Your Love Only“ lief diese enorm erfolgreiche Folge sogar in den USA und ist mit neun Aufführungen die am häufigsten wiederholte „Tatort“-Folge.

„Es gab immer gute und schlechte „Tatorte“ beruhigt Günther Witte all jene, die wie Breinersdorfer eine Entwertung des Traditionsprodukts befürchten. Und in der Tat variiert die Qualität einzelner Folgen nicht nur von Sender zu Sender, sondern auch innerhalb der Kommissaren-Teams. Beobachtet man den „Tatort“ eine Weile, möchte man bald der Faustregel folgen, dass jene großen Sender, die viele Ausgaben produzieren und somit schon reichlich Erfahrungen sammeln konnten, die größte Chance für telegene Güte bieten. Aber selbst da lassen sich Ausnahmen anführen. Wie viele Morde Horst Lettenmeyers Augen letztlich einschließlich aller Wiederholungen bereits sehen mussten, ist in keiner Statistik erfasst Vielleicht kümmert sich mal jemand darum, bevor Hauptkomrnissar Max Palü am 28. Dezember den 555. Fall löst Einer, der es schon jetzt relativ genau wissen müsste, ist der Jazzmusiker Klaus Doldinger. Er hat die „Tatort“-Musik geschrieben und kassiert unbestätigten Berichten zufolge immer noch für jede „Tatort“-Folge rund 25 Euro. Also müsste er vom Eingang seiner Tantiemen relativ leicht auf die Zahl der Leichen schließen können Seine Komposition gehört inzwischen fest in den Dreiklang deutscher Sonntagsmelodien. Erst die in der „Lindenstraße“ gen Dramatik schwurbelnden Geigen, dann die Fanfare der „Tagesschau“ und danach die Töne, die zum „Tatort“ fuhren. So fühlt sich der im Durchschnitt drei Stunden pro Tag fernsehende Deutsche richtig wohl und wird das wohl auch in den kommenden Jahren feiern – mit einem mutigen „Ich schau dir in die Augen, Lettenmeyer“.

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