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Der King der Traurigkeit: Joy-Division-Sänger Ian Curtis

Gerade mal zwei Alben reichten aus, um aus Joy Division DIE britische Postpunk-Band schlechthin zu machen. Ihr Sänger wäre heute 66 Jahre alt geworden.

Er war der James Dean der „blank generation“, der Trostlosen aus den frühen Achtzigern, die keine Lust hatten auf den derben Bierbüchsen-Krawall der Punks: Ian Kevin Curtis aus der Region Greater Manchester; jener damals noch komplett maroden mittelenglischen Industriezone zwischen Mersey und Midlands, die sich seit dem Niedergang so ziemlich aller dortigen Industrien (von der Kohle bis zur Tuchweberei) im Zustand der Daueragonie befand.

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Zu seinen Lebzeiten blieb Curtis ein Indie-Maestro innerhalb einer kleinen Gegenkultur. Sein Suizid am 18. Mai 1980 erhöhte den depressiven Sänger schließlich zu einer legendären Gestalt der Popkultur. Die Platten „Unknown Pleasures“ (1979) und das tiefmelancholische Album „Closer“ (1980), die Curtis mit seiner Band Joy Divison aufnahm, waren zunächst eher in Insiderkreisen bekannt.

Zu den raren Deutschland-Shows, etwa im Kölner Basement oder im Berliner Kant Kino kamen im Januar 1980 jeweils nur 300 bis 350 Leute. Ein Gottesdienst der Wissenden, bestehend aus Punks, Wavern mit schmalen Schlipsen, Bowie-Fans und England-Gutfindern. Heute gelten beide Alben als visionär und epochal. Düster-aggressive, unterkühlt vorgetragene Lyrics, der von Martin Hannett eingerichtete Sound, der klaustrophobisch und kalt klang, mit Peter Hooks berühmten Brummelbass und Stephen Morris’ von Produzent Hannett auf das Dach des Aufnahmestudios verbanntes, einsames Schlagzeug.

Der Polizistensohn und Schulabbrecher Curtis hatte zunächst in einem Plattenladen gejobbt, später erst im Verteidigungsministerium, dann im Arbeitsamt gearbeitet. 1974 heiratete er seine Freundin Debbie Woodruff, die beiden haben eine Tochter, Natalie. Curtis war depressiv, er nahm Valium und Drogen. Er schrieb Texte, liebte Musik. Und lernte 1976 schließlich Peter Hook und Bernard Sumner kennen, mit denen er die Band Warzaw gründete – nach David Bowies gleichnamigem, düsteren Instrumental auf dessen Album „Low“. Ihre erste EP, „An Ideal For Living“, in kontroversem, der faschistischen Ästhetik entlehntem Cover-Design, erschien 1978 unter dem Namen Joy Division.

Ratloser des No-Future-Zeitgeistes

Spätestens seit dem 2007er-Biopic „Control“ des Holländers Anton Corbijn, der Ende der Siebziger mit seinen Schwarz-Weiß-Fotos für das wöchentliche Musikblatt NME die mythische Optik von Joy-Division entscheidend mitgeprägt hatte, ist Curtis endgültig zur historischen Figur geworden. Ein Ratloser des No-Future-Zeitgeistes, der stilistisch den verschärften Garagenrock der „Anarchy-In-The-UK“-Gemeinde ablöste. Ähnlich wie bei James Dean in den Fünfzigern konnte der wachsende Erfolg Curtis’ Zerrissenheit und Melancholie nie wirklich lindern. Seine lange verdrängte Epilepsie (die auch auf im Joy-Divison-Livebetrieb immer wieder ausbrach) verstärkte seine Verzweiflung an der Welt. Es gehört zu den Schicksalsnoten der Popmusik, dass Ian Curtis Selbstmord beging, als mit einer bereits gebuchten USA-Tournee der größte Musikmarkt der Welt für die Band aus Manchester offen stand.

Joy Division, Factory, 1979

Mehr noch als durch seinen tiefen Bariton-Gesang und den energetischen Bühnenvortrag lebt die Legende Ian Curtis durch die Ideal-Verkörperung des tiefsinnig-schwierigen jungen Mannes weiter. Als Dichter, Songwriter, Philosoph eines ganz und gar nicht heiteren Alltags. Auch über dreißig Jahre nach seinem Tod ist er damit zum ewigen Charakter im weiten Arsenal der Popkultur geworden.

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob ein später Ian Curtis den Weg des Robert Smith gegangen wäre, der als junger, noch schmaler und kurzhaariger Gitarrist von The Cure Anfang der Achtziger eine nicht unähnliche Aura ausstrahlte. Ebenso wenig werden wir je erfahren, ob ihm der Wechsel seiner Bandgenossen zum elektronischen Nachfolgeprojekt New Order gefallen hätte.

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Ian Curtis erhängte sich in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1980 in seiner Wohnung in Macclesfield bei Manchester. Am nächsten Tag sollte er in die USA zum Start der Joy-Division-Tournee fliegen. Ein paar Wochen zuvor hatte seine Frau Deborah die Scheidung eingereicht, Curtis eine Affäre mit der belgischen Journalistin Annik Honoré beendet. Seine epileptischen Anfälle hatten zugenommen, sein Tabletten- und Drogenkonsum auch. Ian Curtis liegt in Macclesfield begraben. Sein Grabstein trägt die von seiner Frau gewählte Inschrift „Love Will Tear Us Apart“ („Liebe wird uns auseinanderreißen“) – der Titel der letzten Joy-Division-Single.


Wiedergehört: „Unknown Pleasures“ von Joy Division

Joy Divisions „Unknown Pleasures“ zeigt Radiopulse von PSR B1919+21, dem ersten entdeckten Pulsar

„Unknown Pleasures“ handelt nicht von der Gegenwart oder der Zukunft, sondern von „ewigen“ Themen. Ian Curtis singt von Selbsthass, Verzweiflung und Scham, von dem quälenden Blick in eine Welt ohne Möglichkeiten. Er ist damals 22, doch sein Bariton klingt wie die Stimme eines weisen, weltmüden Greises, der alles gesehen hat und weiß, dass jede Hoffnung, die einen ergreift, irgendwann doch wieder erlischt.

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Die Stimme von Curtis und die Musik seiner Band – den singenden Bass von Peter Hook, die splittrige Gitarre von Bernard Sumner, das sonderbar spastisch stolpernde Schlagzeug von Stephen Morris – stellt der geniale Produzent des Albums, Martin Hannett, in gewaltige, kalt hallende Räume hinein, Kathedralen des Klangs, in denen die Musik, die Songs und die sich darin widerspiegelnden Schicksale noch kleiner und nichtiger wirken und dadurch noch größer und erhabener.

Martin O'Neill Redferns
Warner

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