Zum 90. Geburtstag von Günter Grass: Der Repräsentant der Deutschen

Er war der prägende Schriftsteller der Nachkriegszeit, er mahnte und warnte. Günter Grass war auch ein Deutscher, der seine juvenile ideologische Disposition überwand und sich zum politisch wachen Intellektuellen transformierte. Am Montag wäre er 90 Jahre alt geworden.

Kaum ein Autor prägte die deutsche Nachkriegsgeschichte so wie Günter Grass. Nicht nur literarisch, vor allem durch sein Debüt, „Die Blechtrommel“ von 1959, das eine Millionenauflage erreichte, in zwei Dutzend Sprachen übersetzt und später von Volker Schlöndorff verfilmt und mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Sondern auch als Mahner und Warner, als moralische Instanz und politisches Gewissen, das schließlich doch nicht so rein war, wie man Jahrzehnte lang gedacht hatte.

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Wer Günter Grass mal erlebt hat, in den spärlichen Filmaufnahmen, die es von der Gruppe 47 gibt, wie er da einen literarischen Kontrahenten runterputzt, ihn förmlich auseinandernimmt, mit kurzen, staccatohaften, ebenso wütenden wie gnadenlosen Sätzen, der konnte sich über sein spätes, allzu spätes Bekenntnis, sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und mit 17 der Waffen-SS angehört zu haben, nicht mehr wundern. Dieses Aggressiv-Zackige, Soldatische, Machtbewusste gehörte auch zu seinem Wesen – und es hat seinen Aufstieg zum internationalen Großliteraten, zu dem er dann bald nach dem Erscheinen der „Blechtrommel“ avancierte, wohl eher befördert als verhindert.

Der Nobelpreis kam fast schon etwas spät

Auch wenn unter seinen Folgewerken allenfalls noch die Novelle „Katz und Maus“ mit der schönsten Masturbationsszene nach Wedekinds „Frühlings Erwachen“, der Roman „Hundejahre“ und das barocke Vexierspiel „Treffen in Telgte“, in dem er subkutan die Gruppe 47 persiflierte, an die „Blechtrommel“  heranreichte – er blieb so viele Jahrzehnte lang ein Star, dass der Nobelpreisgewinn 1999 schon fast zu spät kam. Es war geradezu ein running gag der Feuilletonisten in den Neunzigern, die Bekanntgabe des glücklichen Gewinners mit der kleinen Sottise einzuleiten, Grass sei es wieder nicht geworden. Mittlerweile nehmen wahlweise Philip Roth oder Bob Dylan seine Rolle ein.

Man hat ihm später vorgeworfen, mit seiner Beichte eben deshalb so lange gewartet zu haben, um sich nicht selbst aller Chancen auf die Auszeichnung zu berauben. Ähnlich unappetitlich konnte man die Umstände finden, unter denen er sich damals 2006 zu Wort meldete. Geschickt instrumentalisierte er nämlich den erwartbaren Skandal, um seine Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel“ in den Bestsellerlisten zu platzieren.

Grass war wohl gerade auch in seiner Mittäterschaft – und letztlich auch in dem öffentlichen Umgang mit ihr – ein Repräsentant der Deutschen. Immerhin, wie er seine juvenile ideologische Disposition überwand und sich zum politisch wachen Intellektuellen transformierte, der in seinem Werk gegen das Vergessen der Nazi-Barbarei anschrieb und somit die Ehrenbezeichnung „Gewissen der Nation“ nicht zu Unrecht trug, das kann man auch als eine positive Emanzipations- und mithin als eine weitere Erfolgsgeschichte des US-Reeducation-Programms beschreiben.

Oskar Matzerath – der Rock’n’Roller

Sprachlich am fulminantesten gelang ihm die Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit in seinem frühen opus magnum. Sein Blechtrommler Oskar Matzerath beschließt mit drei Jahren, nicht mehr weiter zu wachsen aus Protest gegen die Welt des „Dritten Reichs“. Er ist der Rebell, der Grass nicht sein konnte, ein echter Rock’n’Roller, der das Akustische zu seiner Waffe macht. In einer der bekanntesten Szenen des Romans sprengt Oskar sogar eine NSDAP-Kundgebung, weil es ihm gelingt, sich unter die Musiker zu mischen und sie auf seinen Takt einzuschwören und so den ganzen martialischen Nazi-Popanz der Lächerlichkeit preiszugeben.

In seiner das literarische Werk stets begleitenden publizistischen Tätigkeit übte sich Günter Grass häufig ebenfalls als Trommler für die gute Sache. Etwa wenn er unermüdlich als Wahlkämpfer für Willy Brandt in die Bütt sprang, 1969 dann auch mal mit Erfolg.

Grass war einer der letzten Schriftsteller, die ihren Beruf mit präzeptorenhaftem Pathos ausübten. Keine Debatte, zu der er es von ihm keine Stellungnahme gab, keine Umfrage, die nicht auch sein Votum enthielt. Und obwohl ihm jederzeit die Spalten aller Magazine und Tageszeitungen offen standen, hörte man auffällig oft sein Lamento, ein unbequemer Geist wie er solle mundtot gemacht werden. Dass man ihm, den moderaten Linken, in den letzten Jahrzehnten immer häufiger widersprach, vor allem infolge der deutschen Einheit und des sich wandelnden, neoliberalen Zeitgeists, daran konnte auch kein Zweifel bestehen. Sein letzter großer Coup war die Publikation seines polemischen Gedichts „Was gesagt werden muss“ 2012 in diversen internationalen Zeitungen, in dem er Israel scharf angriff und verdächtigte, einen atomaren Erstschlag gegen den Iran zu planen. Das schlug noch einmal Wellen.

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