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Die 100 besten Dylan-Songs – Teil 1. Platz 100-67
Wir fragten die größten Dylan-Experten nach ihren Favoriten - von 'Just Like A Woman' bis 'John Wesley Harding'. Mit Würdigungen von Bono, Mick Jagger, Jim James, Lucinda Williams und anderen.
100. Señor (Tales Of Yankee Power) - STREET LEGAL (1978). Dylan verriet, dass dieses gespenstische Country-Rock-Epos von einem Mann inspiriert wurde, den er auf einer Zugfahrt von Mexiko nach San Diego beobachtete:
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Michael Ochs Archives/Getty Images.
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100. Señor (Tales Of Yankee Power) – STREET LEGAL (1978). Dylan verriet, dass dieses gespenstische Country-Rock-Epos von einem Mann inspiriert wurde, den er auf einer Zugfahrt von Mexiko nach San Diego beobachtete:
Copyright: Michael Ochs Archives/Getty Images
„Er muss 150 Jahre alt gewesen sein. Seine Augen schienen zu brennen, aus seinen Nasenflügeln strömte Rauch.“ Ganz schön heftig, aber hey: Zumindest hatte der Mann das Glück, Dylan kennenzulernen.
99. John Wesley Harding – JOHN WESLEY HARDING (1967). „Ich wollte eine Ballade schreiben“, erzählte Dylan Jann Wenner, „vielleicht einen dieser alten Cowboy-Songs, wissen Sie, eine richtig lange Ballade.“ Stattdessen aber wurde der Titeltrack von „John Wesley Harding“ eine Parabel über die Moralität des gesellschaftlichen Außenseiters …
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John Wesley Harding war ein Bösewicht im ausgehenden 19. Jahrhundert, doch Dylans Charakterisierung als „friend to the poor“ und „was never known to hurt an honest man“ war weniger realistisches Porträt, sondern eher die Glorifizierung einer urwüchsigen Epoche, die seiner neuen, bodenständigen Musik entgegenkam. Nur mit Drummer Kenny Buttrey und Bassist Charlie McCoy in Nashville aufgenommen, ist es ein Loblied auf Askese und Idealismus.
98. Corrina, Corrina – THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN (1963). „Corrina, Corrina“ ist ein frühes Beispiel, wie Dylan Folk in einen Pop-Kontext verpflanzte – oder auch umgekehrt. Der Song war unter verschiedenen Titeln schon seit Jahrzehnten ein Blues- und Country-Standard und wurde u.a. von Blind Lemon Jefferson, Chet Atkins, Big Joe Turner und Teen-Idol Ray Peterson aufgenommen – gewöhnlich als flotte Tanznummer …
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Dylan interpretiert sie als düstere Ballade und baut eine Verneigung vor Robert Johnsons „Stones In My Passway“ ein, was das Gefühl
von Verlust und Liebeskummer nur noch verstärkt. Aber so sensibel Dylans Interpretation auch sein mag – „Corrina“ bewies ebenfalls seine Affinität zum Rock’n’Roll: Es ist eine der ersten Dylan-Aufnahmen, auf denen ein Schlagzeug zu hören ist.
97. Where Are You Tonight? (Journey Through Dark Heat) – STREET LEGAL (1978). Der letzte Track eines Dylan-Albums ist oft genug auch eine Vorschau auf das kommende – man höre nur „I’ll Be Your Baby Tonight (von „John Wesley Harding“), das auf den Country-Sound von „Nashville Skyline“ überleitet.
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Das elegische „Where Are You Tonight?“, das „Street Legal“ abschließt, deutet bereits die Hinwendung zum Christentum an, die auf „Slow Train Coming“ zum Tragen kommt. „I couldn’t tell her what my private thoughts were“, singt Dylan, offensichtlich in der Angst, dass sie ihm zu seinem „new day at dawn“ eh nicht folgen könne. Es war ein Ort, der auch vielen seiner Fans verschlossen blieb.
96. Farewell, Angelina – THE BOOTLEG SERIES VOL. 1 – 3 (1991). Der Outtake von „Bringing It All Back Home“ wartet mit einigen seiner poetischsten Kreationen auf – mit tanzenden Kobolden, King Kong, schielenden Piraten, 52 Zigeunern und Widersachern, die „nail time bombs/ To the hands of the clocks“. Gleichzeitig aber ist es auch ein liebevoll gesungener Farewell-Song an ein Mädchen – und vielleicht auch an seine Vergangenheit als folkiger Songwriter …
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Zwar basierte der Song wohl auf dem schottischen Traditional „Farewell To Tarwathie“, doch neben seinen textlichen Kapriolen fügte Dylan auch noch eine Melodie hinzu, die ebenso unheilvoll wie tröstlich klingt. Es war aber die Coverversion von Joan Baez, die „Farewell, Angelina“ unsterblich machen sollte.
95. On A Night Like This – PLANET WAVES (1974). Seine Studio-Reunion mit The Band beginnt gleich mit einem gut gelaunten Opener: Unterstützt von mexikanischen Akkordeon-Klängen und einem forschen Rhythmus, klingt Dylan so überdreht, dass er nicht mal die Worte richtig rausbekommt – etwa wenn er seiner Geliebten sagt, „to heat up some coffee grounds“ …
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„On A Night Like This“ gemahnt an eine verschneite Hütte oder eben die „Basement Tapes“-Tage in upstate New York, als Dylan und The Band in der Lage waren, auch die letzten Winkel amerikanischer Musik auszukundschaften. „We got much to talk about/ And much to reminisce“, singt er. Es war vielleicht nur eine kurze Wiedervereinigung, aber bewegend war sie in jedem Fall.
94. Highlands – TIME OUT OF MIND (1997). Viele Dylan-Alben enden mit einer epischen Tour de Force, die oft eine gesamte LP-Seite einnimmt – wobei „Highlands“ in punkto Überlange den Vogel abschießt. Im Verlauf von 16 Minuten spricht Dylan mit einer Kellnerin, bestellt weich gekochte Eier, lässt die Namen von Erica Jong und Neil Young fallen und beklagt sich, dass das Leben an ihm vorbeirausche …
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„All the young men with their young women looking so good“, singt er. „Well, I’d trade places with any of them in a minute, if I could.“ Zur Zeit der Veröffentlichung von „Time Out Of Mind“ war er gerade erst 56, doch das Thema Todesangst liegt über dem ganzen Album. Dylan behauptete, dass „Highlands“ auf einem Riff von Charlie Patton basiere, aber bis heute hat noch niemand ein Riff gefunden, das diesem auch nur entfernt ähneln würde.
93. Pay In Blood – TEMPEST (2012). Bevor er Anfang 2012 mit seiner Tour-Band Jackson Brownes Studio in L.A. aufsuchte, hatte er verlauten lassen, nach langer Pause wieder ein religiöses Album in Angriff nehmen zu wollen. Stattdessen begann er das sechste Jahrzehnt seiner Karriere mit „Tempest“, einem brutal intensiven Album, das die spezifisch amerikanische Variante von Gewalt und Tragik in den Fokus rückt …
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In dem blutrünstigen „Pay In Blood“ singt Dylan über einem „Exile“-Ära-Stones-Riff: „I’ll drink my fill and sleep alone/ I pay in blood but not my own.“ Er könnte ein Sklaventreiber sei, ein Revolverheld oder ein skrupelloser Politiker. „Man nennt es Tradition“, sagte Dylan dem ROLLING STONE. „Und genau damit beschäftige ich mich.“
92. Going, Going, Gone – PLANET WAVES (1974). Auch wenn sich um seine Zusammenarbeit mit The Band die Legenden ranken, nahmen sie gemeinsam nur ein einziges reguläres Album auf. An vier hektischen Tagen in Los Angeles eingespielt, bietet „Planet Waves“ druckvolle Tracks wie „You, Angel, You“, aber auch introvertiertes Material wie das angemessen betitelte „Dirge“ …
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Das Highlight jedoch ist „Going, Going Gone“ – inhaltlich eine vage Andeutung von Selbstmord, musikalisch aber voller Lebensfreude: Robbie Robertsons Gitarre klang nie kompakter, während Garth Hudsons Orgel sakrale Erhabenheit verströmt. Auf mehreren Tracks spürt man, wie Dylan seinem Gesang eine neue, rohe Intensität zu geben versucht. Auf einer unveröffentlichten Version versuchte er sich sogar erstmals an einem Overdub.
91. You’re A Big Girl Now – BLOOD ON THE TRACKS (1975). Gibt es einen Moment in Dylans Werk, in dem er liebeskranker klingt als hier? „I can change, I swear“, lamentiert er, um dann wie ein verletzter Hund zu heulen. Wenn ja, dann finden wir ihn später im gleichen Song, wo er die „pain that stops and starts, like a corkscrew to my heart“ beschreibt …
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Schon auf seinem ersten Anlauf, später auf „Biograph“ veröffentlicht, klingt er wie ein waidwundes Tier, doch hier ist der Schmerz noch stechender. „Ich las, dass es sich dabei um meine Frau handeln solle“, schrieb Dylan in den Liner-Notes zu „Biograph“. „Ich schreibe aber nun mal keine Bekenner-Songs. Das sieht nur so aus – so wie Laurence Olivier scheinbar Hamlet sein muss.“
90. The Groom’s Still Waiting At The Altar – SHOT OF LOVE (1985 Rerelease). Von TODD SNIDER: Dylan kennt Millionen Wege, die drei Blues-Akkorde zu variieren – und der klassische Chuck Berry-Style-Rock’n’Roll ist mir noch immer der liebste. Ich glaube nicht, dass ich den Inhalt dieses Songs wirklich verstehe – was aber kein Beinbruch ist. Es ist einfach ein wundervolles Gedicht. Ich habe keine Ahnung, worauf der Bräutigam am Altar wartet, aber ich fühle mit ihm. Dylan war der Erfinder dieser Songs, in denen jede Zeile eine Weisheit vermittelt, ohne deshalb gleich penetrant zu wirken. Etwas wie: „I know God has mercy on those who are slandered and humiliated“ – oder: „I see people who are supposed to know better than to stand around like furniture.“ …
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Einfach perfekt! Ich wünschte, mir fiele so was ein. Aber die Leute, die ihn zu kopieren versuchten, machten sich allesamt lächerlich. Eine ganze Generation versuchte sich daran, schoss sich mit überkandidelten Wortschöpfungen aber nur selbst ins Bein. Ich versuche noch immer, mir eine Scheibe von ihm abzuschneiden, aber man fühlt sich wie ein Dieb, der in ein Haus einbricht und feststellt, dass alle Gegenstände 50 Zentner wiegen. Man fragt sich: „Scheiße, wie soll ich die Sachen bloß hier rauskriegen?“ Es geht einfach nicht. In den Achtzigern spielte ich ein paar Mal in seinem Vorprogramm. Ich saß auf der Bühne und schaute ihm beim Singen zu. Es war eine unglaubliche Erfahrung. Er sprach damals reichlich dem Alkohol zu, aber es schien ihm nichts auszumachen. Damals meinten viele auch, dass er nichts Gescheites mehr abliefern würde: „Die Produktion klingt fast wie Phil Collins“, solche Sachen. In meinen Augen hingegen waren es Volltreffer.
89. Changing Of The Guards – STREET LEGAL (1978). Es gibt reichlich Bizarres in Dylans Repertoire, aber kaum etwas, das so kryptisch ist wie der Opener des ‘78er Albums „Street Legal“. „They shaved her head“, singt Dylan über ein dichtes Soundbett aus R&B-Vocals und neonnächtlichem Saxofon. „She was torn between Jupiter and Apollo.“ Es wimmelt nur so vor Anspielungen auf Tarot-Karten – was einige Dylanologen als Hinweis verstanden, dass der Meister hier seine Lebensphase aufarbeite, in der er nach New York zog und seinen Namen in Dylan änderte …
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Wie dem auch sei: Die Nummer ist einer seiner vergessenen 70’s-Meisterwerke, gerade viel sie offen ist für alle nur denkbaren Interpretationen. Eine beeindruckende Deutung lieferte Patti Smith, als sie sich 2007 an einer beißenden, politisch aufgeladenen Version von „Changing Of The Guards“ versuchte.
88. Tombstone Blues – HIGHWAY 61 REVISITED (1965). Dylan behauptete, seine Attacke gegen die Gewalttätigkeit der amerikanischen Gesellschaft sei ausgelöst worden durch ein Gespräch zwischen Polizisten, das er in einer Bar überhörte. „Sie sagten Sachen wie: ,Ich weiß nicht, wer ihn umgebracht hat, aber um den Kerl war’s nicht schade.‘ Nur solche Sachen.“ …
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Die Atmosphäre unkontrollierter Brutalität und angeborener Bösartigkeit durchzieht diesen Song, in dem Johannes der Täufer den Folterknecht spielt, während Jack the Ripper zum Chef der Handelkammer aufgestiegen ist. Gitarrist Michael Bloomfield untermalt Dylans sintflutartigen Wortschwall mit einem spröden Chicago Blues, der nicht minder bösartig klingt wie Dylans verbaler Furor.
87. Most Of The Time – OH MERCY (1989). „Most Of The Time“ war nicht der einzige Song auf „Oh Mercy“, dessen Geburt problematisch verlief. Dylan sah in ihm einen simplen, reduzierten Folk-Song, während ihn Lanois seiner vollfetten Swamp-Sound-Behandlung unterziehen wollte. Dylan zog den Kürzeren und veröffentlichte seine Ur-Version erst 2008 auf „The Bootleg Series 8: Tell Tale Signs“ …
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Der Song thematisiert Verlust und Verarbeitung einer alten Liebschaft („Don’t even remember what her lips felt on mine/ Most of the time“), wobei beide Versionen durchaus ihren Charme haben: Während Dylans gedrosselte Fassung unmittelbar ins Mark geht, arbeitet Lanois‘ langsam anschwellende Klangkulisse den Schmerz so plastisch heraus, als säße man bei dem emotionalen Drama in der ersten Reihe.
86. Meet Me In The Morning – BLOOD ON THE TRACKS (1975). Dieser melancholische Akustik-Blues von „Blood On The Tracks“ ist erstaunlich ungekünstelt – wie Hausmannskost, die von einem Meisterkoch zubereitet wurde. Die Legende will es, dass Dylan den Pedal Steel-Gitarristen Budy Cage schnell noch ins Studio zerrte, während ein beschwipster Mick Jagger im Kontrollraum darauf wartete, selbst hereingebeten zu werden …
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Seine Live-Premiere erlebte der Songs erst 2007 in Nashville, als Jack White auf die Bühne kam und beim Gesang aushalf. Einen praktisch identischen Song namens „Call Letter Blues“ hatte Dylan fast gleichzeitig aufgenommen (s. „The Bootleg Series Vol. 1 – 3“) und damit bewiesen, dass die zugrunde liegende Idee auch für zwei Songs gut genug war.
85. She’s Your Lover Now – THE BOOTLEG SERIES VOL. 1 – 3 (1991). Der Dylan der Mitt-Sechziger hatte einen gesunden Sarkasmus, doch auf dem schnellen Rocker – eigentlich für „Blonde On Blonde“ vorgesehen – glänzt er mit besonderer Boshaftigkeit. „You, you just sit around and ask for ashtrays/ Can’t you reach?“, blafft er den neuen Freund seiner Ex an. „I see you kiss her on the cheek ev’ry time she gives a speech.“ …
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Im Januar 1966 versuchten sich Dylan und The Band 19 Mal an dem Track, doch die meisten Aufnahmen wurden gelöscht, als sich Dylan entschloss, die Aufnahmen nach Nashville zu verlegen. Mit den dortigen Sessions-Profis unternahm er keinen weiteren Versuch, doch das verbleibende New Yorker Demo liefert genau die Kombination aus Lässigkeit und Biss, die der Song braucht.
84. The Man In Me – NEW MORNING (1970). Manchmal hilft ein ungewöhnlicher Film, die Qualitäten eines Songs ins rechte Licht zu rücken. Vor „The Big Lebowski“, dem Kult-Klassiker der Coen-Brüder von 1998, war „The Man In Me“ ein halbvergessener Track von „New Morning“. Aber der Einsatz in der langen Traum-Sequenz des Films brachte den schäbigen Charme des Songs optimal zur Geltung …
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Noch heute grölen kostümierte „Lebowskis“ auf den Fan-Conventions den Text begeistert mit – und Jeff „The Dude“ Bridges, inzwischen auch Country-Sänger, hat ihn natürlich in seinem Repertoire. Dylan klang selten so enthusiasmiert wie im Intro mit seinem „La-la-la“ – und die gospelnden Back-up-Vocals passen perfekt zu einem Song, der von der befreienden Erlösung in schweren Zeiten erzählt.
83. Nettie Moore – MODERN TIMES (2006). „Ich ließ den Lyrics einfach freien Lauf … und irgendwie schienen sie Vergangenes in die Gegenwart zu spülen“, sagte Dylan dem ROLLING STONE 2006, als er über die eigentümliche Bodenständigkeit von „Modern Times“ sprach …
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In „Nettie Moore“ greift er auf das Folk-Traditional „Moonshiner“ zurück wie auch auf Zeilen aus „Gentle Nettie Moore“, einem Lied von Marshall Pike und James Lord Piermont aus dem Jahr 1857 – und schaffte es trotzdem, daraus einen seiner persönlichsten Songs zu formen: Dylan ist der desillusionierte Kopf eine „cowboy band“, der die Heimkehr seiner Liebsten ungeduldig erwartet, um endlich einen Schlussstrich unter Sünden, persönliche Altlasten und die „bad-luck women“ zu ziehen. „I’d walk through a blazing fire“, schmachtet er, „if I knew you were on the other side.“
82. One Of Us Must Know (Sooner Or Later) – BLONDE ON BLONDE (1966). Für einen seiner grimmigsten „Verpiss dich“-Songs brauchte Dylan neun Stunden, 24 Anläufe und mehrere personelle Konstellationen (aus Sessionmusikern und The Band-Mitgliedern), bis er ihn endlich festgenagelt hatte …
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Die Single schaffte es nie in die Charts, doch Dylans Zwitter aus Rotz und Reue, Sympathie, Verachtung und greifbarem Schmerz ist noch immer ein brillanter Balanceakt. „I told you as you clawed out my eyes/ That I never really meant to do you any harm“, singt er – und dehnt dabei die letzte Silbe über das majestätische Piano- und Orgel-Crescendo, das einer der ergreifendsten Momente von „Blonde On Blonde“ ist.
81. Series Of Dreams – THE BOOTLEG SERIES VOL. 1 – 3 (1991). Nach dem absoluten Tiefpunkt seiner Karriere setzte er sich mit Daniel Lanois zusammen, um 1989 mit „Oh Mercy“ sein kreatives Comeback zu feiern. Dass er dabei eins der Highlights wieder vom Album nahm, konnte bei Dylan nicht wirklich überraschen. In den „Chronicles“, seinen Memoiren von 2005, schrieb er:
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„Lanois mochte die bridge mehr als den Rest und meinte, der ganze Song müsse so sein … Es war einfach nicht machbar … Es war nicht dienlich, den Song in diesem Licht zu sehen.“ Zwei Jahre später wurde die Aufnahme doch veröffentlicht und war, wie im Titel angedeutet, ein Strom visueller Fragmente („In one, the surface was frozen/ In another I witnessed a crime“), die Dylan aber mit der Klarheit eines Mannes abliefert, der gerade aus einem Traum erwacht.
80. Someone’s Got A Hold Of My Heart – THE BOOTLEG SERIES VOL. 1 – 3 (1991). Dylan nahm diese zarte Nummer für „Infidels“ auf, entsorgte sie aber, um Platz für deutlich schwächeres Material („Union Sundown“ und „Neighborhood Bully“) zu schaffen …
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Zwei Jahre später nahm er sie mit Produzent Arthur Baker für „Empire Burlesque“ erneut auf, diesmal mit kitschigen Synths, peinlichen Backup-Vocals, minderen Lyrics und einem neuen Titel: „Tight Connection To My Heart“. Als die Originalversion endlich auftauchte, erhielt man einen Einblick in die spirituelle Richtungslosigkeit dieser Jahre: Er stand an einem Scheideweg seiner Karriere – und wusste nicht, welche Richtung er wählen sollte.
79. Romance In Durango – DESIRE (1975). Von SCOTT AVETT: Als ich jung war, stand ich auf Hardcore – Mike Patton von Faith No More war mein großes Idol. Ich war 21, als mir ein Lehrer auf der Kunsthochschule „Desire“ in die Hand drückte – und es war wie eine Erleuchtung. „Blood On The Tracks“ war intim und persönlich, aber „Desire“ war intensiv und gereizt. Dylan klang wie ein Mann, der in seinem Leben viel gesehen hat – ein knorriger, undurchsichtiger Zeitgenosse. Er ging vermutlich nur durch ganz normale Phasen seines Lebens, aber wie er das artikulierte, war ebenso eindrucksvoll wie ungewöhnlich. „Romance In Durango“ lebt vor allem durch seine Melodie – sie ist es, die den Song so eindringlich und getrieben macht. Und wie das meiste Material auf „Blood On The Tracks“ und „Desire“ lebt sie von ständigen Wiederholungen – aber das ist einfach so gut gemacht, dass es unendlich weitergehen könnte …
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Und das ist schwerer, als es sich ein Nicht-Musiker vielleicht vorstellen kann. Dylan war in der Lage, sich mit Herz und Seele in diese spezifische Situation hineinzuversetzen: Er ist ein einsamer Outlaw in der Wüste, der Versuchungen und gefährliche Prüfungen bestehen muss. Man nimmt ihm dieses maskuline Gebaren einfach ab, weil er die Rolle so überzeugend spielt.
Vor ein paar Jahren hatten wir die Ehre, „Maggie’s Farm“ bei den Grammys zu spielen – mit Dylan zusammen. Ich konnte beim Spielen einfach nicht aufhören zu grinsen. Er war unglaublich freundlich, aber bei den Proben auch sehr direkt und geradeaus – es blieb keine Zeit für Spielchen. Unser Freund Donnie Herron, der in Dylans Band spielt, erzählte uns, dass Dylan im Tourbus unablässig spielt. Die Leute haben überhaupt keine Vorstellung, wie viele Songs er tatsächlich drauf hat. Wie schauen zu ihm auf, weil er ein weiser Mann ist, weil er uns auf seiner Reise so weit voraus ist. Aber in gewisser Weise sehen wir in ihm auch einen Kameraden.
78. Absolutely Sweet Marie – BLONDE ON BLONDE (1966). „To live outside the law you must be honest“, sang Dylan auf dem poppigsten Track von „Blonde On Blonde“ – und prägte damit einen seiner meist zitierten Verse. „Absolutely Sweet Marie“ ist ein kryptischer Liebesbrief, der von einem Bubblegum-E-Piano und einer Blues-Rock-Gitarre nach vorne getrieben wird …
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Dylan selbst wartete über 20 Jahre, bevor er ihn in sein Live-Repertoire aufnahm, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt schon regelmäßig gecovert wurde – von den frühen Garage-Punkern The Flamin‘ Groovies bis zu den Alt-Country-Vorreitern Jason and the Scorchers. Als er 1991, zum 25. Jubiläum des Songs, einen Blick zurück warf, klopfte sich Dylan wohlgefällig auf die Schulter: „Er ist erstaunlich gut gereift. Wie alter Wein.“
77. Tonight I’ll Be Staying Here With You – NASHVILLE SKYLINE (1969). „Ich war fast fünf Jahre lang unterwegs – und es hat mich mürbe gemacht. Ich hab Drogen genommen, alle möglichen Sachen … Ich möchte so nicht mehr weiterleben“, sagte er dem ROLLING STONE 1969 …
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Auf dem letzten Track „Nashville Skyline“ (einem Blutsbruder von „I’ll Be Your Baby Tonight“ auf „John Wesley Harding“) macht er den Eindruck, als suche er nun das häusliche Glück. Dass er den Song durchaus wilder interpretieren konnte, bewies er aber Jahre später auf der „Rolling Thunder Revue“. Und selbst heute noch, auf seiner „Never-Ending Tour“, nimmt Dylan die Nummer gerne noch einmal in die Set-List auf.
76. Gates Of Eden – BRINGING IT ALL BACK HOME (1965). „Dieser Song trägt den Untertitel: ,Gotteslästerliches Wiegenlied in D-Moll‘“, scherzte Dylan, als er ihn im Herbst 1964 in New Yorks Philharmonic Hall erstmals vorstellte. Im Frühsommer geschrieben und im Winter aufgenommen, liefert die rein akustische B-Seite von „Like A Rolling Stone“ einige seiner rätselhaftesten Sprachbilder:
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Den „savage soldier“, die „motorcycle-black Madonna“ oder die „gray-flannel dwarfs“. Sie alle warten darauf, in den Garten Eden eintreten zu dürfen – doch dann stellt sich heraus, dass das vermeintliche Paradies nur ein Ort ohrenbetäubender Stille ist. Es ist ein Angriff auf die landläufige Vorstellung der himmlischen Erlösung. „Viele Leute warten so lange, bis sie am Ende der Schlange stehen“, sagte Dylan Jahre später. „Man muss nicht so lange warten. Die Erlösung beginnt hier und heute.“
75. Sweetheart Like You – INFIDELS (1983). Er ist frauenfeindlich („A woman like you should be at home“), er ist ein textliches Konvolut aus romantischen und religiösen Motiven („They say in your father’s home, there’s many mansions/ Each of them got a fireproof floor“), aber mit seinen abschließenden Worten macht Dylan deutlich, dass „Sweetheart Like You“ letztlich ein Song voller Zuneigung und Zärtlichkeit ist …
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Viele Dylan-Exegeten interpretieren ihn als den Schlusspunkt seiner christlichen Phase und vermuten im Refrain („What’s a sweetheart like you doing in a dump like this?“) eine Metapher für Jesus, der von einer korrupten Kirche verleumdet wurde. Sollte das zutreffen, wäre es allerdings ein sehr unorthodoxes Lebewohl.
74. All I Really Want To Do – ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964). Mit „The Times They Are A-Changin‘“ hatte sich der junge Dylan den Ruf erworben, die zornige Stimme einer rebellierenden Generation zu sein. Dylan wäre nicht Dylan, hätte er das nächste Album nicht mit einem leichtgewichtigen Kontrapunkt eröffnet,
der gleichzeitig das modische Gerede von der „männlichen Sensibilität“ aufs Korn nimmt …
Copyright: Michael Ochs Archives/Getty Images
Er erstellt eine absurde Liste von Dingen, die er nie tun würde („fight with you“, „tighten you“, „drain you down“, „bring you down“), um die Zuneigung der angebeteten Frau zu gewinnen. Sein Jodler in bester Jimmie Rodgers-Manier und das Gelächter, das in der Mitte des Songs zu hören ist, verleihen der Nummer einen unbeschwerten Optimismus – ein Charakteristikum, das die Byrds mit ihrer elektrischen Version von 1965 nur noch unterstrichen.
73. I’m Not There – I’M NOT THERE (2007). Im Rahmen der „Basement Tapes“-Sessions 1967 aufgenommen, war „I’m Not There“ jahrzehntelang ein gefundenes Fressen für Bootlegger. Erst 2007 wurde die Aufnahme im Soundtrack zum gleichnamigen Dylan-Film offiziell veröffentlicht …
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Durch den Kunstgriff, die ersten Sekunden des Songs zu kappen, entsteht der Eindruck, als werde man ungewollt Zeuge eines privaten Zusammenseins. Die Lyrics verstärken diesen Effekt nur noch, da sie ein Gefühl extremer Verlassenheit beschreiben, das wohl nur der Sänger plausibel erklären könnte. Mit Dylans desperaten Vocals und den atemberaubenden Orgel-Passagen von Garth Hudson ist es der einzige Track der „Basement Tapes“-Sessions, der dem Sound von „Blonde On Blonde“ nahekommt.
72. Rainy Day Women # 12 & 35 – BLONDE ON BLONDE (1966). Auch wenn es fast schon ein Gassenhauer war (mit dem ursprünglichen Titel „A Long Haired Mule And A Porcupine“), konnte Dylan auf eine biblische Anspielung natürlich nicht verzichten. (In der englischen Übersetzung von Salomos „Buch der Sprüche“ heißt es: „A continual dropping in a very rainy day and a contentious woman are alike.“) …
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Die augenzwinkernde Zeile „they’ll stone you“ (für deine Sünden) bekam dadurch einen doppelten Boden. Der Vorschlag von Produzent Bob Johnston, die Nummer in „Heilsarmee-Manier“ aufzunehmen, trug zu dem religiösen Subtext nur noch bei. „Rainy Day Women“ war einer der sechs Songs, die in der 13-stündigen Marathon-Session eingespielt wurden, die „Blonde On Blonde“ komplettierten.
71. Most Likely You Go Your Way And I’ll Go Mine – BLONDE ON BLONDE (1966). Die Nummer wäre wohl weitaus fader ausgefallen, wenn Bassist Charlie McCoy nicht zur Trompete gegriffen hätte. Er fragte, ob er Dylans Mundharmonika-Passage nicht auf der Trompete begleiten solle …
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Dylan lehnte ab, weil er Overdubs hasste, „doch dann sagte Charlie, er könne Bass und Trompete gleichzeitig spielen“, so Keyboarder Al Kooper. „Uns klappte nur der Unterkiefer runter.“ Da Dylan befürchtete, das Kunststück würde ihn beim Singen ablenken, wurde McCoy hinter einen Vorhang gestellt. Mit dem Resultat, dass Dylans grimmiges Lebewohl nun durch eine beschwingte Fanfare verschönt wird.
70. To Ramona – ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964). Von JACKSON BROWNE: Die Bürgerrechts-Bewegung wird mit keinem Wort erwähnt, und doch liegt das Thema auf der Hand – so faktisch und plastisch wie ein Roman von James Baldwin. Ich sah in dieser Ramona immer eine junge, farbige Frau, die auf einer Party in New York gelandet ist und sich höchst deplatziert fühlt. Dylan tritt auf und stärkt ihr den Rücken, beschreibt aber auch ihre erotische Anziehungskraft. Ich sehe dieses wundervolle schwarze Gesicht mit den „cracked country lips“ geradezu vor mir. Aber er charakterisiert sie in einer Weise, die über diese Szene weit hinausweist …
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Es geht letztlich um den Kampf für individuelle Freiheit und die Gefahr gegenseitiger Abhängigkeit. Es war nun mal die Zeit, in der die Leute nach einem Führer und Sprachrohr suchten. Aber Dylan bügelt das Ansinnen umgehend ab: „I’d forever talk to you/ But soon my words/ They would turn into a meaningless ring.“ Er macht sich immer dafür stark, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss.
Das Problem mit jeder Form von Polemik ist, dass die Welt nicht so schwarz-weiß ist, wie es uns die Parolen glauben machen wollen. Das ist der Kern des Grundes, dass sich Dylan immer wieder entzieht. Er sagt Ramona: „You’ve been fooled into thinking/ That the finishin‘ end is at hand.“ Ist es aber nicht. Diese Kämpfe werden immer weitergehen.
69. One More Cup Of Coffee (Valley Below) – DESIRE (1976). Am 24. Mai 1975 (seinem 34. Geburtstag) besuchte Dylan den Maler David Oppenheim in Süd-Frankreich, der ihn zu einem Zigeuner-Festival mitnahm. Dort, erzählte Dylan später, wurde er „mit einem anderen Mann verwechselt“ – und traf einen weiteren Mann, „der 16 oder 20 Frauen und über 100 Kinder hatte“. Dylan blieb für eine Woche und bat, als er abreiste, um einen Kaffee für die Fahrt. „Ich war mir nicht sicher, ob ich sonst noch was sagen sollte, denn es war gefährliches Terrain.“ …
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Es war in jedem Fall eine gute Geschichte – und möglicherweise die Initialzündung für „One More Cup Of Coffee“. Der Song ist eine gespenstische Hommage an eine Frau mit Augen „like two jewels in the sky“ und einem reichen, mächtigen Vater. Das mystische Raunen ist allgegenwärtig und wird durch die zusätzlichen Vocals von Emmylou Harris nur noch verstärkt. Die eigentliche Zigeuner-Assoziation aber liefert Scarlet Rivera mit einer beklemmenden Geigen-Melodie.
68. One Too Many Mornings – THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN‘ (1964). Ausnahmsweise ein Lebewohl ganz ohne Stress – einer der seltenen Fälle, wo sich Dylan ohne Schuldzuweisungen von der Verflossenen verabschiedet. Der Song ist so verhalten wie kaum ein anderer in Dylans Repertoire – nichts als eine dezente Akustikgitarre, Mundharmonika und seine spröde, resignative Stimme. „One Too Many Mornings“, vermutlich ebenfalls von seiner Beziehung zu Suze Rotolo inspiriert, klingt wie die entschärfte Version von „Don’t Think Twice, It’s All Right“ …
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Dylan verlässt das gemeinsame Schlafzimmer und geht auf die Straße, um noch einmal versöhnlich zurückzuschauen: „You’re right from your side/ I’m right from mine.“ Das Potenzial des Songs schien mit der ersten Aufnahme noch nicht ausgereizt: Auf der ‘66er Tour transformierte Dylan das delikate Lied in ein Punkrock-ähnliches Monster, während Johnny Cash die Nummer gleich vier Mal aufnahm – zwei Mal mit Dylan, einmal mit Waylon Jennings, einmal allein.
67. Leopard-Skin Pill-Box Hat – BLONDE ON BLONDE (1966). Es gibt nicht viele Songs über Eifersucht, die so vergnüglich sind wie dieser 12-taktige Chicago-Blues. Der „Blonde On Blonde“-Track hat die Lockerheit einer Session, die oft schon im ersten Take das gewünschte Ergebnis abwarf, doch für „Leopard-Skin Pill-Box Hat“ brauchte Dylan 22 Anläufe – über vier Sessions in sechs Wochen verteilt. Eine frühere, langsamere Version kann man auf dem Soundtrack „No Direction Home“ hören.
Der Song schafft es, mit Anspielungen und Zweideutigkeiten lustvoll zu spielen …
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Etwa in „just like a mattress balances on a bottle of wine“, das wohl eine beschwipste Romanze andeutet, dann in der Einladung, gemeinsam dem Sonnenaufgang zuzuschauen, gleich gefolgt von der Zeile „We’ll both just sit there and stare“. Doch wer war die Dame, über die Dylan sich da lustig machte? Gerüchten zufolge handelte es sich um die modische Hutträgerin Edie Sedgwick, mit der er kurz zuvor mehrfach ausgegangen war. Als ihn der ROLLING STONE auf die Quelle seiner Inspiration ansprach, antwortete Dylan gewohnt mürrisch, dass es sich nur um einen banalen Hut handele, „den ich vielleicht in einer Schaufenster-Dekoration gesehen habe“.
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