Die Arbeiterklasse hört weg

Mein Vater war damals einundzwanzig Jahre alt, arbeitete seit sieben Jahren an der Werkbank derselben Fabrik, bei der sein Vater ebenfalls an der Werkbank gestanden hatte, half in der Freizeit seinen Brüdern beim Hausbau und war heimlich in die Schlagersängerin Manuela verliebt, die mit Liedern wie „Schuld war nur der Bossa Nova” und „Küsse unterm Regenbogen” bekannt geworden war. Meine Mutter, die er gerade ein Jahr kannte, war siebzehn, machte eine Lehre zur Apothekenhelferin, und ihr Lieblingslied war „Hohe Tannen” aus dem gleichnamigen Heimatfilm von Anton Rieger, in dem sich zwei Schlagerkomponisten, in ein niederösterreichisches Kuhkaff zurückziehen, um ihre Schaffenskrise zu überwinden. Dort treffen sie auf die Heimatvertriebene Liesel aus dem Riesengebirge, die mit dem DDR-Flüchtling Viktor im Stall ein Volkslied singt, und sind so begeistert von ihrer Stimme, dass sie ihr selbst ein Lied komponieren: 

 

„Hohe Tannen weisen die Sterne 

an der Iser in schäumender Flut. 

Liegt die Heimat auch in weiter Ferne, 

doch du, Rübezahl, hütest sie gut.“ 

 

Sogar aus der deutschen Vergangenheit, aus Flucht und Vertreibung, ließ sich mittlerweile eine heile Welt spinnen, mit und in der man leben konnte.  

Auch zwei Jahrzehnte später fürchtete man bei uns zu Hause noch immer die Gammler, schimpfte auf die Studenten, hörte Lieder von Freddy Quinn und dem unpolitischen Schöngeist Reinhard Mey, schaute Sissi-Schmachtfetzen oder Edgar-Wallace-Verfilmungen im Fernsehen und pflegte die Rituale des deutschen Sonntags, wie Franz Josef Degenhardt sie 1965 in seinem Lied so poetisch beschrieben hatte.  

Das Lied lernte ich allerdings erst Mitte der Neunziger kennen, als ich selbst studierte und mir Lehrerkinder die geerbten Schallplattensammlungen ihrer mittlerweile auf CDs umgestiegenen linksbewegten Eltern zeigten. Neben den Platten von Bob Dylan, Joan Baez und Phil Ochs standen da immer auch Hannes Waders Arbeiterlieder und eben Degenhardts Klassiker „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ – da wurde mir langsam bewusst, dass man das Milieu, aus dem ich kam, früher einmal die Arbeiterklasse genannt hatte.

Eine längere Fassung dieses Textes ist in Maik Brüggemeyers Buch I’ve Been Looking For Frieden (Penguin Verlag) erschienen

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