Stephen King: Die besten Bücher – Plätze 80 bis 71

Stephen King: Alle Romane, Kurzgeschichten und Novellen-Sammlungen im Ranking. Sehen Sie hier die Plätze 80-71.

Stephen King – Das Ranking

80.  „The Girl Who Loved Tom Gordon“ (1999, deutsch: „Das Mädchen“) ★★

In der Einsamkeit findet man Trost bei Idolen, in lebensgefährlichen Situationen hilft der Gedanke an die Menschen, die einem viel bedeuten. So wie der Baseballspieler Tom Gordon, der für die kleine Trisha zum Rettungsanker wird: Sie hört das Baseballspiel seines Teams Boston Red Sox aus dem tragbaren Radio, solange die Batterien halten.

Denn die Neunjährige hat sich im Wald verirrt, nachdem sie vom Weg und ihrer Familie abkam. Sie wandert von Sonnaufgang zu Sonnenaufgang, Meilen über Meilen, immer erschöpfter. Irgendwann sieht sie Schatten dort, wo keine sein sollten und hört Stimmen, die nicht von dieser Welt zu stammen scheinen: Ein Monster lauert in der Wildnis.

Die Ausgangslage ist derart simpel wie zwangsläufig wie alltäglich, dass es fast seltsam erscheint, dass Stephen King all die Jahre vorher noch nicht darauf gekommen war. Ein hilfloser Mensch verläuft sich in der Natur. Der Albtraum für jeden und noch schlimmer, wenn das Opfer ein Kind ist – schlimm für das Kind, schlimm für die Eltern, die vom Schlimmsten ausgehen müssen.

„Das Mädchen“ fiel 1999 in jene heute undenkbare Zeit, als unsere Kleinen auch noch nicht mit Handys ausgestattet waren. Wer weg war, war weg.

„Die Welt ist ein Szenario des schlimmsten anzunehmenden Falles, und alles, was du empfindest, ist wahr, fürchte ich“, sagt Trisha sich. Vom Stadtkind zum Höhlenkind. Und jede Forelle, die man in die Hände bekommt, schmeckt nach Leben und besser als Würmer.

Durchamerikanisiert

Leider nutzt King die Gelegenheit, seine Heldin zu einsam sein zu lassen und verschafft sich – wie so oft! – die Gelegenheit, ihr seltsame Monologe zurechtzuschustern. Lachen, Leid, Delirium, schlechte Witze und Wortspiele: „Elementar, mein lieber Watson!“. King macht das oft in seinen Geschichten, sein Humor ist der eines frechen Kindes mit Vorliebe für Rollenspiele. Es ist nicht immer der Humor des Lesers, Kings Figuren müssen oft das sagen, was ihrem Erschaffer in den Sinn kommt, nicht ihnen selbst.

In der Darstellung von Verzweiflung legt er seiner Neunjährigen – durchamerikanisierte – Sätze in den Mund, die kein Mensch ihres Alters sagen würde: „Kannst Du mir nicht einfach ne Chance geben, mich einfach in Ruhe lassen?“ – „Ja, aber vielleicht erwartet hier jemand schrecklich viel von einem Kind“ – „Yeah Baby, massenhaft Vorräte sammeln.“ Kein Kind, das in seinem eigenen Durchfall sitzt, weint und lacht gleichzeitig – die Absurdität dieses Daseins zu erkennen, ist das Leid, das nur Erwachsenen vorbehalten bleibt.

Der Gedanke des „Little Girl Lost“ bleibt interessanter als die Geschichte. Dies ist die Geschichte eines Mädchens, das die Pubertät noch vor sich hat, aber sich bereits mit veränderten Gerüchen, Geschmäckern und Körperflüssigkeiten aller Art auseinandersetzen muss.

Die Furcht vor dem „Bären-Ding“ und dessen „vergifteten Innereien“ erkennt Trisha als das „wahre unterschwellig Wahrnehmbare“. Natürlich nimmt sie am Ende ihre Lektion mit: „Die Welt hatte Zähne, und sie konnte damit zubeißen, wann immer sie wollte“.

Und Stephen King hat Gelegenheit, wieder einmal auf sein eigenes Kindheitstrauma hinzuweisen: Wer sein Geschäft in der Natur verrichten muss, sollte seinen nackten Hintern nie dorthin strecken, wo das Giftefeu wächst.

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79. The Bazaar Of Bad Dreams (2015, deutsch: „Basar der Bösen Träume“) ★★

20 King-Stories aus US-Zeitschriften oder unveröffentlichte, drei bislang erst auf Deutsch erschienen. Sie sind nicht alle überzeugend, einige auch eher neumodisch, mit zunehmendem Alter wird King zum Technik-Skeptiker (Google – „voller Informationen, aber im Grunde dumm wie Bohnenstroh“). Etwas gezwungen wirkt der Schlenker zur Weltwirtschaftskrise (Goldman-Sachs).

„Sommerdonner“, mit seiner Schilderung einer postapokalyptischen Welt, greift „Schuldengrenzen“ und die „Stütze des Euro“ auf, als sinnloses politisches Kalkül, mit dem die Menschheit sich erst recht ins Chaos stürzte – statt den atomaren Untergang aufzuhalten. In dieser Erzählung verarbeitet King auch ein weiteres, vielleicht letztes Mal den Verkehrsunfall, der ihm 1999 fast das Leben gekostet hätte.

In „Nachrufe“ widmet King sich Trashportalen wie „TMZ“, der Vermengung von Klatsch, Blutsucht und Entgrenzung – mit einem Seitenhieb auf „Kulturkritiker“, der tief aus seiner Seele kommt: „Kulturkritiker bedeutet, dass er seine Flügel ausbreiten wird, um gemächlich über die Landschaft zu fliegen und dort hinzukacken, wo es ihm behagt.“

„Leben nach dem Tod“ (gewidmet wieder einmal Surendra Patel) mit seinem präzisen Titel sticht sicher hervor, King bezieht sich in seiner Einleitung zum kurz vor dem „Basar“ veröffentlichten Roman „Revival“: Was kommt nach dem Tod? King äußert seinen Wunschtraum, das alte Leben ein zweites Mal erleben, Fehler auszubessern – oder eben sie genießen können.

Präsidentin Hillary Clinton

Eine von Kings bekanntesten neueren Short Stories ist „Ur“, die er für Amazon schrieb – der Megakonzern brachte damals seine zweite Generation des Kindle-Readers heraus und betrachtete es als tolle Idee, einen Oldschool-Autoren dafür werben zu lassen, indem der eine Geschichte für das Lesegerät schrieb. King sagte zu, verfasste aber – selbstverständlich – eine Geschichte, in der der Kindle nicht ganz so freundliche Dienste bietet. „Warum kannst Du nicht einfach am Computer lesen wie wir alle?“, kriegt ein Anglizistik-Dozent von seiner jungen Geliebten entgegengeschleudert, und damit gehen die Probleme los.

King seziert die Macht der Computer. Es seien Algorithmen gewesen, die die Sprache des „Anonymous“-Autoren des Enthüllungsromans „Mit aller Macht“ erkannt und seinem im Dunkeln bleibenden Erschaffer zugeordnet hätten. Der Kindle nun öffnet das Tor in eine andere Welt. King zaubert den „Mann im gelben Mantel“ hervor, entsprungen seiner Leidenschaft für Robert W. Chambers’ „König in Gelb“, der hier vom „erzitternden Turm“ spricht, womit King natürlich seinen eigenen „Dunklen Turm“ ins Spiel bringt.

Mit seiner Einschätzung von 2009, Hillary Clinton werde zur 44. Präsidentin gewählt, lag er jedoch daneben.

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78. „Rose Madder“ (1995, deutsch: „Das Bild“)★★

„Rose Madder“ und „Lisey’s Story“ gelten als Kings „Frauenromane“, kurioser noch, „Entwicklungsromane“. In seiner Einschätzung der Qualität beider Werke liegt Stephen King möglicherweise nicht ganz richtig. „Lisey“ ist nicht sein bester, „Rose“ aber auch nicht sein schlechtester Roman – auch wenn viele Anhänger diesen Beurteilungen treu folgen.

Doch „Das Bild“ hat seine argen Schwächen. Anders als Lisey Landon ist Rose Madder eine junge Frau, allerdings eine geschlagene, aber sie ist auch ähnlich naiv, unselbständig. Sie vollzieht ihre Reifung, King würde vielleicht sagen: Erblühung, nur durch die Gnade eines Mannes. Wieder eine Frauenfigur also, deren Emanzipation durch Abgrenzung von einem dominanten Mann stattfindet.

Seifenoper

Nach ihrer Flucht lernt Rose mit Bill erstmals einen Mann kennen, der sie gut behandelt – und verfällt, mit Anfang 30, sofort in eine Mädchenrolle: „Danke für die schönste Zeit, Danke für den schönsten Tag meines Lebens, seit ich erwachsen geworden bin.“ Puh. In Teenager-Romanen würde es nicht anders ablaufen, oder? Zumindest kann King neben sich stehen, wenn er selbst bemerkt, dass das alles ein wenig wie eine Seifenoper wirkt.

Wie schon im ein Jahr zuvor veröffentlichten „Insomnia“ kniete King sich tief rein in die griechische Mythologie (seine eigene, „Dunkle Turm“-Stadt Lud kommt auch vor), machte aus dem gewalttätigen Ehemann einen buchstäblich gehörnten Ehemann, ein „Stier auf dem offenen Feld, der mit den Hufen scharrte und nach dem roten Tuch Ausschau hielt, das ihn in Rage versetzt hatte“. Der Minotaurus im Labyrinth. Um Norman Daniels’ Perversionen zu erklären, macht er ihn selbst zum sexuell Missbrauchten, missbraucht einst vom Vater.

Natürlich nimmt Rose Madder den Kampf mit dem Gatten auf: „Norman lernte, was es hieß, der Gebissene zu sein und nicht der Beißende.“ Wie einen echten Stier mit Nasenring führt sie ihn am Ende an der Nase herum.

Es ist unklar, ob King Geschlechterklischees karikieren will, oder ob er sie möglicherweise selbst vertritt. Rose’ Anschmachten ihres neuen, zärtlichen Liebhabers Bill ist unfreiwillig komisch. „Tu mir nicht weh“ – „Nein, bestimmt nicht“,  „Versprochen?“„Steig auf  – Bist Du schon mal auf einem eisernen Pony geritten?“ Und sie fühlt sich dabei wie das Mädchen, das vom Jungen auf den Abschlussball geführt wird. Sie ist also ein Mädchen. Und dann ist sie auch noch eine Märchenfigur: „Rose erwachte aus dem Traum wie Schneewittchen, nachdem sie den Apfel gegessen hatte.“

Das zweite Thema – es zählt nicht das, was andere uns angetan haben, die Vergangenheit, sondern die Zukunft – rückt nicht nur in den Hintergrund, es wird dort auch nur mit Binsenweisheiten ausgeschmückt: „Es kommt nicht auf die Schläge an, die wir kriegen, sondern auf die, die wir überleben.“

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77. „End of Watch“ (2016, deutsch: „Mind Control“) ★ ★

Der deutsche Verlag macht wieder mal den Spielverderber, verrät im Titel mehr, als eigentlich nötig. Denn der Abschluss von Kings erstem Hardboild-Opus, der Bill-Hodges-Trilogie, dreht sich nicht nur um die übersinnlichen Fähigkeiten des „Mercedes-Killers“ Brady Hartsfield, sondern um das „Ende der Schicht“ des pensionierten Cops Hodges.

Mit einem modifizierten Handheld-Spiel treibt der komatöse Brady Menschen per „Gedankenkontrolle“ in den Tod. Er schlüpft gar in deren Körper, alles vom Krankenbett aus. Bill Hodges misstraute dem Komazustand des jungen Mannes von Anfang an, so wie Dr. Loomis im Carpenter-Film „Halloween“ dem Killer Michael Myers: Er ist sich sicher, dass im ruhenden Patienten noch immer das Böse schlummert.

Das Trilogie-Finale enttäuscht, weil „End Of Watch“ das große Thema fehlt. „Mr. Mercedes“ betrachtete – auch prophetisch! – schreckliche Wege des Terrorismus sowie berechtigte Skepsis gegenüber dem Intimsphären-Verlust in sozialen Medien. Der zweite Teil, „Finder’s Keepers“ („Finderlohn“), war eine Hommage an die Literatur an sich, und wie Fanatiker sich in ihr verlieren können, bis hin zum Mord.

Massen-Selbstmord

Die „Mind Control“ hat die „Mind Control“, die Anstiftung zum Massenmord, aber die Idee ist bekannt und stützt nicht die gesamte Erzählung. Es ist einfach zu wenig für Kings Verhältnisse. Es fehlt der Blick aufs große Ganze, auch wenn Hartsfield die wahre Macht über den Geist nicht in der Telekinese sieht, sondern in der Wirklichkeit der Technik, der Social Media und deren Nutzer, seinen Trollen, das Mobbing, das zu „massenhaft Suiziden“ führe.

Auch Kings Vergleiche zur politischen Realität wirken haarsträubend, etwa, wenn er das Leben des Patienten Hartsfield mit der ultimativen Hassfigur vergleicht, dem US-Präsidenten: „Der lebt wie Donald Trump.“ Hat Menschen auf dem Gewissen, „und da sitzt er: „Mahlzeiten werden ihm von seinem Personal serviert, man wäscht ihm seine Kleidung.“ Brady Hartsfield selbst setzt sein Verbrechen, die Gehirne zu zerstören, mit dem Vorgehen des „Islamischen Staat“ gleich: Kulturschätze in Schutt und Asche legen. Puh.

Als Bill Hodges sein Ende kommen sieht, der Oberkörper zwickt und drückt, bleibt er sich immerhin selbst treu. Er hält nichts von internetgestützten Selbstdiagnosen, er kam von Anfang an nicht mit dem Web klar. Er ruft seine Gehilfin Holly an.

76. „The Dark Tower II: The Drawing Of The Three“ (1987, deutsch: „Drei“) ★★

1987 würde als Kings fleißigstes Jahr in seiner Bibliographie eingehen, und das, obwohl er – oder gerade weil er – stark kokainabhängig war. Vier Bücher kamen damals heraus, drei von ihnen gelungen. Dieses hier ist das vierte Buch.

Band eins, „The Gunslinger“ (1982), war ein Western mit offenem Ende, mit einem Revolvermann als Helden, der für das Erreichen seines Ziels, dem Dunklen Turm, über Leichen geht – auch Kinderleichen. Warum King in der Fortsetzung das Tempo drosselt, ist unerklärlich.

Bemerkenswert, dass viele Kritiker eine Schwäche in der späteren, gleichzeitigen Konzeption der Bände fünf bis sieben sahen, die auf sie so wirkten, als hätte man eine große Praline unnötig in drei Teile zerschnitten. Buch zwei, „The Drawing Of The Three“, zeigt aber den umgekehrten Fall: Wichtige Zutaten fehlen, es dürfte auch King nicht klar gewesen sein, wohin die Reise geht.

Was wird aus dieser Welt?

Zu mühevoll werden die neuen Weggefährten eingeführt, eine Frau im Rollstuhl mit Persönlichkeitsstörung, ein Heroin-Junkie, alle schreien sich, ob in New York, der Parallelwelt des Revolvermanns oder im Flugzeug, dauernd an – es gibt Abzweigungen über Rassimus in den 1950er-Jahren, nur die Geschichte selbst dreht sich nicht weiter. Der drogenabhängige Eddie verliebt sich in Susannah, aber auch hier fehlen Beweggründe. Der Roman wirkt wie ein 1000-Seiter, der auf 500 runtergekürzt wurde.

Was King gelingt, ist das Prinzip Vertrauen als Grundlage eines Bündnisses zu etablieren: Der Revolvermann, vielleicht tödlich verwundet, legt sein Leben in die Hände der neuen Gefährten, da er selber keine Kraft mehr hat. Sie müssen für ihn ihr altes Leben aufgeben und sich mit ihm auf die Reise nach dem „Dunklen Turm“ machen, in einer Welt, die sie noch nicht verstehe. Obwohl der Turm nur für Roland eine Rolle spielen wird, das wissen sie, und obwohl sie dabei vielleicht sterben werden. Es ist ein Buch des „Immer weiter“.

Dieser Kosmos bleibt weitestgehend unskizziert, es gibt außer den „Riesenhummern“ wenige andere Tiere, keine bedeutenden Landschaften, keine geografischen Abmessungen, keine wirkliche Vorstellung von dieser Welt.

King gab damals bereits bekannt, dass es mindestens sechs Bücher zum „Dunklen Turm“ geben würde. Wer „Drawing“ liest, fragt sich: Hat er beim Schreiben nicht gewusst, wohin es geht – oder hält er sich noch zurück, weil das große Bild erst im nächsten Band gezeichnet werden könnte?

75. „Four Past Midnight“ (1990, deutsch „Nachts“)★★½

Das Buch ist Kings erste Novellen-Sammlung seit dem gefeierten „Different Seasons“ von 1982, und wie groß der Druck war, teilte der Autor in einem langen Vorwort mit. Man möge ihm nachsehen, dass er, anders als in den „Jahreszeiten“, stärker auf übernatürlichen Horror an sich setze. Statt auf den echten Horror von Menschen, die etwas Schreckliches tun.

Von den vier Stories überzeugt lediglich die erste komplett, „Langoliers“, eine Geschichte über Menschen, die mittels eines Tors im Himmel unfreiwillig in die Vergangenheit reisen, aber zwischen den Zeiten gefangen werden. Einer TV-Verfilmung mit miserablen Spezialeffekten sei dank, müssen die meisten King-Fans bei der Erwähnung der Langoliers lachen: Die Zeitfresser sahen 1995 zum Schießen aus.

Zwölf Passagiere wachen während eines Flugs auf und stellen fest, dass sie die einzigen verbliebenen von mehreren hundert sind. Sie landen auf einem gottverlassenen Flughafen. Und dann geht es, King beherrscht diese Art Horror einfach, mit einer immer drängender werdenden Spannung los: Ein unangenehmes Summen wird (auch von Buchseite zu Buchseite) immer lauter, und King muss sich fragen lassen dürfen, ob die Auflösung dem gerecht wird.

Wird sie, so wie zuletzt in „It“, als ein Werwolf immer lauter die Treppe runterpoltert, und das, was man sieht, wirklich so schlimm ist wie das, was man befüchtet hatte Tatsächlich kommen sie irgendwann, die „Langoliers“. Trommelwirbel! Raubtier-Flugmaschinen, die die Vergangenheit, und damit die alte Welt auffressen – nichts als Schwärze hinterlassen, wo Zeit vergangen ist.

Hier offenbart King eine seiner dunkelsten Visionen: Das Damals wird zu Abfall, Lästigem, Schrecklichem, und die, die das Vergangene wegräumen müssen, lassen nichts übrig, keine Erinnerung. Womöglich ist „Langoliers“ auch eine Mahnung an die Menschen, besser mit ihrer Zeit umzugehen, sich mehr Zeit zu lassen, oder einfach weniger auf Zeit zu achten.

Die Story hat vertraute King-Elemente – mit dem panischen Passagier Toomy hat er den Überlebenden eine Figur an die Seite gestellt, die genauso viel Schaden anrichten kann wie die Monster. Außerdem unfreiwillige Komik (zwei der Figuren sind vom Anblick der Langoliers derart schockiert, dass sie sich gegenseitig schreiend umklammern).

Mit Nick Hopewell (der Name!) führt der Autor auch eine Figur ein, wie es sie nie wieder im King-Kosmos gegeben hat. Eine Art Über-Charakter. Ein britischer Geheimagent, hochintelligent und schlagkräftig, der schwer an seiner Vergangenheit trägt: Er erschoss einst drei Jungen, die er irrtümlich für Killer hielt. Halb Bond, halb Jack Reacher, ist Hopewell eine politische Figur geworden, die außerhalb der Landesgrenzen liegt, die King sonst für seine Figuren skizziert. Ein Mensch aus einem anderen Universum.

Stark zwei

Novelle zwei, „Secret Window, Secret Garden“, leidet unter demselben Problem, das auch die abschließenden zwei Geschichten haben: gute Ausgangslage, blödes Finale. Es war sicher keine gute Idee von King gewesen, dass er die Wesensverwandtschaft zwischen den Romanen „The Dark Half“ und diesem „Fenster“ selbst erklärt.

Schnell wird einem klar, wer sich hinter dem aufdringlichen alten Farmer John Shooter verbirgt, der dem Schriftsteller Mort Rainey auflauert: der habe ihm einst seine Kurzgeschichte geklaut und den Erfolg kassiert. Rainey kennt den Mann nicht, überlegt, wie er ihn loswerden soll. Oder WAS er loswerden sollte.

„The Library Policeman“ baut sich zunächst wundervoll auf, es geht um Kindheitsängste, die sich nicht abstreifen lassen. Makler Sam Peebles wird verfolgt von einem „Bibliothekspolizisten“, der Bücher eintreibt, die man vergessen hat abzugeben. Natürlich geht es hier nicht wirklich um einen „Bibliothekspolizisten“, ebenso wenig um eine väterliche Autorität, aber auch nicht um ein „Über-Ich“, das die Psyche auf Sauberkeit kontrollieren will.

Zwar wird mit der Auflösung die härteste aller Ursachen gewählt, Peebles wurde als Kind sexuell von einem Fremden missbraucht, dies war der „Polizist“, Ursache seines Traumas. Der große Fight am Ende erweist sich als seltsam arrangierter Monsterkampf.

Dafür skizziert King mit der Bibliothekarin Ardelia Lortz, gemessen an der Kürze der Novelle, eine seiner faszinierendsten Charaktere: Der Gestaltwandler ist nicht nur Auftraggeber des „Bibliothekspolizisten“, sondern Wesensverwandter von „Es“, der sich von den Ängsten junger Menschen ernährt. Kings Schilderung, der attraktiven „Ardelia“, die im Kornfeld einen Jüngling verführt und ihn danach von ihr abhängig macht bis hin zur Komplizenschaft, er wird zum Alkoholiker, sie immer mehr zum Rüssel-Reptil, zählt in ihrer Tragik zum Besten, was er in diesem seinen eher mittelmäßigen Jahrzehnt ablieferte.

Abgeschlossen werden die „Mitternachtsgeschichten“ mit „The Sun Dog“. Auch hier gilt: Großartige Prämisse, vielleicht die spannendste seit langem, aber ein miserabler Schluss.

Ansatz: Fordere das Schicksal nicht zu oft . Der junge Kevin hat eine Polaroid-Kamera, die immer nur dasselbe Foto schießt, egal, auf wen oder was er das Gerät richtet. Zu sehen ist ein Hund, der vor einem Zaun liegt. Dann stellt er fest, dass das Tier sich von Bild zu Bild doch ein kleines Stück bewegt. Zur Person hin, die das Foto geschossen hat – und sich, inzwischen sieht er aus wie ein Höllenhund, immer sprungbereiter macht. Auch hier am Ende: ein Action-Showdown samt einfachem Trick, wie sich der Köter beim Übergang aus dem Bild in die reale Welt bezwingen lässt.

Was für eine verpasste Chance!

74. „Nightmares in the Sky: Gargoyles and Grotesques“ (1988, deutsch: „Nachtgesichter“) ★★½

Streitbar, ob dieser Bildband als echtes King-Buch firmiert, er liefert einen – in der deutschen Übersetzung – 35-seitigen Essay zu einer Fotostrecke von einem Mann namens f-stop Fitzgerald. Wer Stephen King, den bedröhnten, paranoiden, hochgradig abhängigen Stephen Kind der Spätachtziger kennen lernen will, erhält hier viele Eindrücke. Und das macht seine Einleitung höchst lesenswert.

In „Gargoyles“ beschreibt er die Wirkung von den Wasserspeiern, den Monstergesichtern aus Stein, die von New Yorker Gebäuden auf die Menschen hinab starren. Fast alle dieser Fratzen liegen oberhalb des menschlichen Sehbereichs, was den beeindruckten King schlussfolgern lässt: „Wir sehen sie nicht, aber sie sehen uns.“ Klassisches Futter für Verfolgungswahn, für ihn ein „Alptraum im Wachsein.“ Die Gargoyles als lebende Kreaturen, aber nicht von einem Wesen geboren, sondern von Gebäuden.

Müllpresse für kulturellen Abfall

King erzählt recht amüsant, wie er betrunken vor dem Fernseher sitzt, wie er Spaziergänge durch Manhattan unternimmt, generell lieber geht statt joggt („Knorpelmasse in den Knien hält dann länger“). Einleitend setzt er schon eine deutliche Markierung, wenn er Capote zitiert, der über Kerouac einst abfällig urteilte: Er würde nicht schreiben, sondern tippen. Schreiben, nicht tippen, das ist auch sein Anliegen. Wahrscheinlich wusste der King von 1988 selbst nicht mehr genau, was er tat.

Der 41-Jährige sagt, er reiht sich in die Riege der Autoren ein, die nicht mit dem Intellekt arbeiten, sondern mit dem Bauch. Er interessiert sich für die Tätigkeit der Nervenenden, nicht für Gedanken. Das ist natürlich genau so Käse wie seine früheres „Eingeständnis“ von „Schwäche“, dass er schreiben müsse, weil er „nur“ das könne. „Mein Kopf weiß auch nicht viel von Kunst“, schreibt er, „aber  meine Nerven scheinen etwas über Gargoyles zu wissen.“ Er überspannt den Bogen: „Mein Kopf ist eine Müllpresse für kulturellen Abfall.“ Der Mann war einfach nicht clean.

Bemerkenswert bleibt „Gargoyles“ also wegen der Konfusion; das Ende seiner ersten Ära, der Ära vor dem Entzug, kündigt sich an. Das 35-Seiten-Editorial würde gar seine einzige Veröffentlichung im Jahr 1988 bleiben. So wenig hat er seitdem nicht innerhalb eines Kalenderjahres publiziert. Der Gedanke an dem Buch allein ist natürlich großartig: Was haben sich die Leute damals mit diesen Wasserspeiern bloß gedacht?

73. „Under The Dome“ (2009, deutsch: „Die Arena“) ★★½

1972 und 1982 arbeitete King an einer Version dieses Romans, der 27 Jahre später erst erscheinen und einer seiner längsten werden würde. Ärgerliches Timing, das King in Erklärungsnot brachte: Der „Simpsons“-Kinofilm erschien zwei Jahre vor der „Arena“, viele dachten, er hätte abgekupfert. So wie die Springfieldianer werden die Bewohner von Chester’s Mill aus heiterem Himmel durch eine Kuppel von der Außenwelt abgetrennt.

In beiden Fällen, bei den „Simpsons“ wie bei King, bieten die folgenden Auseinandersetzungen Grundlage einer Sozialsatire. Die größte Pointe ist wahrscheinlich die, dass die Verknappung der Ressourcen in der abgeschirmten Stadt tatsächlich zum Problem wird. Oder, wie King schreibt, „das war der American Way: Etwas rationieren zu müssen ist zutiefst unamerikanisch.“

Die Ausgangslage, Kuppel plötzlich da, keiner weiß, warum, ist eleganter als das, was King in diesen Roman alles hineinverfrachtet, nachdem die Kuppel erstmal steht. In der Figur des Stadtrates, Autohändlers (ein„würden Sie  diesem Mann einen Gebrauchtwagen abkaufen?“ liegt hier in der Luft) und Meth-Dealers Big Jim Rennie legt er alles, was ihn an den USA unter George W. Bush störte. Rennie ist Klimaleugner, Anti-Gutmensch, kein Religiöser, aber ein nach Belieben mit Religion argumentierender Machtmensch: „Die Kuppel ist Gottes Wille.“ Weil Rennie in Wirklichkeit seine Herrschaft über Chester’s Mill gekommen sieht.

Rennie und Trump

Amerikas große Spezialität ist eben tatsächlich nicht nur Rock’n’Roll, sondern auch Demagogen: Als Donald Trump 2016 zum US-Präsidenten gewählt wurde, rückten zwei populäre Charaktere Kings wieder ins Bewusstsein, weil sie diesem Psychopathen so ähnlich sind: der sadistische Politiker Greg Stillson aus „The Dead Zone“ (1979) sowie eben Big Jim Rennie. King selbst sagte, der sei wie Trump. Es stimmt: „Er würde Macht ausüben, bis er entmachtet wurde; er würde sich nehmen, was er brauchte, bis ihn jemand stoppte. Das machte ihn für jedermann gefährlich.“

Trotz allem ist Rennie eher Karikatur als realistische Figur, er überbietet damit Trump um ein kleines bisschen – was zwar zu großartigen Zitaten, aber zu weniger Glaubwürdigkeit führt. „In einem Loch gefangen. Ich komme mir vor wie der gottverdammte Saddam Hussein auf der Flucht“, sagt er, damit reiht er sich in die Tyrannenriege ein. Vermeintliche Mörder sind „Terroristen“, seine eigenen Leute tragen Dick-Cheney-Masken, und „die Bartstoppeln verliehen Big Jim ein finsteres nixonhaftes Aussehen“. Auf seinem Schreibtisch ein Bild, auf dem er Sarah Palin die Hand schüttelt.

Verwirrung deluxe, zu viele Personen, zu viele Vergleiche, zu viele Metaphern.

Gegenspieler Rennies ist Dale „Barbie“ Barbara, ein ehemaliger Army-Lieutnenant, natürlich Golfkriegsveteran. King ist Jack-Reacher-Fan (die Romanfigur Lee Childs wird in der „Arena“ gleich zweimal erwähnt, Child revanchierte sich später mit dem Lob, „Under The Dome“ sei Kings bester Roman), und Barbie ist, wie Reacher, ein hochkompetenter, besonnener Ex-Beamter, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, aber von seinem Umfeld als Retter erkannt wird. Allerdings leidet Barbie – auch hier wollte King Zeitbezug – auch an einer posttraumatischen Belastungsstörung, weil er im Irak an Folter und Mord beteiligt war.

Ökologie im Vordergrund

Am präzisesten ist „Under The Dome“ in seinem Ruf nach größerem ökologischen Bewusstsein. Die Kuppel verschmutzt durch Abgase, der Lebensraum wird bedroht. Frische Luft wird zum kostbaren Gut, aber erscheint unerreichbar. Die Menschen im Ort haben derart gegen sich und für das eigene Überleben zu kämpfen (hier ist der deutsche Buchtitel, „Die Arena“, dem Original vielleicht sogar überlegen), dass die Ursache für die Entstehung der Kuppel nebensächlich wird.

Seine Figuren bringt King erst ab dem letzten Viertel langsam auf die Spur. Hier hat er großes Zutrauen in die Unterhaltsamkeit seiner Charaktere, und tatsächlich stellt sich vor lauter Intriganz nicht unmittelbar die Frage nach dem „Warum“ der unsichtbaren, unüberwindbaren, extraterrestrisch erscheinenden Mauer.

Aber nicht für alle – Wikipedia allein listet 37 – Charaktere findet er befriedigende Entwicklungen und Endpunkte. Thurston Marshall, die Parodie eines harmlosen, theoretisierenden Linken, versandet irgendwann, er erhält einen Tod, der nicht erzählt, sondern von dem lediglich berichtet wird. Das wirkt ein wenig zu bequem.

Über das Ende debattieren Fans leidenschaftlich, nicht alle sind davon überzeugt. Der „Dome“ als ein Spaß außerirdischer Kinder, die eine fremde Spezies quälen wollen. Zwar fehlt eine umfassende mythologische Erklärung, aber Kings Auflösung ist konsequent. Es geht um den grausamen Blick auf Menschen, und wie sie sich erniedrigen müssen um weiterleben zu dürfen. Sie müssen betteln, und sie werden betteln.

72. „The Dark Tower III: The Waste Lands“ (1991, deutsch „tot.“) ★★½

Im dritten Teil der „Dunkle Turm“-Reihe lernen wir den humorlosen Revolvermann Roland Deschain ein bisschen besser kennen. Er weint erstmals in Anwesenheit seines „Ka-Tet“ (der Schicksalsgemeinschaft), versucht sich aber auch an einem Witz, und er erklärt das Prinzip des „Wanderns auf dem Balken“, einem von zwölf. Im Grunde ist das die erste Erklärung für den „Turm“, die den Leser aber – beabsichtigt – noch immer im Unklaren lässt. Anscheinend existieren zwölf Parallel-Universen. Wer den „Dunklen Turm“ bezwingt, hat die Macht über sie.

Wie schon in den ersten zwei Bänden entsteht der Eindruck, dass King ohne Entwurf für seine Welt gearbeitet hat. Drauflosschreiben muss nicht das Schlechteste sein. Weil dieser dritte Band aber auch episodischen Geschichten besteht, bleibt unklar, wie bedeutsam eigentlich die überwundenen Hürden sind. So, wie die Riesenhummer aus „Drawing Of The Three“ keine Relevanz mehr haben, ist es hier der riesige Cyborg-Bär Shardik, der sich dem Ka-Tet in den Weg stellt, für das Grand Design aber keine Rolle spielen wird. Action ohne Notwendigkeit.

Shardik bestätigt den Tutti-Frutti-Charakter des Buchs mit seiner wenig überzeugenden Welt aus Atomkriegs-Ruinen, ZZ-Top-Songs und eben diesem halbmechanischen Bären, der laut Produktionsschild von „North Central Positronics Ltd.“ hergestellt wurde. „Blair der Mono“, ein Hochgeschwindigkeitszug, der sich verselbstständigt gemacht hat, morden will, aber nach Rätseln giert, wie ein kleines Kind, passt in diese konfuse Welt. Blaine ist wie HAL, oder, eher noch, wie der panische Computer aus Carpenters „Dark Star“.

„Zen-Buddhismus-Scheiße“

Das Ka-Tet vervollständigt sich mit dem Bumbler Oy, einer Art Waschbär, sowie dem Jungen Jake Chambers, den wir aus Band eins kennen – Roland opferte ihn dort, ließ ihn in einen Abgrund fallen. Nun ist die „Dark Tower“-Welt um ein Vater-Sohn-Verhältnis reicher, denn Roland, der weinende Roland, will den Jungen, den er einst tötete, nie mehr hergeben.

„Mann, ich habe Dein Gesabbel so verdammt satt“, sagt Rolands Gefährte Eddie Dean zum Revolvermann. „Diese Zen-Buddhismus-Scheiße.“ Dabei ist es doch gerade die Aussicht auf Erklärung des „Dunkler Turm“-Kosmos, die uns an die Saga binden sollte. Roland, der Miesepeter, zumindest wird immer besser. Er kündigt an, bald seine Vorgeschichte, die Geschichte von Alain und Cuthbert, von Betrug und Vertreibung, zu erzählen. King bot damit einen Vorgeschmack auf Band vier.

Dabei hat „The Wastelands“ seine Momente, King riskiert einen Cliffhanger, lässt das Buch im entscheidenden Moment enden – obwohl er im Epilog des Buchs schreibt, dass er selber nicht wisse, wohin die Story steuern würde (dass ihm der Zugang in die Welt des „Dunklen Turms“ immer schwerer falle, schreibt er auch).

Willkommen zurück, Flagg

Vor allem aber erleben wir in „The Wastelands“ gleichzeitig eine Parodie der „Wastelands“. In seinem alten Leben als New Yorker Schüler reicht Jake Chambers einen Aufsatz ein, den er halb im Wahn verfasst hatte. Darin geht es um die rote Rose, den Turm, den Balken – Fantasy halt. Das Manifest eines Menschen, dem keiner folgen kann. Dafür bekommt er, obwohl am Thema vorbei, eine 1. Und der Junge lacht sich schlapp. King bewies hier Humor.

Und endlich taucht auch er wieder auf: Nicht der Zauberer aus den „Augen des Drachen“, sondern der muffige Jeansjacken-Träger mit den Cowboy-Stiefeln, wie wir ihn aus „The Stand“, 14 Jahre vorher, kennen gelernt hatten: Randall Flagg. Wie gut es tut, den Bösewicht wieder hier zu haben, wird sich noch zeigen.

71. „Sleeping Beauties“ (2017, mit Owen King, deutsch: „Sleeping Beauties“) ★★½

Kings Idee zielt auf das größtmögliche Szenario ab, wie schon in „The Stand“: der Untergang der Welt. Anders als in „The Stand“ aber sind hier beides nicht gelungen, Idee und Umsetzung der Apokalypse. Lediglich die Idee, die ist gut. Alle Frauen der Welt verfallen, einmal eingenickt, in einen Tiefschlaf, ein Kokon hüllt sie ein. Keiner weiß, ob und wann sie wieder aufwachen. Aber eines passiert sicher: Wer den Kokon aufreißt, erweckt die Frau als Furie, die erst Ruhe gibt, wenn der Störenfried tot ist. Nach Tollwut sofort wieder Tiefschlaf, der Kokon wächst nach.

Stirbt die Menschheit aus, wenn die eine Hälfte einschläft, keine Kinder mehr gebären kann? Wie beschützt man sie, wo versteckt man Ehefrauen, Mütter und Töchter vor Männerhorden, die die im Schlaf wehrlose „Hexen“ verbrennen wollen?

Es sind herausfordernde Ideen, und zunächst entwickelt sich diese Welt in einem neuartigen Szenario: Es gibt die ersten Versuche, schlafende Frauen zu vergewaltigen; Frauen wiederum plündern Apotheken, um Wachmacher zu bekommen, Crystal Meth und Kokain werden die gefragtesten Drogen.

Krankes Gesundheitswesen

Das wirft auch ein Licht auf eines der grassierenden Probleme im amerikanischen Gesundheitswesen: Man bekommt von Ärzten und in Apotheken einfach ziemlich viele harte Dinge, wie Opioide, ziemlich leicht. Interessant sind auch die Gründe, weshalb nach Abgang der Frauen Konflikte auf der ganzen Welt ausbrechen, Kriege, die religiös motiviert sind. Wenn es keine Frauen mehr zu beschützen gibt, geht „irgendeine psychologische Basis“ von Judentum und Islam verloren.

Dass der politische Stephen King und der noch politischere Sohn Owen King ihre Geschichte von Männern, die nicht ohne Frauen können, aber Frauen, die eigentlich ohne Männer können, nachträglich als Trump-Kritik verkaufen: geschenkt (auch, wenn die Arbeit am Roman vor der US-Präsidentenwahl begonnen wurde).

Das Problem liegt im Verzicht auf eine erklärende Mythologie. Der Zauber des „Dornröschen-Schlafs“, wie er an einer Stelle genannt wird (fälschlicherweise, denn es sind nicht Männer, die die „Dornröschen“ wachküssen) bleibt verborgen, es gibt keine Ursachen. Das muss kein Problem sein, wenn das Drumherum, also die eigentliche, dadurch initiierte Story, funktioniert. King selbst hat das mit seiner Parodie auf die Technikabhängikeit des modernen Menschen, „Cell“, vorgemacht – da wollten wir wissen, ob die Figuren überleben. Dann erst, wer oder was den „Puls“ warum ausgelöst hat.

Aber in den „Sleeping Beauties“ stimmt die Charakterisierung nicht, das Setting nicht, die im Nebel bleibende Antagonistin Evie nicht, die den Schlaf auslöst. Ihre Geschlechtshaare erinnern den Beobachter nicht mehr an Haare, sondern „Vegetation“. Evie ist Mutter Natur, und Mutter Natur findet, dass für die Menschheit auf der Erde kein Platz mehr ist. Aber warum tut sie, die Männer als „Schwanzträger“ verabscheut, diese Dinge? Sie selbst reitet auf den Geschlechterklischees herum, wenn Sie ihrem Gegner dem Gefängnispsychiater Clinton Norcross empfiehlt, mehr auf seine „weibliche Seite“ zu hören: Intuition.

Durch Generationen von Knechtschaft geprägt

Evie wird im Frauengefängnis gefangen gehalten, oder, je nach Sichtweise, dort versteckt oder beschützt. Die Frauen, einmal eingeschlafen, verschafft sie an den so genannten „Unseren Ort“, eine Art Schattenreich und ein Name, der nicht von ungefähr an die neuen „Safe Spaces“ auf dem Uni-Campus erinnert.

Dort entsteht eine neue, männerlose Gesellschaft, in der vieles einfacher laufen soll, sofern denn alle Frauen mitspielen. „Wie schön es hier war“, heißt es. „Sie waren durch Generationen der Knechtschaft geprägt.“

Von diesem Moment an überkommt es King wieder einmal, wie so oft in den vergangenen Jahren, er kreiert Sätze mit überdeutlicher Symbolkraft. Rundumschlag gegen alle. Cops, die sich immer entschuldigen, „nachdem sie irgendeinen armen schwarzen Menschen erschossen haben, egal ob Mann, Frau oder Kind“, Söhne, die achtlos Waffen herumliegen lassen, „sodass andere Söhne sie finden und versehentlich sich selbst oder ihre Schwester erschießen.“

Es ist einfach alles zu direkt, zu flach sowieso: Die religiösen Rechten, die den langen Schlaf als Gottes Strafe für den Feminismus betrachten, glauben natürlich an Trump. Als einer der ersten Geschäfte geht bei der Apokalypse der „Apple“-Store in Flammen auf. Männer flachsen, dass sich von nun an die Verkehrssicherheit erhöhen wird.

Männer, die Männer bekriegen, das läuft auf einen Shoot Out hinaus wie im Western: Verbarrikadierung im örtlichen Gefängnis, die einen wollen Evie beschützen, weil sie ihre Frauen wiederhaben wollen, die anderen wollen Evie töten, weil sie ihre Frauen wiederhaben wollen. Ein Dutzend gegen ein halbes Dutzend: Wie geschrumpft sind hier die Maßstäbe angesichts des Weltuntergangs. Eine Schießerei fühlt sich falsch an. Evie bringt es auf den Punkt: Bonnie und Clyde im Frauenknast.

Stephen King hat ein Problem mit Frauenfiguren, für ihn sind sie nur stark, wenn sie sich von stärkeren Männern befreien (Rose Madder, Lisey Landon, Dolores Claiborne). In „Sleeping Beauties“ sind sie dem männlichen Geschlecht meist von Natur aus überlegen. Gut so. Vielleicht hat sich sein Sohn Owen auch erfolgreich eingebracht.

Vor die Wahl gestellt, verlassen die Frauen am Ende „Unseren Ort“ wieder. Weil sie wissen, dass eine Gesellschaft ohne Männer doch nicht so richtig schockt. Macht sie das weniger weise? Die Argumente sind etwas schlicht, eine Teenagerin sagt: „Ich will herausfinden, wie es sich anfühlt, sich wirklich in einen Jungen zu verlieben.“ Der Ruf der Natur.

Stephen King – Das Ranking

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