Dieser Mann erklärt uns das Horror-Kino (und unsere psychischen Abgründe)

Keiner vertieft sich so intensiv ins Genrekino wie der Berliner Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger. Horrorfilme sind für ihn ein Spiegel des Unbewussten.

„Ich habe einen Großteil meiner Jugend im Kino verbracht und vor dem Fernseher“, erzählt der Filmwissenschaftler Marcus Stigl­egger. Der 47-Jährige macht trotzdem nie den Eindruck eines Filmnerds. Er ist erklärter Fan. Aber eben die seltene Art von Fan, die das Fan-Sein nicht vom klaren Blick abhält und nicht zu kritikloser Verehrung verführt.

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Stiglegger lehrt in Berlin und oft auch an anderen Universitäten. Gerade hat er sein Buch „Grenzüberschreitungen“ (Martin-Schmitz-Verlag, 17,80 ­Euro) veröffentlicht, in dem er „Exkursionen in den Abgrund der Filmgeschichte“ unternimmt, vor allem ins Horrorkino. Dieses interpretiert er konsequent im Wechselverhältnis zu den kulturellen und politischen Rahmenbedingungen seiner Entstehungszeit. „Vereinfacht gesagt lese ich Horrorphänomene als Spiegel des kollektiven Unbewussten.“ Größere Fragen, die ihn hier umtreiben, lauten zum Beispiel: Was empfinden wir im Film als böse? „Es ist immer die Grundlosigkeit der Destruktion, die bei den Filmschurken das eigentlich Böse ist, also der ultimative surrealistische Akt: Ich gehe raus und erschieße jemand Unbekannten.“

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Die Idee hinter seiner „Grenztrilogie“ – „Grenzüberschreitungen“ ist nach „Grenzkontakte“ der zweite Teil – ist, das Populäre des Genrekinos zu reflektieren, aber aus einem Bewusstsein der Tradition. So berichtet er von der Schatzsuche nach Titeln in Grenznähe und „unvergesslichen Videothekenbesuchen, wo man auch offiziell nicht zugängliche Sachen bekommen konnte“. Sehr früh habe er erkannt, dass auch und gerade das offi­ziell Abseitige wertig sei.

Eine Fernsehreihe wie „Der phantastische Film“, in der Horrorfilme der 60er-Jahre, etwa die Dracula-Filme mit Chris­topher Lee, erstmals im Fernsehen gezeigt wurden, „hatte eine Bildungsfunktion, das war eine Generationen-Erfahrung – das waren die Filme, auf die man sich gefreut hat“. Weil weiterführende Informationen in einer Bundesrepublik ­ohne Internet, vernünftige Filmlexika und ausreichend Literatur kaum verfügbar waren, schnitt Stigl­egger wie ­viele andere Programmhinweise aus der Fernsehzeitschrift aus.

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So kam er zur Liebe zum Genrekino und dessen tieferer Bedeutung: „Im Prozess der Modernisierung reflektiert Genrekino das Verdrängte und tiefenpsychologische Ängste.“ Roman Polanskis „Rosemarys Baby“ verbindet den Ernst des Problemfilms mit der Darstellungslust und dem Spielerischen des Genres. Hier setzte das moderne Horrorkino ein: „Schwangerschaftsängste wären ­eigentlich der Stoff für Bergman-Filme.“

Der legitime Erbe dieses Ansatzes war dann William Friedkin mit „Der Exorzist“: „Ein Modernist, der von der Literatur kommt, ein gebildeter Regisseur, ein Proust-Verehrer, der dann sagt: Ich bin kein Christ, aber ich drehe diesen jesuitisch-christlichen Horrorstoff und drehe ihn mit nahezu dokumentarischen Mitteln im ganz großen Stil. Und das Ergebnis war einer der erfolgreichsten Filme jener Jahre.“

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Andererseits war New Hollywood nur das eine. Parallel dazu gab es den Indie-Film, Regisseure wie George Romero, die das Horrorgenre zum Gesellschafts­modell erweiterten: Vietnamkriegs-Erfahrungen, der Watergate-Skandal, die Morde an den Kennedys, an Malcolm X und Martin Luther King gaben den Anlass für attraktive Paranoiafilme wie „The Crazies“, aus denen der moderne Zombiefilm entstand. „Das wurde auch in Deutschland instinktiv verstanden. Diese Art von Horror war so erfolgreich, dass man in den Kinos Klappstühle dazustellen musste. Heute gar nicht mehr vorstellbar. Die 70er-Jahre-Filme haben einen Nerv der Gesellschaft getroffen.“

Die Serien der Gegenwart greifen auf die 70er- und 80er-Jahre zurück. Und so auch das Kino: „Der französische ,Raw‘ ist ein Teenager-Coming-of-Age-Kannibalen-Film. Oder die subtilen, aber perversen Horrorfilme des Griechen Giorgos Lanthimos, die total verdrehte Familien vorführen, die Logiken von Opferprozessen.“ Das könne man aus dem Zusammenbrechen von traditionellen Familien­strukturen herleiten.

So spiegeln Filme die Gegenwart und weisen auf kommende Verhältnisse voraus. In Stigl­eggers Texten kann man darüber viel erfahren.

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