Ein Käpt´n wird Pirat

Die berühmten Piratensender der sechziger Jahre hatten einen Ahnen: Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg unterlief ein findiger Herr namens Leonardo F. Plugge das behäbige Radioprogramm der BBC. Er wurde zum ersten Piraten der europäischen Radiohistorie.

Geboren wurde er in England im Jahr 1889, die eigentliche Story des Mr. Plugge aber beginnt im Jahr 1930 an der französischen Atlantikküste. Genauer: in dem kleinen Fischerstädtchen Fecamp in der östlichen Normandie. Der Sohn eines Niederländers und einer Engländerin interessiert sich seit langem schon für die spannende neue Welt des Radios. Nachdem er im Ersten Weltkrieg in der Royal Air Force als Pilot gedient – aus dieser Zeit bleibt ihm der lebenslange Spitzname „Captain“ – und später als beratender Ingenieur für die Londoner U-Bahn gearbeitet hatte, heuerte er als Vertreter bei Philco, einem der führenden Unternehmen der jungen Elektroindustrie an. Dort wurden Radioapparate hergestellt – und Plugge erkannte schnell die Möglichkeiten des kommerziellen Rundfunks.

Bereits 1925 war er auf die Idee gekommen, eine Sendung durch einen Sponsor finanzieren zu lassen. Er überzeugte die Geschäftsführer des berühmten Londoner Kaufhauses „Selfridge’s“ in der Oxford Street, ihm die Produktion einer viertelstündigen Sendung zum Thema Mode zu ermöglichen, die vom Pariser Eiffelturm nach England gesendet werden sollte. Ein Meilenstein in der europäischen Radiogeschichte, und ein Flop, der sangund klanglos im Äther verschwand: Ganze drei Zuhörer, so ist es überliefert, hörten die Sendung, für die Plugge zuvor keinerlei Werbung machen konnte.

Fünf Jahre später, an einem regnerischen Nachmittag des Jahres 1930, stoppt er auf einem Festlandausflug in Fecamp. Neben dem Fischhandel ist das französische Städtchen für den Kräuterlikör Benedictine bekannt, der dort nach einem alten Rezept hergestellt wird, das Mönche im 16. Jahrhundert erdacht haben. Inzwischen betreibt die Familie Legrand die Produktion des Getränks. Während seines Aufenthalts im Dorf erfährt Captain Plugge, dass Fernand Legrand nicht nur der Chef des Unternehmens ist, sondern auch ein begeisterter Funk- und Radioamateur, der in einem der Salons seines Anwesens auch einen kleinen Sender installiert hat. Das Interesse des Captains ist geweckt, und umgehend nimmt er Kontakt zu dem Schnapsfabrikanten auf.

Man lernt sich kurz darauf kennen, und der Hausherr verrät Plugge, natürlich bei einer Flasche Benedictine, dass er zu seinem privaten Vergnügen drahtlosen Kontakt mit Freunden im gut zwanzig Kilometer entfernten Le Havre hält. Dabei, so berichtet Legrand, hat er mit Hilfe seiner Sendeanlage sogar schon für einen Bekannten ein Paar Schuhe verkauft. Schnell kommen die beiden Männer ins Geschäft. Plugge vereinbart mit Legrand, dass er für zweihundert Francs die Stunde dessen Anlage benutzen darf, um damit Programme nach England zu senden. Nach seiner Rückkehr nach London gründet Plugge im März 1931 die International Broadcasting Company und bezieht Büros in 11 Hallam Street, gelegen in direkter Nachbarschaft zum nagelneuen Sendegebäude der BBC, wo er nun werbefinanzierte Programme produzieren lässt. Seit 1927 aber hat die BBC das Sendemonopol auf der Insel. Sie ist – ähnlich dem heutigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk – gebührenfinanziert, und die Nutzung von Radiowellen steht unter der Hoheit des britischen Postministeriums, das grundsätzlich keine Sendelizenz an Privatleute erteilt. Plugge kann dieses Handycap nur umgehen, indem er aus dem benachbarten Ausland, zum Beispiel Fecamp, sendet. Ferdinand Legrande besucht den Captain in London, und die beiden verabreden, dass der Franzose am 29. Juni eine Testsendung in Fecamp losschickt, damit Plugge die Empfangsqualität überprüfen kann. Das Ergebnis kann sich hören lassen. Als erste echte Sendung wird am 11. Oktober ein Musikprogramm über den Kanal gesendet, und bald darauf, im November, hat Captain Plugge sein Ziel erreicht: Via Äther kommt die erste Ausgabe der „Philco Slumber Hour“ über die Briten. Das von Plugges Arbeitgeber gesponserte englischsprachige Programm wird aus einem umgebauten Stall in Fecamp gesendet.

So weit, so gut. Nur hat das Ganze einstweilen noch einen Haken, denselben, den schon die Sache mit der Modesendung vom Eiffelturm hatte: Kein Mensch in England weiß von der IBC und ihrem Programmangebot. Öffentlichkeit muss her. Plugge versucht, die englische Presse für seine Sache zu interessieren. Man zeigt ihm die kalte Schulter, lediglich der „Sunday Referee“ druckt seinen Programmhinweis, inklusive Sendezeit und Angabe der Frequenz. Die Sache spricht sich überraschend schnell herum. Innerhalb von wenigen Wochen verdoppeln, ja, verdrei- und vervierfachen sich die Zuhörerzahlen, bald schon ist das in Monsieur Legrands Salon gegründete Radio Normandy in aller Munde. Der „Sunday Referee“ startet einen „International Broadcasting Club“, dem in kürzester Zeit beeindruckende 250.000 Mitglieder beitreten. Captain Plugge baut sein IBC-Netzwerk unermüdlich aus. Immer mehr Stationen findet er auf dem Festland. Er kauft ihnen Sendezeit ab und strahlt seine Programme bald täglich nach Großbritannien aus. Bereits 1932 nutzt er Sendeanlagen in Frankreich, Spanien, Belgien, Italien, der Schweiz und Luxemburg, sogar in Ljubljana. Sein Erfolg verschafft ihm Respekt. Als es ihm gelingt, mit seinen Sendungen maßgeblich zum Erfolg des neuen Jaguar-Sportwagens SSI beizutragen, indem er die Werbebeiträge des renommierten Autohändlers Henleys sendet, nehmen ihn auch diejenigen ernst, die seine IBC und ihre Werbung bisher verlacht haben. Durch die Zusammenarbeit mit der Industrie schafft IBC zwangsläufig auch neue Geschäftsfelder für die Tonaufzeichnung. Denn die einzelnen Bestandteile der IBC-Sendungen werden auf großen 78er-Platten mit 16 Inch Durchmesser gepresst und zur späteren Ausstrahlung nach Frankreich geschafft – darunter natürlich auch die eingesetzten Werbejingles. Genauso wie die Musik müssen sie aber erst produziert werden. Plötzlich sind in England Schallplattenfirmen wie Columbia oder Grammophone Company nicht mehr die einzigen Nutzer der wenigen vorhandenen Aufnahmestudios. Der geschäftstüchtige Captain erkennt die Verdienstmöglichkeit und beginnt, interessierten Firmen und Werbeagenturen geeignete Aufnahme- und Produktionsmöglichkeiten für ihre Werbesendungen anzubieten und zu vermitteln, inklusive der nötigen Man-Power. Wie clever Plugge bei der Vermarktung seiner Idee vorgeht, zeigt der Umstand, dass er sich schon lange bevor der Begriff gebräuchlich wird aufs Crossmarketing versteht: Mit dem „Radio Pictorial“ gründet er eine eigene Zeitschrift, die sich der Verbreitung des Programms von Radio Normandy widmet. Natürlich bietet er seinen Werbepartnern darin jede Menge Raum für bezahlte Anzeigen.

Zudem lässt der findige Senderchef für seine Firma insgesamt drei mobile Aufnahmewagen anschaffen, um damit speziell für IBC veranstaltete Shows aufzuzeichnen. So entsteht die ab Mitte der dreißiger Jahre in Großbritannien sehr beliebte „Radio Parade“, ein Programmformat, mit dem Plugge der Konkurrenz von der behäbigen BBC wieder einmal voraus ist. Spätestens da, es ist die Glanzzeit von Radio Normandy, haben IBC-Moderatoren echten Star-Status erlangt. Die Namen von Sprechern wie Roy Plomley oder Bob Danvers-Walker kennt bald jedes Kind im Königreich, zudem spannt der Captain Prominente wie zum Beispiel den Music-Hall-Star Gracie Fields ein, die vielen der IBC-Werbespots ihre Stimme leiht. Ende der dreißiger Jahre hat sich die IBC als ernsthafte Programm-Konkurrenz der BBC etabliert.

1939 fährt der Zweite Weltkrieg sowohl der BBC wie auch Captain Plugge in die Parade – unbarmherzig und radikal. Schon am 3. September, als das Königreich Hitlerdeutschland den Krieg erklärt, beendet die BBC alle regionalen und landesweit ausgestrahlten Programme und stellt um auf ein „Home Service“ genanntes Kriegsprogramm. Das besteht ausschließlich aus Nachrichten, ernster Musik von Schallplatten und einem Theaterorganisten namens Sandy MacPherson, der mit seinem Georgel bis zu zwölf Stunden am Tag die Lücken zwischen Nachrichten, Ansagen und gelegentlichem Schallplatteneinsatz füllt. Erst Monate später erweitert man zögernd das Spektrum, nachdem Tausende Hörer ihrem Unmut mit Protestbriefen Luft verschafft haben.

Radio Normandy versucht zunächst noch als „Sender hinter den Linien“ den Betrieb aufrecht zu erhalten und ein spezielles Programm für die Truppen zu senden. Bald aber beschränkt sich IBC auf die Ausstrahlung leichter Unterhaltungsmusik und weist viertelstündig darauf hin, dass „ein neuer Dienst eingerichtet“ werde. Kein Wunder, denn die Radiomacher auf dem Kontinent bekommen seit Kriegsbeginn aus England keine vorproduzierten Sendebausteine mehr geschickt. Im Laufe des Jahres 1940 bricht Plugges Sendernetz zusammen, zum Teil werden die Sender von den Regierungen der entsprechenden Länder beschlagnahmt, zum Teil von der Wehrmacht einkassiert. Bald muss auch der Sender in der Normandie unter dramatischen Umständen aufgeben. Die Legende berichtet, dass Bob Danvers-Walker, eine der bekanntesten Stimmen von Radio Normandy, mit seiner Frau noch gerade im letzten Zug aus Fecamp entkommen konnte, bevor Hitlers Truppen in das Küstenstädtchen einmarschierten – mit einem Fahndungsfoto und allen wichtigen Informationen über den Journalisten im Marschgepäck.

Plugge, seit 1935 für den Bezirk Chatham, Kent, als Konservativer im Unterhaus, konnte den Untergang seines kleinen Imperiums nicht aufhalten. Zwar plante er, den Betrieb des Senders in Friedenszeiten wieder aufzunehmen, als es aber endlich so weit war, hatte sich zuviel verändert, unter anderem auch ein paar gesetzliche Vorschriften. Die International Broadcasting Company indes existierte auch nach dem Krieg weiter, und zwar als Betreiberin des wohl erfolgreichsten unabhängigen britischen Tonstudios. Es war untergebracht im alten Firmensitz von IBC in London, 35 Portland Place, und viele Popstars der sechziger und siebziger Jahre, darunter Beatles, Rolling Stones, Jimi Hendrix, The Who und Elton John, nahmen hier epochale Alben auf. Plugge wanderte nach dem Krieg nach Kalifornien aus, wo er 1988 im gesegneten Alter von 98 Jahren verstarb.

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