Ein spätes Mädchen

EIN BISSCHEN FÜHLT SICH DAS Interview wie Kasperletheater an. Nicht dass es eine alberne, übertriebene Show wäre oder kindisches Herumgehampele. Nein, es liegt vielmehr an Justine Electras ganz natürlichem Unterhaltungstalent. Sie ist eine Geschichtenerzählerin. Selbst von sich, von ihrem eigenen Lebensweg, spricht sie in erinnerten Dialogen – wie für ein Hörspiel. Für alle imaginären Sprechrollen verstellt Justine die Stimme, reißt die Augen weit auf oder kneift sie zusammen: Da gibt es Indie-Label-Bosse, befreundete Ambient-Tüftler, die australische Verwandtschaft oder Techno-DJs in Berliner Clubs. Alle, die so vorkommen müssen, wenn es um ihre Karriere geht. Eine Karriere, die jahrelang in der Elektro-Subkultur feststeckte, plötzlich in Schwung kam und dann so seltsam holprig ins Leere lief. Wo sie die vergangenen sieben Jahre gewesen ist, frage sie sich selbst, sagt Justine. So lange ist es her, dass ihr hochgelobtes Debütalbum „Soft Rock“ erschien. Die eigenwillige Mischung aus akustischem Folk und elektronisch knisternder Großstadtmusik, die die Australierin mit Wohnsitz Berlin vorlegte, begeisterte damals digitale Musikkenner ebenso wie Lifestyle-Magazine, Feuilletons und britische Szeneblogs.

„Unglaublich, wie viele Leute damals über mich geschrieben haben. I was in fucking ‚GQ Style‘ and everywhere. Und dann ist irgendwie alles schiefgelaufen“, sagt Justine Electra schulterzuckend. Passend dazu plappert die 33-Jährige einen ihrer herrlich unbedarften, halbironischen Monologe über den Tisch hinweg: „Aber, aber, aber – meine Karriere“, piepst sie mit Kleinmädchenstimme und lächelt schief. Das habe sie 2006 ständig gedacht, als nichts zusammenpassen wollte -zu wenig Promo-Termine, eine geplatzte Tour, Ärger bei den Bandproben. Jetzt erscheint endlich ihr zweites Album, „Green Disco“. Diesmal ohne Plattendeal. Nur mit der Hilfe von Musikerfreunden.

Wir sitzen in einem hellen Eckcafé in Neukölln. Um uns mampfen hippe Hutträgerinnen und Sneaker-Jungs glasierten Apple Pie. Justine Electras Wohnung mit dem kleinen Wohnzimmer-Heimstudio ist nur wenige Fahrradminuten entfernt. Sie spricht gut Deutsch – nur flüchtige Dativfehler, das rollende ‚R’und hart knackende ‚Ck‘ verraten ihre Muttersprache. Manchmal fällt sie für Sekunden ins Englische zurück, wechselt aber sofort wieder in die Sprache ihrer Wahlheimat. „Neukölln“, findet sie, „fühlt sich noch ein bisschen an wie Mitte in den Neunzigern.“

Nach eben jenem Sehnsuchtsort also, der sie so magnetisch anzieht, als sie mit 19 ihre Koffer packt und die sonnige Vorstadtheimat bei Melbourne hinter sich lässt. Tief taucht sie Ende der Neunziger in dieses Berlin der Grenzenlosigkeit, der künstlerischen Freiräume und hedonistischen Clubkultur ein. Szeneleben Berlin-Mitte: Sie arbeitet mit experimentellen Klangfricklern wie Bernd Jestram von Tarwater -„mein großer, weiser Mentor“ – und Schneider TM zusammen und macht sich einen Namen als Techno-DJane im Umfeld des Labels Sonar Kollektiv. 2002 singt sie für Hanno Leichtmanns Projekt Static über die knarzenden, rauschenden Elektro-Hallschleifen seines Postrock-inspirierten Debüts „Eject Your Mind“.

So mittig hätte es ewig weitergehen können. Doch in ihren eigenen Songs holt Justine die Folk-Gitarre ihrer Jugend heraus, schustert sie mit Singer/Songwriter-Popmelodien, frechem Klaviergeklimper, Geräuschfetzen und Elektrosamples zu einem eigenen, unangestrengt ineinanderfließenden Pop-System zusammen. „Natürlich bin ich ein Multi-Kulti-Mädchen“, sagt sie. „Everything goes – mit diesem Denken bin ich aufgewachsen. Und die internationale Szene in Berlin hat mich darin nur noch bestärkt.“ Ihre Stimme verbiegt sie von Anfang an, wie es ihr gerade passt: mal flüsterzart, mal unmittelbar und hell, laut anschreiend gegen die knirschenden Noise-Orgien oder verschroben schief. Ungebunden und wandelbar streift Justine Electra durch ihre Lieder – wie ein unruhiger Geist auf der Suche. Gehetzt wirkt es trotzdem nicht.

Eigentlich, sagt sie, habe sie immer daran geglaubt, dass die Leute ihre Musik lieben würden. Manchmal habe sie das Gefühl, dass die merkwürdig verschachtelten Hierarchien des Musikbusiness ihr den Erfolg verstellt hätten. „Dieses Hinauszögern und Planen, Verkaufsstrategien und Promo-Konzepte, das hat mich alles verrückt gemacht.“ Seit 2003 hätte sie jedes Jahr ein Album herausbringen können – mehr als 300 Songs warten unangetastet auf der heimischen Festplatte. „Als Techno-DJ war alles so angenehm simpel: Du legst auf, die Leute tanzen sich den Arsch ab und du wirst für die nächste Party gebucht“, sagt sie und schiebt sich ein Stück Birnenkuchen in den Mund. Ihre Singer/Songwriter-Laufbahn ist irgendwo auf halbem Weg stecken geblieben.

„So richtig“, glaubt Justine Electra, „habe ich einfach nicht zu meinem alten Label City Slang gepasst.“ Nicht zur Agenda der erzählerischen, handgemachten amerikanischen Gitarrenmusik. Und nicht in die Künstlerliste, die vom Alternative Rock der Lemonheads und Built To Spill, über Avantgarde-Lärm von Boss Hog und Konzeptrock von Tortoise reicht, bis hin zum Americana-Sound von Lambchop oder Calexico. Vom großen Interesse an ihrer so ganz anderen Musik war Label-Chef Christof Ellinghaus, so erzählt Justine Electra es, damals gleichzeitig freudig überrascht und irritiert. „Ich habe ja schon damals bei Konzerten einfach eine CD mit Backing-Tracks in den Player geworfen und drauflos gesungen. Ich glaube fast, das hat die Leute vom Label richtig empört“, erzählt sie. Ihre Musik habe ihren Ursprung aber nun mal auch in der künstlichen Erzeugung – in Laptop-Programmen, Beat-Sampling und Sound-Schleifen. „City Slang wollten richtige Instrumente auf der Bühne.’Echte Musik‘, so wie bei Lambchop. Männermusik. Vielleicht haben sie einfach auch nicht verstanden, wie ich mit meiner Mädchenmusik ticke.“

Ebenso wie sein Albumvorgänger ist „Green Disco“ die Art von Mädchenmusik, die sich Männer anhören sollten, um besser zu verstehen, was in den Köpfen ihrer Liebsten vorgeht. Denn Justine Electra ist bei aller Spleenigkeit auch ein typical girl. Sanft klingt sie und widerspenstig, selbstzweiflerisch und aufsässig. Dem grausamen Trennungsschmerz von „This Could Be The Most Beautiful Noise“ folgt zugleich eine zuckersüß-euphorische Liebeserklärung im wunderbar schräg intonierten Gesangsstück „Petting Zoo“ oder die versponnenkryptischen Aufmunterungsparolen in „Great Skate Date“:“Lick light lighter/Loll lie lift life/Leave love like lake/Look leap“, trällert sie da über eine federnde Pianomelodie und einen reduzierten Drumbeat aus dem Computer. In „Boozy Shoes“ rattert sie als Sprechgesang eine ironisch anmutenden Karriere-To-Do-Liste herunter:“To sell my songs compositions and words to famous artists like Pink, Britney and Chrissie Aguilera/ To dj big venues“.

„Green Disco“ ist ein eigentümlicher, nie aber überladener Mix aus Folkpop, sphärischen Elektro-Loops, Field Recordings und Spielzeug-Gedudel. Akustikgitarrenbegleitete Ballade reiht sich an gesampeltes Störsignal und HipHop-Beat. Nie ist es zu wenig, zu einfach. Zugänglich bleibt es bei all dem kauzigen „Anything and Everything“-Mashups zuallererst wegen der schönen Melodien, deren Pop-Appeal nie einem avantgardistischen Eklektizismus weicht. Überhaupt wirkt Justine Electras Musikkonglomerat nicht angestrengt oder bemüht originell. Auf eine erfrischend natürliche Art scheren sich ihre Songs einfach um keinerlei Genregrenzen. Wie schon auf dem ersten Album hört man den Freigeist Justine Electra aufscheinen, der hier am Werk ist und seine Fühler in alle Richtungen ausstreckt. „Ich stehe überhaupt nicht darauf, meine Musik in irgendeine spezielle Genre-Sonderkiste einzusperren. Ich verstehe noch nicht einmal die Logik hinter dieser Art von Separatismus“, sagt sie und schiebt einen ihrer drolligen Justine-Gedanken hinterher, der weniger als esoterische Hippie-Parole gemeint ist, als er vielleicht klingen mag:“Wie können wir die Welt heilen, wenn wir alle in unseren kleinen Kisten sitzen?“ Weltfrieden hin oder her – Justine Electras musikalisches Programm ist vor allem deshalb zeitgenössisch, weil es sich sowohl aus einer konsequent subjektiven Perspektive herleitet als auch aus dem kollektiven Allerlei des Global Village. Individualismus und Culture Clash.

Viel zu tun hat das aber auch mit ihrem musikverrückten Vater, der in seiner riesigen Plattensammlung unterschiedlichste Musikstile zusammentrug: „Mein Dad war verrückt nach Platten. Er sammelte alles: Miriam Makeba und Paul Simon, Bob Dylan und The Beatles, italienische Opernmusik und Dark-Wave von Bauhaus, Tangerine Dream und Kraftwerk, die Pet Shop Boys und Tina Turner“, erinnert sie sich. Einmal habe er der achtjährigen Justine Micheal Jacksons „Thriller“, ordentlich auf eine Kassette überspielt, mit auf den Schulweg gegeben.

Ihr Vater ist Australier, ihre Mutter Deutsche und sie trägt den prächtigen Vollnamen Justine Carla Electra Beatty. Ihn verdankt sie einer Vision, die ihre Mutter Helga angeblich nach 50 Stunden Geburtswehen überkam: In leuchtenden Großbuchstaben werde der Name ihrer Tochter eines Tages am Broadway prangen: „Electra! On Broadway! Tonight!“, schreitet die Musikerin den imaginären Schriftzug nachahmend ab wie einen Werbeslogan. Sie lacht, wechselt dann aber doch lieber schnell das Thema und redet über das Kraftwerk-Album „Radio-Aktivität“ von 1975, über das sie beim Gesangs- und Kompositionsstudium später ihre Abschlussarbeit schrieb – jenes Album also, das die Abkehr vom Krautrock hin zur Künstlichkeit des Elektro-Pop markierte. Die Verbindung von Pop und elektronischen Sounds habe sie schon immer fasziniert.

Wie „eine Karriere auf Standby“ habe sich ihr Leben in den vergangenen Jahren angefühlt. „Ich wollte überhaupt keine Musik mehr machen – als wäre ich schon ein alter, ausgebrannter Hase.“ Aber letztlich liebe sie das, was sie tue, einfach zu sehr, um ernsthaft ans Aufhören zu denken. Sie fing ein Multi-Media-Studium an, produzierte Filmmusik. Für Tilmann Künzels Dokumentation über den Berliner Club Tresor „Sub Berlin – Underground United“ steuerte sie 2009 den Song „Nippon Darkness“ bei, der jetzt auch auf „Green Disco“ zu hören ist. Es ist eine verhuschte Version von Bonnie ‚Prince‘ Billys „I See A Darkness“: Mantra-artig wiederholt, stolpert eine simple Piano-Akkordfolge vorwärts, ein hölzernes Xylofon plinkert, es klopft und zischt von allen Seiten. Dazu Justine Electras feiner Säuselgesang.

Jetzt, beim späten zweiten Album, hat sich ihre Perspektive etwas mehr Richtung Optimismus verschoben. Was zwei Gründe hat: Vor drei Jahren wurde ihr Sohn Jay Jay, geboren. Und unter ihrem hellen Kleid kündigt ein praller Babybauch bereits das Zweite an, das Ende des Jahres zur Welt kommen soll. Einigen Songs hört man das durchaus an: Durch „Petting Zoo“ etwa trötet ein Kinder-Keyboard verzerrte Tierlaute. „Like a schnubbly little kitten“, singt sie dazu.

„Green Disco“ ist intim und nah, fragil und tapfer – ungeschützt breitet Justine dort ihre Welt aus. Die Loops, Geräusche und Ambient-Beats sind dabei kein hipper Beiklang, sondern effektvolle Hilfsmittel für große, gefühlvolle, moderne Folksongs. „And it’s actually true/When you look into space/There are men with great homes/They have hearts just like you“, singt sie in „Bagpide Serenade“ über ein leierndes, surrendes Dudelsack-Sample, das sich hypnotisch ins Gehör schraubt. Das archaische Instrument erzählt Geschichten vom weiten Meer und Wind, von Liebe und Einsamkeit. Hymnen einer alten Zeit, in deren Unterbau es bei Justine Electra aber längst technoid flirrt.

Justines Lo-Fi-Musik trägt immer beides in sich: Tagträumerei und raue, spröde Realität. Unter den ätherisch-fließenden Melodien raschelt es kratzig. Am deutlichsten hört man diese Ambivalenz zwischen außen und innen in der Gitarrenballade „This Could Be The Most Beautiful Noise“, über deren anrührende Gesangsmelodie immer wieder Störgeräusche hereinbrechen: verzerrtes Geschrammel, kalt und metallisch, das klingt wie Maschinendröhnen, Rückkopplungen und Satellitenrauschen. Warm und tröstend ist es bloß im Inneren des Songs. Justine Electra sperrt das Laute, das Dreckige aber nicht aus, sondern lässt es in ihre Musik hinein, um damit zu spielen.

Schräg mag es klingen, dieses musikalische Abschreiten widersprüchlicher, großstädtischer Erfahrungsräume. Nie aber ist es unaufrichtig. Und immer herrlich mädchenhaft.

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