Eric Pfeils Pop-Tagebuch: 200 Jahre „Macarena“

Dies ist die 200. Ausgabe meines Pop-Tagebuchs. Sie mögen es mir daher bitte verzeihen, wenn es diesmal etwas selbstreferenzieller zugeht.

Folge 200

Als ich vor 61 Jahren mit dieser Kolumne begann, war dort, wo sich heute blühende Poplandschaften befinden, karstiges Brachland. Niemand grüßte den anderen. Die Welt war ein in schwarzweiß ausgestrahltes Grau. Die Beatles gingen noch zur Schule. Ringo hieß zu diesem Zeitpunkt noch Ingo, das „R“ addierten seine Berater erst später aus Coolnessgründen dazu. Seither hat die Popmusik zahlreiche Erneuerungen, Durchwirbelungen und Häutungen erfahren.

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In all diesen Jahren lag ich mit meinen messerscharfen Analysen des Musikbetriebs meistens richtig. Manchmal aber auch nicht. Zwar habe ich HipHop, Hamburger Schule und den „Macarena“-Song vorhergesehen. Allerdings habe ich auch in einer Ausgabe des Pop-Tagebuchs aus dem Jahr 1980 prognostiziert, dass New Romantic größer wird als Woodstock und Punk zusammen, was sich nur bedingt bewahrheiten sollte.

Fans wollen keine Scherze auf Kosten ihrer Idole

Auch wenig erfolgreich waren meine Aufrufe, besonders enervierende Bands zwangsaufzulösen und zu jahrzehntelanger Gartenarbeit in den elterlichen Blumenbeeten und Balkonblumenkästen verdonnern zu lassen. Jetzt schreiben wir das Jahr 2020, und Pearl Jam veröffentlichen neues Material.

Doch Obacht mit solchen Verhohnepipelungen! Der Fan schätzt keine Scherze auf Kosten seiner Idole. Nicht umsonst leitet sich das Wort „Fan“ von „fanatism“ ab. Vor Jahren schrieb ich mal etwas Unterbegeistertes über den Gitarristen Steve Hackett. Danach lauerten mir Anhänger des Musikers monatelang hinter Altglascontainern auf. Einige Hackettianer griffen gar zum Äußersten und folterten mich, indem sie mir Passagen aus dem Spätwerk des Künstlers vorspielten.

Ich denke, man sollte ein gewisses Maß an Spott aushalten müssen. Ich bin das als Fan von Bob Dylan gewohnt: kann nicht singen, Mundharmonika, hasst sein Publikum usw. usf. Alles langweilig!

Der Punkt ist: Die besten Witze über seine Lieblingsmusiker sollte man selbst machen. Das hält lebendig, immunisiert gegen die schlechten Witze anderer und sei allen freundlichen Menschen an dieser Stelle empfohlen.

Abschied und Tod

Worauf ich zu Beginn meiner Tätigkeit als Kolumnenheini nicht vorbereitet war: dass es im Pop mehr und mehr um Abschied und Tod gehen würde. Dabei liegt es in der Natur der Sache. Die Jugendkultur kommt in die Jahre – und damit ihre prominenten Protagonisten. Ich könnte aus dieser Kolumne inzwischen ein Kondolenzbuch machen, da es fast jede Woche höchst bedauerliche (und oft wie im wirklichen Leben: vorzeitige) Abgänge gibt. Ich habe mich allerdings bewusst dagegen entschieden, hier meine Heldinnen und Helden allzu ausgiebig zu verabschieden, weil ich keine Lust habe, zum popkulturellen Trauerredner zu werden. Ich freue mich lieber lautstark an jenen, die noch da sind.


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Und sonst? Mal ist man restlos begeistert, mal weniger. Oft erscheint nichts öder als gegenwärtige Popmusik, oft braucht man ganz dringend einen Song, der alles verändert. Phasen autistischer Gesamtwerksdurchhörung seltsamer Zausel wechseln ab mit solchen, in denen bitte jeden Tag ein neuer Sack Pop umfallen und dabei das schönste Geräusch der Welt machen möge.

Was das Schreiben selbst angeht, so gibt es Perioden, in denen mir nichts, aber auch gar nichts einfällt. Oft schon habe ich erwogen, auf Landvermesser o.ä. umzusatteln, weil die Ideenarmut seit Wochen schon morgens am Frühstückstisch auf mich wartete. Doch es reicht oft ein Besuch beim Zahnarzt, der eine drollige Bemerkung zu irgendeinem Song im Radio macht, und – ZACK! – ist ein neuer Text da.

Mehr Güte, weniger Vollstreckungsgeilheit

Seit ich selbst Platten veröffentliche und auftrete, hat sich mein Schreiben verändert. Dazu kommt wohl das Älterwerden. Eine gewisse Güte hat sich eingeschlichen. Jegliche Vollstreckungsgeilheit liegt mir heute jedenfalls fern, auch wenn ich gemeinsamen Projekten von, sagen wir, Pearl Jam und Steve Hackett weiterhin skeptisch gegenüberstehe. Die Freude am Verriss, sie ist völlig dahin.

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Gleichwohl bin ich der Meinung, dass die Welt weiterhin gute Verrisse aktueller (!) Popmusik braucht, ich fühle mich in dieser Angelegenheit bloß nicht mehr zuständig. Mich interessieren vergurkte Neuerscheinungen einfach nicht mehr so. Lieber schreibe ich heute über vergessene Cowpunk-Platten, obskure Percussionisten oder über irgendetwas, was mein Zahnarzt über Sting gesagt hat.

Ich schließe hiermit und lasse Sie mit Ihrer Sektflöte hier auf der großen Sause anlässlich des 200. Pop-Tagebuchs allein. Es wird bestimmt noch ein toller Abend. Probieren Sie unbedingt diese vegetarischen Teigkringel da, die sollen toll sein. Gleich spielen auch noch Tame Impala. Ich muss jetzt wirklich los …

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