Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Der Geruch der Freiheit

Alkohol, Völlerei, Schleppen: Von Freud und Leid eines nicht mehr jungen Musikers, der mit einer Indie-Band auf Tournee geht


Folge 42

Im Zuge meines bescheidenen Wirkens als fahrender Sänger habe ich in den vergangenen Monaten, nachdem ich zuvor ausschließlich auf der berichterstatterischen Seite stand, selbst einige Einblicke in die Welt des Musikerdaseins erhalten. Ich fühle mich nunmehr verpflichtet, diese Eindrücke mit Ihnen zu teilen, auch auf die Gefahr hin, dass meine Beschreibungen des rockmusikalischen Alltags dafür sorgen, dass Sie fürderhin der Welt der langhaarigen Gitarren und ohrenbetäubend lauten Tätowierungen entsagen und sich stattdessen für, sagen wir, Münzensammeln oder tschechische Experimentalfilm-Soundtracks interessieren.

Beginnen wir mit der ersten Erkenntnis: Als tourender Musiker legt man rasch an Gewicht zu, zumindest in einem gewissen Alter. Der Grund: Man findet sich plötzlich in einem Umfeld wieder, in dem es als durchaus sinnstiftend erachtet wird, zum Zwecke der Nahrungsaufnahme Raststätten – und auf diesen Raststätten bevorzugt die Schnellgericht-Filialen – anzusteuern. Auch das Essen, das man in sogenannten Backstage-Bereichen vorfindet, trägt seinen Teil dazu bei, handelt es sich doch zumeist um die ganze bunte Vielfalt aus Schokoriegelhausen oder ein überschaubares Angebot an Brötchen mit Aufschnitt. Erwähnte ich schon den Alkohol, den man aus Langeweile trinkt? Irgendwer hat irgendwo mal gesagt, das Filmgeschäft bestehe größtenteils aus Warten. Nun, das Musikgeschäft besteht aus sehr viel Warten! Ständig wird da auf irgendetwas gewartet! Diese Warterei gilt es zu transzendieren, was im Falle sittlich eher nicht so gefestigter Menschen meist durch Alkohol zu bewerkstelligen versucht wird. (Manche Kollegen, wie etwa die Red Hot Chili Peppers, trinken nicht, sondern meditieren, machen Yoga oder essen übermäßig gesund, aber so ist das eben bei Leuten, die früher Heroin o. Ä. genommen haben). Jedenfalls: Wenn man die ganze ungesunde Ernährung auf einer Tournee ausgleichen wollte, müsste man ein fahrbares Fitnessstudio hinten an den Nightliner binden. Dafür müsste man aber erst mal einen Nightliner haben.

Eine weitere Erkenntnis: Wer als Mann Musik macht, um Frauen kennenzulernen, sollte eine andere Profession in Erwägung ziehen: Arzt vielleicht oder Löwendompteur oder Musikjournalist. Als Musiker lernt man nach Konzerten überwiegend Männer kennen. Die jedoch sehr gut, denn sie sind über alle Maßen mitteilsam und detailfreudig, wenn es um Kritik an Text und Ton geht. Immerhin: Besagten Männern ist relativ egal, wie man sich vor, während oder nach den Konzerten ernährt. Auch an fortgeschrittener Alkoholisiertheit nehmen sie keinerlei Anstoß.

Der schlimmste Punkt zuletzt: Wer sich mit einer Band auf Reisen begibt, muss sich vor allem auf Schlepperei einstellen. Wie oft wurde uns schon von Schaulustigen beim schweißtreibenden Umhertragen unserer überdimensionierten Retroverstärker die fröhliche Wendung „Ja, habt Ihr denn gar keine Roadies!?“ hinterhergerufen. Nein, haben wir nicht! Ich weiß nicht, wie oft ich schon die Bassdrum unseres Schlagzeugers die Treppen irgendwelcher Kellergewölbe hinaufgewuchtet und dabei wohl in den Augen der Umherstehenden jeden Glamfaktor verloren habe. Fassen wir es so zusammen: Wenn ich von unseren Tourneen zurückkomme, bin ich um etliche Kilo schwerer und vom Alkohol gezeichnet, und ich sehe aufgrund meiner verzogenen Rückenmuskulatur aus wie abstrakte Kunst.

Aber wissen Sie was? All das macht nichts. All die beschriebenen Unbilden werden völlig unbedeutend, wenn man endlich wieder mit dem viel zu voll gepackten kleinen Bus im Stau steht, den Geruch der Freiheit in der Nase hat, sich über die Ausgehmöglichkeiten in der Stadt Reutlingen austauscht und der Herr neben einem gerade ein hart gekochtes Ei isst. Diese delikaten Momente wiegen alle vermeintlichen Schrecken des Auf-Tour-Seins kleiner Indie-Bands mehr als auf. Und nur mal angenommen, dass man irgendwann wirklich keine Verstärker mehr schleppen kann: So schlimm sind Münzensammeln oder tschechische Experimentalfilm-Soundtracks auch wieder nicht.

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