Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Jenseits der Listen

Was in den Jahres-Charts leider keinen Platz hat: Abseitiges, Mainstream-Trash, Wiederentdecktes

Folge 128

Wann immer sich ein Musikjahr dem Ende entgegenneigt, gilt es für Musikhörer, Ordnung in die vorangegangenen Monate zu bringen. Diese Ordnung wird in der Regel in Form von Listen hergestellt, in denen man seine soundso vielen im jeweiligen Jahr erschienenen Lieblingsplatten versammelt.

Auch ich werde in diesen Tagen wieder diverse Top‐20‐Hitparaden einreichen. Doch es gibt auch immer einiges an Musik, das bei diesem Verfahren unberücksichtigt bleibt. Sei es, weil nur Alben abgefragt wurden und Singles somit keine Berücksichtigung fanden. Sei es, weil ein einzelnes auf einer Geht‐so‐Platte vergrabenes Wunderstück eben noch kein jahresbestenlistenwürdiges Album ergibt. Sei es, weil jede Top 20 auch einen Platz 21 hat. Aus diesem Grund soll es in diesem Eintrag um Musik gehen, die Gefahr läuft, im Zuge der Listenerstellerei an den popkulturellen Katzentisch des Jahres 2016 verwiesen zu werden.

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Ein klassischer Platz 21 wäre „The Valley Of Yessiree“ von A. Dyjecinski. Dies ist ein Album, das von Einsamkeit handelt – und das in Einsamkeit produziert wurde: Dyjecinski (Vorname Arthur) hat seine Songs in entlegenen Hütten geschrieben, später mit seiner 16‐Spur‐Maschine im Allein‐ gang aufgenommen und damit eine eigentümlich karge Welt erschaffen. Zu Dyjecinskis Helden zählen Neu!, Hank Williams, Charles Mingus, Skip Spence, Arthur Russell und Jason Molina. Fast alle diese Namen kann man heraushören, aber auch Fans von Bill Callahan oder Lambchop dürften hier glücklich werden.

In eine ganz andere Welt führt meine Lieblingssingle 2016: „Autogrill“ von Euroteuro feat. Ninjare di Angelo, ein herrliches Stück Electropop‐Trash aus Wien. Der Track passt denkbar schlecht zur Jahreszeit, handelt es sich doch um einen Sommerhit für alle Menschen, die gern mit dem Auto gen Italien fahren und stilvollerweise neben Kulturdenkmälern, gehobener Küche, Wein, Sonne, Meer und Lebensart auch italienische Autobahnraststätten zu den Highlights dieses wunderbaren Landes zählen. „Grappa a Autogrill/ Gelati a Autogrill/ (…)/ Wir fahren nach Italien, und alles, was ich will, ist Autogrill.“ Buone vacanze! Wo wir schon bei angetrashter Weißbrot‐Tanzmusik sind, muss auch lautstark die Rückkehr von Calvin Johnson, seines Zeichens Mastermind von Beat Happening, den Halo Benders und Dub Narcotic Soundsystem, gefeiert werden: Das Video zu „Hotter Than Hott“ begegnete mir im Sommer als Vorbote des Albums „The Party Is Just Getting Started“ und rangiert in diesem Haushalt auf Platz eins der Musikvideos‐des‐Jahres‐Liste. Es handelt sich hier um nicht weniger als die Apotheose des kostengünstig produzierten Tanzclips: Johnson – der mittlerweile ein wenig an den späten Bill Murray gemahnt – tanzt in einer großartigen Sequenz durch die Straßen seiner Heimatstadt, Olympia.

Einige meiner Lieblingslieder des Jahres 2016 stammen mal wieder gar nicht aus dem Jahr 2016, sodass ich mich nicht wundern darf, wenn sie von den Schrankenwärtern des Listenwesens rüde abgewiesen werden. Hier wäre etwa „Angie La La“ von Nora Dean zu erwähnen, die B‐Seite einer 1969 erschienenen Single. Ein Stück wie kein Zweites: Man stelle sich vor, der Dr. John der „Gris-Gris“‐Phase hätte beim Produzieren zu tief in die Voodoosuppe geguckt. Noch so eine olle Kamelle gefällig? „Harvest Home“ von Ronnie Lane’s Slim Chance sollte in allen Zahnarztpraxen laufen, die sich auf Angstpatienten spezialisiert haben – ich kenne kein Stück Musik, das größere Gelassenheit transportiert. Der Künstler aber, dessen Musik ich 2016 am häufigsten gehört habe, ist Bill Callahan. Von ihm ist in diesem Jahr keine Note neuer Musik erschienen.

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