Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Keinerlei Anlass zur Güte

Der Blick in die Vergangenheit ist eine Falle: Erinnerungen an das Pop-Jahr 1995, an Britpop, Scatman John – und einen Hit von Robson & Jerome

Folge 210

Wenn der Mensch vor lauter Gegenwart nicht mehr zum Atmen kommt, richtet er den Blick gerne in die Vergangenheit. Viele Leser dieser Kolumne dürften ihre popmusikalische Erweckung in den sogenannten Neunzigern erlebt haben und mit entsprechender Güte auf jene Ära zurückschauen.

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Dabei besteht zu solcher Güte keinerlei Anlass! Nehmen wir allein das Jahr 1995: gerade erst vorbei, so lange her, 25 Jahre. Zwar kamen 1995 einige Lieblingsalben Ihres Chronisten heraus (Guided By Voices’ „Alien Lanes“, Pavements „Wowee Zowee“, „Clouds Taste Metallic“ von den Flaming Lips und D’Angelos „Brown Sugar“), aber es gab eben auch den ganzen Rest, und der zeichnete sich durch lautstarke Daueranwesenheit aus. Die Musikindustrie, wie man sie kannte, stand damals schon kurz vor dem Kollaps; man tanzte bereits zur Auslaufrille, merkte aber nichts davon, weil die Drogen so gut funktionierten.

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Im Juni 1995 erschienen unter anderem Jamiroquais „The Return Of The Space Cowboy“, Alanis Morissettes „Jagged Little Pill“ und das Debütalbum der Bloodhound Gang. Drei Alben, zu denen man heute ganz vortrefflich im Bildatlas der schönsten Ziegenbärte und prachtvollsten Tätowierungen blättern kann. Der Grunge-Boom der frühen 90er-Jahre hatte die Industrie gut durchgerüttelt, aber man hatte schnell erkannt, dass Aufmüpfigkeit und Authentizität auch nur irgendwelche Zutaten waren, die man der Mainstream-Suppe als saisonalen Flavour unterrühren musste. Eigentlich hatte 1991 nur dafür gesorgt, dass 1995 mit seinen Rock-, Funk- und Songwriterpop-Aufgüssen wie ein zweites 1975 war.

Parallel dazu hob Britpop ab: „(What’s The Story) Morning Glory?“ erschien. Viele hörten aus Verzweiflung TripHop, andere fuhren den ganzen Tag Aufzug, stets in der Hoffnung, es werde vielleicht irgendetwas von Burt Bacharach laufen. Und sonst? Im Februar verschwand Richey Edwards von den Manic Street Preachers. Im August starb Jerry Garcia. Zu den großen Hits in Deutschland zählten „Eine Insel mit zwei Bergen“ von Dolls United, „Sie ist weg“ von den Fantastischen Vier und „Scatman (Ski-Ba-Bop-Ba-Dop-Bop)“ von Scatman John.

Man sollte das vorm Besteigen der Zeitmaschine bedenken. Ich selbst tat im Juni 1995 das Dämlichste, was man als 25-Jähriger im Juni 1995 tun konnte: Ich fiel vom Fahrrad und brach mir dabei beide Arme. Der Sommer war gelaufen. Vielleicht rührt auch daher mein so wenig von Güte geprägter Blick auf jenes Jahr. Da saß ich nun also in meinem WG-Zimmer und hörte „Wowee Zowee“. Das Pop-Jahr 1995 scheint jenseits der oben angerissenen Ereignisse, Moden und Fahrradunfälle 25 Jahre später immer noch sonderbar unerforscht. Wie sonst könnte man erklären, dass wohl kein Leser dieser Kolumne ohne nachzuschauen sagen könnte, welches das erfolgreichste britische Album jenes Jahres war.

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Nein, nicht „Morning Glory“, auch nichts von Blur, Massive Attack oder die im November 1995 veröffentlichte „Anthology 1“ von den Beatles. Das erfolgreichste britische Album des Jahres 1995 ist das namenlose Debütalbum des Duos Robson & Jerome. Bei Robson & Jerome handelt es sich um die beiden Schauspieler Robson Green und Jerome Flynn, die zu jener Zeit durch die Serie „Soldier Soldier“ große Popularität in ihrem Heimatland genossen. Nachdem die beiden im Rahmen der Serie den Righteous-Brothers-Klassiker „Unchained Melody“ gecovert hatten, befand der RCA-Executive Simon Cowell, dass ein Album hermüsse, und beauftragte die Produzenten Stock und Aitken mit der Zusammenschusterung. Wie hoch der Gesangsanteil der beiden Mimen am fertigen Album war, ist bis heute strittig. 2006 wählte das Magazin „Q“ das Werk zu einer der schlechtesten Platten aller Zeiten. Der Verkaufsrekord von „Robson & Jerome“ wurde erst 2015 von Adele eingestellt.

Was ist festzuhalten? Wer über Britpop spricht, muss auch über Robson & Jerome sprechen. 1995 war ein gefährliches Jahr für Pop und Radsport. Die Vergangenheit bleibt auch 2020 eine Falle. Und: Wir müssen demnächst dringend mal über das Pop-Jahr 2015 sprechen.

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