„Es geht um Solidarität“ – Die Filmregisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne im Interview

"Zwei Tage, eine Nacht" mit Marion Cotillard in der Hauptrolle ist einer der bewegendsten Filme des Jahres. ROLLING STONE hat die Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne zum Interview getroffen.


Eines der überraschendsten Film-Enden liefert in diesem Jahr kein Blockbuster aus der Hollywood-Fabrik, sondern ein kleiner Film aus Belgien: „Zwei Tage, eine Nacht“ von den Gebrüdern Dardenne ist einer der Filme des Jahres, weil er mit großer Präzision die Mechanismen der gegenwärtigen Arbeitswelt und die Folgen der europäischen Wirtschaftskrise analysiert und sie in eine zugleich berührende wie minimalistisch inszenierte Erzählung einbettet.

Der Film stellt die Gretchenfrage: Bin ich bereit, für ­einen finanziellen Vorteil die Existenz eines anderen aufs Spiel zu setzen? Etwas mehr als 48 Stunden hat Sandra, gespielt von der beeindruckenden Marion Cotillard, Zeit, um ihre Arbeitskollegen davon zu überreden, auf ihre begehrten Bonuszahlungen zu verzichten, damit sie ihren Job nicht verlieren muss. Sandra hatte mit Depressionen zu kämpfen und wird, als sie sich wieder gesund meldet, vor vollendete Tatsachen gestellt: Ihre Arbeit sei mit Überstunden anderer Kollegen ohne Weiteres aufgefangen worden, warum also sollte man nicht gleich auf sie verzichten. Nur der Vorstoß einer befreundeten Kollegin ist es zu verdanken, dass die eigentlich schon negativ für Sandra ausgefallene Abstimmung über ihren Verbleib in der Firma nur zwei Tage später wiederholt wird.

Die Filme der Gebrüder Dardenne zeichnen sich seit ihrem Debütfilm „Das Versprechen“ (1996) durch ihre zurückhaltende Alltagsdarstellung aus. Kaum Musik, wenige Handlungssprünge, ein überschaubares Figurenarsenal, ernsthafte moralische Fragestellungen – auf dem Papier wirkt die Inszenierung der Belgier spröde und unnahbar. Doch der dokumentarische Stil, der am humanistischen Kino De Sicas („Fahrraddiebe“), Bressons („Pickpocket“) oder Leighs („Nackt“) geschult ist, verstärkt die Konzentration auf die Leidenschaften und Probleme der Figuren. Diese Filmemacher verstecken nichts und sie verurteilen nicht. Ihre Geschichten handeln von der Würde des Menschen und dem steten und komplexen Kampf um die eigene Selbstbehauptung.

Bereits zweimal wurden die Dardennes auf den Filmfestspielen in Cannes mit der begehrten Goldenen Palme ausgezeichnet („Rosetta“, „L’Enfant“) – das schafften bisher nur die Regisseure Alf Sjöberg, Francis Ford Coppola, Shöhei Imamura, Emir Kusturica, Bille August und Michael Haneke.

Im Interview geben sich die Brüder unterschiedlich auskunftsfreudig, aber ausgesprochen reflektiert:

Wie sind Sie auf die Idee für Ihren Film gekommen?

LUC DARDENNE: Anfang 1990 hatte es bei Peugeot einen Zwischenfall gegeben, wo Arbeiter von verschiedenen Teams unterschiedliche Prämien bekommen haben. Bei dem Team, wo die Prämie geringer war, lag es daran, dass die Arbeit eines Mannes etwas weniger effizient war als die der anderen. Deshalb votierten seine Kollegen, als er gerade im Urlaub war, für seine Entlassung, damit in Zukunft ihre Prämie höher ausfallen würde. Das hat sich wirklich so ereignet. Es gab auch ähnliche Fälle in Belgien, Italien und England. Anfang 2000 gab es dann im US-Fernsehen eine Art Reality-Show („Someone Got Out“). Dort ging ein Kamerateam in kleine Betriebe ohne Gewerkschaften und wartete auf die Entscheidungen der Bosse, wer demnächst rausgeschmissen würde. Der Kick für die Zuschauer bestand also darin, zu sehen, wer rausgeworfen wird. Dieses Format wurde in Frankreich allerdings abgelehnt. Für uns war es aber eine Motivation, diesen Film zu machen. Wir hatten uns die Geschichte von einer Frau überlegt, die an einem Wochenende ihre Kollegen von sich überzeugen muss, dass sie nicht einfach so entlassen werden kann. Wichtig war vor allem, dass sie vorher krank gewesen ist, was es ihren Kollegen leichter macht, sich gegen sie zu entscheiden. Sie mussten ihr dann auch nicht ins Gesicht schauen bei der Entscheidung. Dadurch ist sie als Figur verletzlicher. Die Idee war nun, zu zeigen, wie sie ihre Ängste überwindet und eine neue Solidarität unter den Arbeitskollegen erreicht.

Manchmal macht es den Eindruck, als wären Ihre Filme ein moralisches Versuchslabor. Ging es Ihnen auch darum, zu zeigen, wie der Arbeitsmarkt die Menschen im Grunde moralisch gegeneinander ausspielt?

JEAN-PIERRE DARDENNE: Nicht nur unser Arbeitsmarkt ist so aufgebaut. Unsere ganze Gesellschaft in Europa oder den USA, wo die Hysterie der Konkurrenz immer mehr eingefordert wird, hat sich in diesem permanenten Konkurrenzkampf eingerichtet.  Solidarität ist ja nie von alleine gekommen, man hat immer um sie kämpfen müssen. Sandra versucht nun diese Solidarität neu herzustellen. Natürlich ist Solidarität immer auch eine moralische Frage, denn sie versucht Menschen dazu aufzufordern, sich in die Position anderer Menschen hineinzuversetzen. „Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Das sollte der Film auslösen: Wie würde ich mich verhalten, wenn ich Sandra wäre oder eine der anderen Figuren? Unser Film soll kein Gericht sein und schon gar kein Urteil fällen

Ihre Filme orientieren sich am klassischen Sozialdrama. Welchen Zusammenhang empfinden Sie zwischen Politik, Gesellschaft und Kino?

LUC DARDENNE: Für uns geht es immer darum, Situationen zu beschreiben. Dabei stehen einige Figuren im Zentrum. Meistens sind diese Figuren einigen Zwängen ausgesetzt oder werden unterdrückt. Dann geht es darum, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen. Meistens spüren sie großen Druck. Dann bleibt die Frage: Schafft man es alleine? Eher nicht. Schafft man es mit anderen? Eher ja. Wie kommt man aus dem Gefängnis wieder heraus? Meistens ist das nur möglich, wenn man jemanden findet, der einem hilft.

Welche Aufgabe kommt dann dem Kino zu? Soll es die Geschichte solcher Menschen beispielhaft erzählen?

LUC DARDENNE: Für uns, und das können wir eigentlich nur allgemein sagen, erzählt Kino von dem Versuch, sich zu befreien. Wir versuchen das dadurch zu erreichen, indem wir einer Figur so nahe kommen wie möglich und sie mit all ihren Gedanken und Gefühlen verstehen lernen wollen. Der Zuschauer soll dann genau das selbe tun und an der Figur dran bleiben. Klischees wollen wir dabei so gut es geht vermeiden, denn die Zuschauer sollen sehen: Das könnte ja auch ich sein. Das ist keine Heldin.

Sie stellen in „Zwei Tage, eine Nacht“ auch eine depressive Figur da. War es schwierig, so etwas zu zeigen, ohne in Klischees zu verfallen?

JEAN-PIERRE DARDENNE: Sandra ist jemand, der am Montag nach langer Krankheit wieder seiner Arbeit nachgehen möchte. Sie ist geheilt. Sie bekommt dann am Freitagnachmittag einen Anruf, der  die Gefahr birgt, dass sie wieder einen Rückfall erleiden könnte. Bis auf ein einziges Mal kämpft sie aber dagegen an und hofft, dass es nicht mehr zu einem Rückfall kommt. Sie will heraus aus dieser Situation. Wir als Filmemacher interessieren uns dafür, diese Geschichte so überzeugend wie möglich darzustellen. Dabei spielen vor allem Details eine Rolle und Accessoires. Immer wenn sie aus dem Haus geht, hat sie ein rosa T-Shirt an. Sie symbolisiert der Welt und sich selbst, dass sie ihre Krankheit überwunden hat.

Christine Plenus / Alamode Film
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