Exklusiver Auszug: Ali Eskendarian – „Die Goldenen Jahre“

Mit "Die Goldenen Jahre" erscheint der Nachlass des iranischen Künstlers Ali Eskendarian – einer der Musiker der Band Yellow Dogs, die in den USA von einem besseren Leben träumten, aber einem Amoklauf zum Opfer fielen.

In „Die Goldenen Jahre“ erzählt der iranische Musiker Ali Eskendarian von seinem Leben in Brooklyn, gemeinsam mit Freunden spielte er in der Exil-Band Yellow Dogs. Die Arbeit an seinem Roman war gerade beendet, als er am 10. November 2013 dem Amoklauf eines Musikerkollegen zum Opfer fiel. Zusammen mit zwei Mitgliedern der Yellow Dogs wurde er im gemeinsamen Haus erschossen. Eskendarian wurde 35 Jahre alt.

ROLLING STONE präsentiert exklusiv einen Auszug (Seite fünf bis zehn) aus „Die Goldenen Jahre“, erschienen im Berlin Verlag.

Die Goldenen Jahre

Ihr Flieger landete gegen sechs Uhr abends und es dauerte ein paar Stunden, bis sie bei uns in der Wohnung waren, aber da sahen die Neuankömmlinge schon wie freie Menschen aus.
»Wie wäre es mit einem Bier, die Herren?«, fragte ich auf Persisch, als ich ihnen mit den Koffern geholfen hatte. Sie setzten sich an den Küchentisch und ich holte uns ein paar Eisgekühlte aus dem Kühlschrank.
»Euer erstes Bier in Amerika!«, rief ich.
Wir tranken ein, zwei und rauchten einen Joint, dann waren sie locker genug und konnten reden. Ich wusste noch ganz genau, wie völlig wirr im Kopf ich vor vielen Jahren bei meiner Ankunft in den Staaten gewesen war. Unsere neu- en Freunde waren jetzt hier, und sie würden nicht in den Iran zurückkehren, dafür würden wir sorgen. Diese Leute waren hier, weil sie, wie schon manche vor ihnen, für ihre Kunst ihr Leben riskiert hatten.
»Ihr seid am richtigen Ort«, beruhigte Koli sie. »Jetzt wird es lustig.«
Wir liefen kurz mit ihnen durch unser Viertel in Brooklyn und redeten dabei die ganze Zeit über ihre Reise. Die Nacht war warm und frisch. Die Straßen waren voller Menschen. Ihre Flucht war nicht einfach gewesen, wenn ich alles richtig verstand. Offenbar waren sie alle ins Gefängnis geworfen und dann rechtzeitig zur Ausreise wieder entlassen worden.
»Das ist gut … Gefängnis ist gut. Das macht das Asylverfahren einfacher«, sagte ich auf dem Weg in eine Bar.

# Brooklyn
Manchmal erscheinen die Antworten, wenn du am Rand eines großen Canyons stehst, manchmal reicht als Katalysator auch der billige Herrenduft eines Taxifahrers; der Taxifahrer plappert von Mohammed und dessen Prophezeiungen, aber über Mohammeds vierzig Frauen wollen sie nie reden oder darüber, warum wir glauben sollen, dass Gott ihm einen Mittelsmann in die Höhle geschickt hat, der ihm das Alte Testament und die Bibel in die Hand drückt und sagt: »Da hast du, Sonnyboy, jetzt bist du dran, auf sie mit Gebrüll!«
Allison wurde in einem Vulkan auf den Osterinseln geboren, an einen Samstag, als alle gerade Statuen gucken ge- gangen waren. Sie ist Widder, wie meine liebe maman. Es ist Sonntag und Allison macht uns unser Lieblingsfrühstück: gedünsteten Grünkohl mit Knoblauch, Zwiebeln und Pilzen. Dazu Maisgrütze mit Butter und frischen Jalapeños, Veggie- Würstchen und französisches Vollkorn-Sauerteigbrot.
In unserer neuen Wohnung riecht es heimelig. Die Sonne scheint durch die Holzjalousien und aus der Klimaanlage im Fenster bläst es kalt. Im Radio spielen sie Duke Ellington. Ich komme mir vor wie ein ganzer Mann. Mein zweiter Tag der Nüchternheit, und diesmal werde ich nicht rückfällig werden.
»Ich liebe dich, Baby«, sagt sie und lächelt mich aus strah- lenden, quicklebendigen blauen Augen an. Ratternd erzittert unter uns die Erde, weil gerade der Expresszug die 4th Avenue rauf- oder runterdonnert. Sie steht am Herd und ich rutsche zu ihr, packe sie von hinten an der Hüfte, ziehe sie an mich und küsse sie in den Nacken. Sie stöhnt entzückt auf und schmilzt kurz dahin, dabei stellt sie den Grünkohl auf kleine Flamme. Ich lasse die Hände an ihr herabgleiten und drücke ihr absichtsvoll den Arsch. Sie rührt die Würst- chen um. Ihre ganz kurzen kurzen Hosen betonen ihre lan- gen samtigen Beine. Ich habe Lust, Allison auf die Küchen- dielen zu legen und von Kopf bis Fuß zu untersuchen, aber der Hunger siegt. Heute sind wir glücklich, wie schon seit ein paar Wochen. Davor hatten wir trübselige Zeiten ohne Sex, ohne Liebemachen. Wenn es in der Liebe stimmt, gibt es nichts Besseres.
Als wir einander begegnet sind, lauerten wir beide in den dunklen Ecken der Nacht, schwammen in den kalten Was- sern des New Yorker Singlelebens. Als sie mit einem Mitbewohner von mir und ein paar anderen Leuten hereinkam, war ich sofort in sie verknallt. Ziemlich schnell artete alles zur Party aus. Ich musste sie haben, aber ich musste auch aufpassen. Man spannt einem Mitbewohner/Freund nicht einfach das Mädchen aus, so ganz ohne Takt und Eiertanz. Eine Stunde nach dieser ersten Begegnung waren wir beide zugekokst und am Saufen. Sie setzte sich einfach hin, frag- te, ob sie die Musik übernehmen könne, und legte genau die richtigen Stücke auf.
»Weißt du, wer das ist?«, fragte sie mich schlitzohrig.
»Klar, das sind die 13th Floor Elevators. Super Wahl«, antwortete ich.
»Was willst du hören?«
»Was du willst.«
Wir teilten uns eine Zigarette, ließen sie hin- und hergehen, als würden wir uns schon ewig kennen. Blieben bis lange nach Sonnenaufgang wach. Irgendwann ging sie zu- sammen mit meinem Freund nach Hause und ich musste eine Zeit lang warten, bis ich sie wiedersah.

#
Von dem Loft, in dem ich damals wohnte, waren alle schwer beeindruckt; nicht dass ich dort allein gewohnt hätte oder dass ein paar Leute, die sich in Brooklyn ein Loft teilten, etwas Ungewöhnliches gewesen wären, aber dieser Ort war etwas Besonderes. Schon die Lage in Williamsburg war sehr begehrt. Lange hatte ich versucht, mich von Williamsburg fernzuhalten, aber nach kurzem Exil in Texas ging gerade irgendwie nichts anderes, als in diesem Loft zu wohnen, mit fünf oder sechs anderen und massig Leuten, die rund um die Uhr kamen und gingen. Das Loft war in dem einzigen älteren Haus, das in diesem Teil des Viertels noch stand. Trotzig hielt es inmitten der toten glitzernden neuen Ekel- architektur aus, wie ein Schiffsriese, der auf die anrücken- den Abwrackcrews wartet.
Man musste vier Stockwerke hoch, durch ein riesiges Trep- penhaus, das einem nachts unheimlich vorkommen konnte, selbst uns Bewohnern, weil ein paar Etagen leer standen. Im vierten Stock öffnete sich ein schweres Eisengatter auf einen langen Flur mit drei Loftwohnungen auf jeder Seite, mal größer, mal kleiner, aber alle groß genug für mehr als vier Bewohner gleichzeitig. Unsere war die größte. Schon aus den Fenstern war der Ausblick atemberaubend, aber da- zu kam man durchs Badezimmerfenster auch noch auf ein Dach in Fußballfeldgröße, von dem aus man das ganze Pa- norama der Stadt vor sich hatte, unter einem fünfzehn Meter hohen Wasserspeicher und einem fünfundzwanzig Meter hohen Schornstein, die man beide von Manhattan aus sehen konnte, wenn man nach ihnen Ausschau hielt. Die Rohrleitungen waren ziemlich hinüber, das Warmwasser wurde nie warm, wenn man sich einen Kaffee kochen wollte, sah man eine Maus über die Herdplatten hüpfen. Wenn man den Toaster einschaltete, war oft im ganzen Haus der Strom weg, und wenn die Nachbarn oben auf und ab gingen, rieselte uns der Putz auf die Köpfe. Richtig sauberhalten ließ sich die Wohnung nicht.
Bei meinem ersten Besuch wusste ich sofort, dass ich hier eine Zeit lang wohnen musste, um mein Leben wieder geregelt zu kriegen. Der Ort war ein klasse Versteck, und ich war ja auch so etwas wie ein Flüchtling, der einen Neu- anfang brauchte. Keine Adresse, kein Telefon, keine Verbin- dung zu den Menschen aus meiner Vergangenheit, und mei- ne neuen Mitbewohner, alles Neuankömmlinge aus dem Iran, Rockmusiker, die es nach draußen geschafft hatten, kannte ich kaum. Aber sie kannten mich, sie hatten mich daheim in Teheran im Fernsehen gesehen, auf dem Sender Voice of America, den man illegal über Satellit empfangen kann.
Diese Typen waren viel jünger als ich, aber das war kein Problem, ich kam mir nicht sehr alt vor. Im Gegenteil, ich fühlte mich lebendiger denn je, und im folgenden Jahr würden wir wilde Zeiten ohne Ende erleben. Sie gaben mir ein Sofa zum Schlafen, es war Hochsommer, sehr heiß. Ich be- saß ein paar T-Shirts, zwei Paar Jeans, drei Paar Socken und meine geliebten schwarzen Lederstiefel. Hatte kaum Geld und keine Jobangebote. Ich war glücklich. Diese Kids waren nett zu mir, und bald würde ich mich dafür erkennt- lich zeigen können. Erste Geschäftshandlung war, mit ihnen auf eine zweimonatige Tournee durchs ganze Land zu gehen, als Vorgruppe. Ich sollte dreizehn Dollar am Tag zum Leben bekommen, ein karger Tagessatz, wie man es auch dreht und wendet.
Im Jahr davor, während meines selbst auferlegten Exils, fern von New York, hatte ich eine Art Wandlung durchgemacht. Ich war als Mensch nicht mehr heil oder heilig gewesen, hatte betteln und mir alles zusammenkratzen müssen. Meine Musikerkarriere und meine Beziehung mit meiner festen Freundin hatten damals ein unvermitteltes und hitziges Ende gefunden, und plötzlich war ich wieder in Dal- las gewesen, hatte bei meinen Eltern gewohnt und als Kellner in einem Frühstückslokal gejobbt.
Ein paar Monate, bevor alles den Bach runterging, saß ich noch ganz auf Wolke sieben. Der Anfang vom Ende war eine kleine England-Tournee gewesen, als Vorgruppe eines legendären alten Sängers, während an den letzten Vorberei- tungen für ein neues Album bei meinem Label gefeilt wurde, und ich gehörte zu so einer Art Supergroup, dabei hing schon dicker Verwesungsgeruch in der Luft. Der Traum war ganz klar und schön gewesen, was den Absturz umso schmerz- hafter machte. Man hätte viele Lügen schlucken müssen, um die Scharade fortzuführen. Die ganze Sache war faul bis ins Mark. Ich hatte nicht das Zeug für die große Karriere.
Vielleicht lag es auch an den Drogen und den Visionen. Vor Jahren hatte ich mit psychedelischen Halluzinationen an einem großen Fluss gesessen. Er floss so mächtig vorüber wie der alte Tigris oder der Nil, und sein Name war »Fluss der künstlerischen Schöpferkraft«. Mir wurde klar, dass man nur am Ufer dieses großen Flusses sitzen konnte, ei- nen Fuß hineintauchen, darin schwimmen, zu ihm beten, Menschen an seine Ufer führen, dass man ihn aber nie be- sitzen, nie aufstauen oder verschmutzen durfte. Man musste ihn um jeden Preis schützen. Zumindest musste er, wie der große Ganges, ein geheiligter Ort bleiben, denn alle mächtigen Flüsse spielen im Kreislauf des Lebens eine hochwichtige Rolle. Sie verbinden alles. Sie tragen dich. Sie sind im Universum ein Symbol für Unbeständigkeit, dafür, dass alles immer im Fluss ist, für die höchste Form der Freiheit.

Ali Eskendarian, „Die Goldenen Jahre“, übersetzt von Robin Detje, 208 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 20 Euro

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates