George Saunders erhält den Man Booker Prize für „Lincoln In The Bardo“: ROLLING-STONE-Review des Meisterwerks

Das Buch der Stunde beschwört die Geister der amerikanischen Vergangenheit. Für „Lincoln In The Bardo“ erhielt George Saunders nun die wichtigste literarische Auszeichnung Großbritanniens.

George Saunders hat am Dienstagabend (17. Oktober) den Man-Booker-Literaturpreis erhalten, die wichtigste literarische Auszeichnung Großbritanniens. Der US-Amerikaner erhielt die Würdigung für seinen Debütroman „Lincoln in the Bardo“.

Die Jury kürte den 58-Jährigen einstimmig zum Sieger. Das Buch sei eine „geistreiche, intelligente und tief bewegende Erzählung“. Saunders bedankte sich mit den Worten: „Vielen Dank für diese große Ehre. Ich hoffe, ich werde ihr für den Rest meines Lebens mit meinem Schaffen gerecht werden.“

Für die Ausgabe 4/2017 rezensierte Maik Brüggemeyer den Roman.

George Saunders – „Lincoln In The Bardo“

★★★★★

Im Sommer 2016 besuchte der US- Autor George Saunders einige Wahlkampfveranstaltungen von Donald Trump und schrieb darüber einen brillanten Text, der so umfangreich war, dass er auf zwei Ausgaben des „New Yorker“ verteilt werden musste. Nicht ein einziges Mal macht er sich da über den Kandidaten oder seine Anhänger lustig – vielmehr beschreibt er sie, ebenso wie die Gegendemonstranten, mit großer Empathie, gibt die Reden des Präsidentschaftskandidaten mit großer Genauigkeit wieder und hat ein feines Gespür für die Ängste und die Aggression, die in der Luft liegen. Ein genaueres Bild der heutigen US-Gesellschaft wird man nicht finden.

Saunders ist ein großer Humanist, und wie alle, die es ernst meinen mit ihrer Menschenliebe, ist er auch ein großer Humorist. In seinen Kurzgeschichten scheinen die Geister Kurt Vonneguts und Richard Brautigans weiterzuleben. Und um Geister geht es auch im ersten, gerade in den USA erschienen Roman des 58-jährigen gebürtigen Texaners, der in einem Vorort von Chicago aufwuchs. „Lincoln In The Bardo“ erzählt von Willie, dem dritten Sohn des US- Präsidenten Abraham Lincoln, der am 21. Februar 1862 im Alter von elf Jahren an Typhus starb und auf dem Oak Hill Cemetery in Georgetown beigesetzt wurde. Sein gramgebeugter Vater soll seinen Lieblingssohn nach der Beerdigung in der Gruft besucht, ja den toten Körper seines Sprosses sogar umarmt haben.

Verlangen über den Tod hinaus

So weit die historisch mehr oder weniger verbrieften Fakten. In keinem Geschichtsbuch steht jedoch, dass er dabei eine Menge Zeugen hatte; nur konnte kein Historiker zu Lebzeiten mit ihnen kommunizieren, denn es handelte sich um Geister, die in einem Stadium zwischen Leben und Tod oder Reinkarnation oder woran sie auch immer glaubten gefangen waren. Im tibetischen Buddhismus nennt sich diese etwas gastfreundlichere Vorhölle Bardo, und wer sich dort aufhält, hängt entweder noch zu sehr am Leben oder hat Angst vor dem, was folgt. Da war etwa der Drucker Hans Vollman, Ende 40, mit einem enormen Gemächt, der genau in der Nacht, als er mit seiner Teenagerbraut endlich die Ehe vollziehen will, von einem Dachbalken niedergestreckt wurde, aber über den Tod hinaus ein Verlangen nach seiner Braut verspürte und daher glaubte, er befände sich auf einer Krankenstation (er nannte den Sarg „sick-box“, Krankenkiste).

Oder sein bester Freund, Roger Bevins III., der sich in einen Mitschüler verliebte, sich aus Liebeskummer und der Schmach der eigenen Homosexualität die Pulsadern aufschnitt, es sich dann doch noch mal anders überlegte (zu spät allerdings) und wie eine indische Gottheit mit vielen Augen, Ohren, Nasen und Händen (die wohl seine unerfüllten Sinnesfreuden symbolisieren) durch den Bardo geisterte. Oder der greise Reverend Everly Thomas, der sich auf der Flucht vorm Jüngsten Gericht befand.

Auch der Geist von Willie Lincoln schaute seinem Vater zu, wie der den leblosen Körper seines Sohnes im Arm haltend versprach, er werde wiederkommen. Da stand für Willie fest, dass er im Bardo auf ihn warten würde. Doch für Kinder und Jugendliche ist dieser Ort äußerst gefährlich, denn sie werden schnell von Dämonen befallen. Um dem jungen Lincoln dieses Schicksal zu ersparen, machten Bevins und Vollman sich daher auf die Suche nach dem Präsidenten, um ihn möglichst schnell zu einer letzten Rückkehr zu bewegen. Sie fanden ihn tatsächlich spätnachts noch immer auf dem Friedhof verweilend, betraten seine Seele, fühlten sich in ihn ein und fanden ihn nicht nur in Trauer über den Tod seines Sohnes, sondern auch in Gedanken an den Bürgerkrieg, der gerade tobte.

Am Tag von Willies Beerdigung wurde die Zahl der Gefallenen beim Sieg der Union in Fort Donelson bekannt gegeben. Mehr als tausend Soldaten ließen auf jeder Seite ihr Leben. Lincoln erkannte allmählich in der eigenen Trauer die Trauer eines ganzen Landes. Durch eine Verkettung misslicher Umstände wurde es nötig, dass weitere Bardo-Bewohner in seine Seele eintraten – Sklaven und Huren, Mörder und Diebe, Vergewaltiger, Pädophile und ihre Opfer –, bis es dort so eng und voll wurde, dass jeder sich in jeden einfühlen konnte und so zugleich vielmehr bei sich war, aus den verzerrten Persönlichkeiten wurden empathische Menschen und der Körper des Präsidenten wurde zum Volkskörper, in dem alles Unrecht und alle Schuld, alle Ängste und alle Traumata versammelt waren.

Von albernster Komik zu großer Tiefe

Was Abraham Lincoln tat, nachdem er den Friedhof mit einem schwarzen blinden Passagier in der Seele wieder verlassen hatte, steht in den Geschichtsbüchern. Was mit Willie und all den anderen kuriosen Geistern geschah, kann man in diesem fantastischen Roman nachlesen, den Saunders als eine Art Oral History, eine Collage aus historischen Quellen und Geisterstimmen erzählt. Das ist zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig, macht aber auch den Reiz des Textes aus, der so innerhalb kürzester Zeit von albernster Komik zu großer Tiefe findet, zugleich menschliche Komödie, Trauerbuch, Geschichtsstunde und eine Erinnerung daran ist, dass die Fähigkeit zur Empathie sowohl in der Literatur als auch in der Politik und im Alltag die edelste aller menschlichen Eigenschaften ist.

Die siebenstündige Audiobook-Version von „Lincoln In The Bardo“ haben insgesamt 166 Sprecher eingelesen, unter ihnen der Schauspieler Nick Offerman („Parks And Recreation“) als Hans Vollman, der Autor David Sedaris als Roger Bevins III., Saunders selbst als Reverend Everly Thomas und in Rollen weiterer Geister Carrie Brownstein, Lena Dunham, Susan Sarandon, Ben Stiller und Jeff Tweedy. Dieses Hörbuch wirkt besser als jeder Pro- testsong. George Saunders’ mitfühlender und -leidender Lincoln ist das Gegenbild zum narzisstischen Egomanen Donald Trump. (Random House, ca. 20 Euro)

Maik Brüggemeyer

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