RS-Classic

Pet Shop Boys im Interview: „Wir waren schon immer sehr deutsch“

Benjamin von Stuckrad-Barre im munteren Plausch mit Neil Tennant und Chris Lowe. Eines der schönsten RS-Interviews der letzten Jahre, zum 60. Geburtstag von Chris Lowe noch einmal online.

Kaum zu glauben, aber auch Sänger von alterslos wirkenden Popbands können älter werden. Chris Lowe von den Pet Shop Boys wird 60. Das ist eine gute Gelegenheit, noch einmal unsere große Titelgeschichte über das Duo aus dem April 2009 aus dem Archiv zu holen. Mit dem vielleicht schönsten Interview mit den Pet Shop Boys, das sich vorstellen lässt. Viel Spaß beim Lesen – unser Autor Benjamin von Stuckrad-Barre hatte ihn auf jeden Fall…

Pet Shop Boys: „Wir waren schon immer sehr deutsch“

Benjamin von Stuckrad-Barre

25 Jahre nach „West End Girls“ blicken Neil Tennant und Chris Löwe auf ein imposantes Gesamtkunstwerk aus Hit-Singles, Alben, Remixes, Soundtracks — und einer sehr gelungenen neuen Platte. Ein Gespräch mit den Lordsiegelbewahrern des Pop.

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Diese Stimme da am Flurende, das ist doch, das klingt doch wie, das wäre ja jetzt – tatsächlich, da streckt er den Kopf aus der „ Hyazinthensuite“ des Kölner Hyatt-Hotels, in der die Pet Shop Boys zwei Tage lang mit deutschen Journalisten sprechen: Neil Tennant! Trägt Hemd und Weste. Der ist ja doch ziemlich groß! Ruft nach dem Mann von der Plattenfirma, es geht um das Restaurant für heute Abend, alles ausgebucht, wiedermal irgendwelche Messen in Köln. Schnell die Tür der eigenen Nicht- Suite, Zimmer 620, schließen-ist das alles aufregend, meine Güte, Neil Tennant, das war er wirklich! Und er hat diese Stimme! Logisch hat er die. Seit über 20 Jahren hilft sie einem, das Leben zu bewältigen.

Diese Stimme war immer da

Jetzt schleunigst die Musik dazu aufdrehen: „Sexy Northerner“, eine B-Seite aus dem Jahr 2002, laut genug, dass sie es möglicherweise hören können in ihrer Blumenbude, vielleicht sind sie geschmeichelt, dass da jemand in Zimmer 620 solch ein Nebenwerk abfeuert, und kommen vorbei? Klopft natürlich keiner, doch, jetzt – ist aber nur der Typ aus der 621, ist ihm zu laut, die Musik. Also einen Tick leiser: die neue Platte.

Musiker wollen schließlich immer nur über ihre neueste Platte sprechen, und dann fragt man brav: Auf Ihrer neuen Platte haben Sie blablabla. Dabei will man doch viel lieber in der Vergangenheit rumwühlen, nein, schwelgen. Die neue Platte kapiert man sowieso erst in ein paar Monaten so ganz, auch wenn man sie selbstverständlich schon oft genug (begeistert!) gehört hat, um bereits sechs von elf Liedern zu lieben (der Rest folgt dann schon noch). Es gibt keine schlechte Platte von den Pet Shop Boys, soviel ist auch klar.

Die eigene Biografie ist vollständig rekapitulierbar anhand ihrer Discografie: Wo warst du, als „Nightlife“ erschien? Am Kofferband welchen Flughafens stehend geweint, als „Home And Dry“ aus den Lautsprechern erklang? Wann zum ersten Mal „Being Boring“ gehört und darob umgehend alles komplett geändert?

Die Musik der Pet Shop Boys bot immer Trost

Enttäuschbar war man allenfalls von äußeren Umständen: Als „ Release“ 2002 erschien, war alles sehr schwierig, entsprechend ramponiert ist die CD-Hülle, die immerhin hat alles mitgemacht und ist geblieben. Denn egal wie chaotisch das Leben sich auch dann und wann gestaltete, die Musik der Pet Shop Boys hatte man immer griffbereit, die bot immer Trost und Erklärung. Die Konzerte 2007 in Berlin und Hamburg waren ein bisschen traurig- das lag aber sicherlich am deutschen Publikum. Also: auf nach Mailand! Schon war alles wieder in Ordnung.

Die Pet Shop Boys jedenfalls haben ganz bestimmt immer alles richtig gemacht. Man wird da morgen als Fan vor ihnen sitzen, mit Schlips und Kragen, ehrfürchtig, ohne Fragen eigentlich – ist ihr Werk doch eine Sammlung von Antworten auf die Welt. „Yes“, die neue Platte also, ist fantastisch, logisch ist sie das, da ist alles drauf, wieder mal, einmal mehr. Lieder zum Tanzen, Weinen, Reisen – einmal rund herum.

Fände das Gespräch auf Deutsch statt, würde man sie dann duzen oder siezen?

So, auf Englisch, sagt man „you“, und je nach Medium wird das dann als „du“ oder „Sie“ übersetzt. Verehrungsbedingt würde man sie natürlich am liebsten mit „Sir“ ansprechen. Und andererseits ist Tennants Stimme so vertraut, und die Liebe zu diesen beiden Prachtkerlen so groß, dass man sie seit Jahren duzt, ohne je mit ihnen gesprochen zu haben.

Wird Chris Lowe überhaupt etwas sagen? Die Stimme der beiden ist natürlich Neil Tennant. Chris Lowes Aufgabe ist es, Mütze oder Hut und eine Sonnenbrille zu tragen und dergestalt kopfversiegelt nichts zu sagen, oder sich, wenn überhaupt mal (wie im Song „Paninaro“), knapp, kompakt und elementar zu äußern: „girls, boys, art, pleasure“. Oder einfach gar nicht da zu sein.

Der Mann von der Plattenfirma sagt am nächsten Morgen, kurz bevor das Interview beginnt, Chris Lowe werde zwar dabei sein, sei allerdings am Vortag etwas einsilbig gewesen. Na, immerhin! Da kommen sie: Lowe ohne Sonnenbrille, ohne Kopfbedeckung. Auf in die Hyazinthensuite! Die Pet Shop Boys haben für jede Lebenssituation ein Lied geschrieben, hier jetzt fällt einem „Single“ aus dem Jahr 1996 ein: „Staying in a junior suite / So there’s room to meet and greet.“

How are you today?

Angst und Aufregung legen sich bald, es ist ganz wurscht, worüber man mit ihnen spricht, allein über den Titel des neuen Albums könnte man ein viertägiges Seminar abhalten: „Yes“. Eigentlich will man sie nicht groß stören, ihnen bloß mal danken, eine Platte (‘Actually’) und ein Plakat (von der „Behaviour“-Tour) signiert bekommen, kurz fragen, wie es ihnen geradeso geht, how are you today – und dann mal sehen.

Chris Lowe setzt sich aufs Hyazinthensuiten-Sofa, das war klar, er wird wahrscheinlich nach zwei Minuten die Augen schließen, kurzes Nickerchen; Neil Tennant nimmt mit dem Rücken zum Fenster auf einem Sessel Platz. Hinter ihm der Kölner Dom: Wenn man die Augen zusammenkneift, wächst Tennant eine der beiden Domspitzen aus dem Kopf, er sieht jetzt aus wie im „Liberation“-Video, in dem sie diese bunten Schultütenhüte trugen.

Die beiden Domspitzen da draußen als Ewigkeitsentsprechung der beiden Pet Shop Boys hier drinnen. Ein paar Wochen später stürzt das Kölner Stadtarchiv ein; wenn unter meinem Haus unvorsichtig ein U-Bahn-Schacht gebuddelt und dadurch mein Musikarchiv einstürzen würde, die Bauarbeiter mich gerade noch warnen kämen, „Sie können nur eine Tüte CDs mitnehmen, schnell, gleich kracht alles zusammen!“ – ich müsste nicht lang überlegen, welche Platten ich aus dem Regal griffe: das Gesamtwerk der Pet Shop Boys, natürlich. Neue Version von „Wenn der Russe kommt“: Wenn das Erdreich nachgibt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Pet Shop Boys so gerne mit der Deutschen Bahn fahren.

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