Im Porträt: The Smashing Pumpkins. Herr Corgan sucht das Glück

Beim diesjährigen Hurricane- und Southside-Festival sind auch The Smashing Pumpkins dabei. Wir interviewten Billy Corgan zum Re-Release seines 95er-Werks "Mellon Collie and the Infinite Sadness"


„Perfekt unperfekt“: Billy Corgan über das Meisterwerk der Smashing Pumpkins

ROLLING STONE sprach mit Corgan über das berühmte Doppelalbum, von dem er sagt: „Es ist in vielerlei Hinsicht wundervoll, dass wir in der Lage waren, etwas so Großartiges zu erschaffen – als eine Art letzter Beweis des Wertes dieser Band. Aber das war es dann leider. So gut wie hier sollte es für diese vier Menschen gemeinsam nie wieder werden.“

Tatsächlich brach die Besetzung der Band in den Folgejahren auseinander. Als sich Drummer Jimmy Chamberlin und der Tour-Keyboarder Jonathan Melvoin in der Nacht auf den 12. Juli 1996 eine Überdosis Heroin spritzten, die für Melvoin tötlich endete, trennte man sich von Chamberlin – was Billy Corgan, James Iha und D’arcy Wretzky schwer traf. Iha blieb bis 2000 Bandmitglied, Wretzky bis 1999, Chamberlin war ab 1999 bis 2009 dann schon wieder dabei. Dennoch musiziert Billy Corgan noch immer unter dem Bandnamen Smashing Pumpkins. Die Original-Mitglieder sind bis heute zerstritten.

Wann hast du dir zuletzt „Mellon Collie …“ in voller Länge angehört?
Das ist gar nicht so lange her, weil ich das Mastering abnehmen musste. Wenn ich alte Alben von mir anhöre, bringt es mich immer gleich in die Atmosphäre zurück, in der sie entstanden. Ich erinnere mich, wie der Raum ausgesehen hat, in dem wir es aufgenommen haben, und wer dabei war. Meine Erinnerung funktioniert da sehr sinnlich. Wenn ich dann tiefer in mich gehe, erinnere ich mich an die lustigen Geschichten drumrum. Als wir dieses Album aufgenommen haben, hatten wir einen Rehearsal-Raum, den wir Pumpkinland nannten. [Co-Produzent] Flood wollte „Melan Chollie…“ darin aufnehmen, was uns wirklich überrascht hat. Er mochte es, wie wir darin spielten. Er dachte, wir würden uns dort wohler fühlen. Einmal arbeiteten wir gerade an einem Song, [Co-Produzent] Alan Moulder und ich waren in einem anderen Raum, und plötzlich platzte eine Wasserleitung. Das Wasser flutete den ganzen Boden und wir versuchten das Equipment in die letzte noch trockene Ecke zu werfen. Wir lachten dabei wie bescheuert, weil die Situation so absurd war. Solche Geschichten fallen mir in erster Linie ein, wenn ich mir meine Alben noch mal anhöre.

Nach dem riesigen Erfolg von „Siamese Dream“ 1993 hättet ihr eigentlich auf Nummer Sicher gehen können, stattdessen habt ihr dieses dunkle Gewucher namens „Mellon Collie…“ auf die Welt gebracht …
Mich überrascht noch immer, dass es ein sehr düsteres Album geworden ist. Und dass es trotzdem so erfolgreich wurde. Man hat mir damals immer wieder gesagt: „Mann, das ist düster!“ Und ich dachte jedes Mal: „Äh, nein. Für mich ist es das nicht.“ Aber wenn ich es heutzutage höre, sehe ich das anders. Es ist bisweilen sehr dunkel – thematisch und musikalisch. Songs wie  „X.Y.U.“ und „Tales Of A Scorched Earth“ zeigen das sehr deutlich. Und da ist etwas in dieser Dunkelheit, das immer mitschwingt – eine ganz bestimmte Klangfarbe. Die Produktion ist manchmal sehr roh. Wenn man sich zum Beispiel „Cherub Rock“ anhört, das mehrschichtig und sehr nuanciert klingt, und dann ein Lied wie „X.Y.U“, das die Band live im Studio aufgenommen hat, sind das extreme Kontraste. Die Tatsache, dass wir innerhalb so kurzer Zeit von einem Extrem zum anderen gegangen sind, überrascht  mich noch immer.

1995 hast du dem ROLLING STONE in einem Interview gesagt, „Mellon Collie…“ sei „das Ende einer Ära“. Wie hast du das gemeint?
Ich denke, man kann schon behaupten, dass es in vielerlei Hinsicht das letzte Album in diesem Line-up war. Wir haben es in dieser Besetzung nie wieder hinbekommen, etwas gemeinsam aufzunehmen, das ähnlichen Bestand hatte. Es war wirklich das letzte Mal, dass wir vier ernsthaft zusammengearbeitet haben. Vielleicht habe ich das damals bereits gespürt, als ich diese Worte wählte. Vielleicht habe ich bereits realisiert, dass es etwas mit der Verbissenheit und Verzweiflung zu tun haben könnte, mit der wir versucht haben, alles, was möglich war, aus uns rauszuholen.  Ich hatte etwas über 50 Songs geschrieben, und wir haben den ganzen Stapel aufgenommen. Wie dieser Re-Release zeigt, gibt es eine Menge Material aus der Zeit, Arbeiten, die sehr interessant sind, weil man an ihnen ablesen kann, welche Entwicklungen sie durchgemacht haben. Also, bleibe ich dabei: Es war das letzte Album. Das Ende einer Ära. Es gab noch weitere Alben danach, die die Reste verwalteten. Und für mich ist „Oceania“ in gewisser Weise das erste neue Album, falls das irgendwie Sinn macht. Und alles, was dazwischen passierte, waren die Reparaturarbeiten nach diesem Schiffbruch.

Hast du damals geahnt, dass der Zusammenhalt der Original-Besetzung langsam Risse bekam?
Wenn du mit jemandem sprichst, der geheiratet hat, wird er dir sagen: „Oh, ich hatte vorher keine Ahnung, wie es tatsächlich ist, verheiratet zu sein!“ Wenn du mit jemandem sprichst, der einen Elternteil verloren hat, wird er sagen: „Oh, ich wusste nicht, wie sich das anfühlt, bis ich meine Mutter oder meinen Vater verloren habe!“ Weil man eben nicht wissen kann, wie sich so was anfühlt. Nun ja: Wenn du in einer Band bist, so viel Zeit zusammen verbringst und in so kurzer Zeit so viel erreichst, dann kannst du dir auch nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn das alles zerfällt – bis es dann plötzlich passiert. Man meint, man könnte das – aber man kann es nicht. Weil man die Zusammenhänge nicht versteht. Als Jimmy die Band verließ, wussten wir nicht, welche Auswirkungen das auf unseren Umgang untereinander hat. Wir ahnten nicht, wie es die Live-Shows verändern würde. Heute ist dieser Crash für mich offensichtlich – die Warnzeichen waren für alle sichtbar. Es ist natürlich wundervoll, dass wir in der Lage waren, etwas so Großartiges zu erschaffen – als eine Art letzter Beweis des Wertes dieser Band. Aber das war es dann leider. So gut wie hier sollte es für diese vier Menschen gemeinsam nie wieder werden.

Du hast lange gezögert, bis du die Fans mit Material aus dieser Zeit beschenkt hast.
Ich glaube, man muss dabei einen Blick auf die Dynamik werfen, die sich 2012 entwickelt hat: Es gibt eine Fanbase, die sich vor allem an eine bestimmte Ära gebunden sieht. Selbst wenn ich ein Album machen würde, das besser ist, als alles, was ich bisher geleistet habe, wären deren Alben immer noch: „Gish“, „Siamese Dream“, „Mellon Collie“ und „Adore“. Und das wird sich niemals ändern, was ein Teil dieser Dynamik ausmacht. Aber die Realität sieht oft anders aus: Ich spiele immer wieder vor Kids, denen die Vergangenheit völlig egal ist. Sie wollen Musik für ihre Zeit, ihre Generation. Also mögen sie „Oceania“ anscheinend, weil sie sich damit identifizieren können. Und die Tatsache, dass die Pumpkins eine Vergangenheit haben, ist wie eine Art Roman für sie. Natürlich kennen sie ein paar Songs. Aber wenn wir vor einem jungen Publikum einen Song wie „By Starlight“ von „Melon Collie…“ bringen, kennen viele ihn gar nicht. Und das zeigt mir, dass der Generationswechsel deutlicher ist, als viele denken.

„Mellon Collie…“ schoß gleich an die Spitze der Billboard Charts – was bei einem Doppelalbum wirklich selten ist.
Als wir es aufgenommen haben, sagten wir immer: „Wir müssen das in die Radios kriegen! Und wir müssen auf MTV passieren!“ Aber das hatte keinen Einfluss auf unsere Arbeit. Kompromisse machten wir trotzdem nicht. Die Produktion von „Bullet With Butterfly Wings“ ist dermaßen düster, dass ich immer noch nicht glauben kann, dass der Song ein Hit wurde. Es fühlte sich an wie eine Erleuchtung. Aber wir haben dafür gebrannt – so wie Mötley Crüe es in den 80ern getan haben. Wir sind nicht zurückgeschreckt. Wir haben keine Spielchen gespielt. Ich glaube, in der heutigen Rockmusik ist das anders – die Leute trauen sich das nicht mehr. Vielleicht liegt es daran, dass die Leute merken, dass es heute schwerer ist, Avantgardistisches in den Mainstream zu bringen. Vielleicht denken sie gleich: „Fuck it! Dann lassen wir es eben.“ Wir hatten Glück, dass wir so dunkel klingen konnten und damit durchkamen. Heutzutage könnte man sicherlich nicht mehr mit „Bullet With Butterfly Wings“ bei der Plattenfirma anklopfen – und die sagen: „Super! Lasst uns das ins Radio bringen!“ Sie würden dir sagen, dass sei zu weird. Sie würden dich dazu bringen, es aufzupolieren bis es überproduziert klingt. Du kannst dir ja ausrechnen, wie der Song heute klingen würde. Er bräuchte einen Breakdown – für den DJ.

Was denkst: Wie hat sich „Mellon Collie…“ in seinen 17 Jahren gehalten?
Sehr gut, denke ich. Was in erster Linie dem Songwriting zu verdanken ist. Es sind viele wirklich großartige Songs drauf. Es gibt natürlich auch Sachen, bei denen ich heute denke: „Ähm… DAS hätte ich lieber weggelassen!“ Ich habe es nie für perfekt gehalten – aber ich denke, es ist perfekt unperfekt. Wir haben etwas erschaffen, das den Spirit seiner Zeit einfangen wollte – und nicht das perfekte Album. Wir hätten es machen können – sie hätten uns das Budget dafür gegeben. Aber wir wollten einfangen, was wir fühlten und was wir sahen. Und in der Hinsicht ist es perfekt. Es ist genauso perfekt, wie „Dark Side Of The Moon“ für seine Zeit perfekt war. Es war eine abgefuckte Generation, es war eine abgefuckte Zeit. Und jetzt, im Nachhinein, können wir noch deutlicher sehen, wie abgefuckt das alles war. „Mellon Collie…“ ist weird in seiner Kombination aus Nihilismus, Sentimentalität und geradezu heldenhafter Hoffnung. Aber das traf genau den Punkt, an dem unsere Generation damals stand.

Warum  haben sich gerade die Pumpkins da hervorgehoben?
Wir glaubten an diese Hoffnung. Wir glaubten, wir würden und könnten tatsächlich etwas ändern. Ich denke, das ist etwas, dass man kein zweites Mal erschaffen kann. Und es hat ja leider nur ein paar Jahre gedauert, bis all der Optimismus und die Hoffnung für die Tonne waren.

Siehst du diese Hoffnung manchmal auch, wenn du auf deiner letzten „Oceania“-Tour ins Publikum blickst?
Irgendwas passiert tatsächlich. Ich habe schon zig Shows gespielt, und inzwischen spüre ich, wann man obenauf ist, wann man abgeschrieben ist, oder wann das alles überhaupt keinen Sinn macht. Und gerade geht es definitiv aufwärts. Die Leute scheinen sich wirklich wieder für die Band zu begeistern. Und „Oceania“ markiert den Wendepunkt. Ein Album wie „Mellon Collie…“ gab mir das Selbstbewusstsein, alles zu tun, was ich wollte – und wenn ich es gut machte, gäbe es ein Publikum dafür. Es ist das Bindeglied meines musikalischen Vermächtnisses. Im Reinen zu sein mit seiner Musik aus 24 Jahren ist unglaublich schön. Ich spiele heute Songs aus einer Zeit von 1988 bis 2012 – und das ist großartig!

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