Jule Neigel

Als Jule Natascha Neigel 1988 einen „Schatten an der Wand“ sah und über Nacht Liebling der Charts und Medien wurde, glaubte kaum jemand, daß sie mehr als nur eine Frau für eine Nacht ist. Acht Jahre und vier erfolgreiche Alben später balanciert die Ludwigshafenerin weiter auf dem schmalen Grad zwischen Power und Pop, Maffay und Metal. Auf „Sphinx“, dem neuen Album der Jule Neigel Band, führt dieser Drahtseilakt aber nicht zu spätzleglattem Bügel-Rock PURscher Ausmaße. Im Gegenteil: Bei den meisten Songs wird gerockt und gedroschen, daß es den AOR-Radioformatierern die Dampfplaudergosche zubläst.

Bekommt eine ledergelackte Jule Neigel eigentlich Liebesbriefe weiblicher Fans?

Am Anfang schon. Inzwischen nicht mehr.

Hat sich wohl rumgesprochen, daß Du mehr auf Jungs stehst?

Meinst Du, Marius bekommt keine Liebesbriefe von Jungs?

Es heißt ja, die Lichtgestalt „Popstar“ müsse immer auch androgyne Züge haben.

Was bedeuten würde, ungeschlechtlich zu sein. Ist aber doch keiner. Da müßte man jetzt ’ne Psychoanalyse des Sexualverhaltens von Rockmusikern machen. Und dabei käme nur raus: daß Musiker auch nur Menschen sind. Musik ist eine Sache, in die man sich tief hineinfallen lassen kann. Und deshalb können Musiker Gefühle besser ausdrücken als Tennisspieler oder Fußballer.

Noch vor ein paar Jahren warst Du ein absolut nikotin- und koffeinfreies Mädchen, das bei dem Wort „Fädelst“ rot anlief. Jetzt singst Du von „Schlampen“, säufst Kaffee und zündest Dir gerade schon wieder eine Gauloise an. Was ist passiert?

Damals hatte ich mit dem Rauchen aufgehört, war kompromißloser Vegetarier und habe versucht, möglichst wenig Gifte an mich ranzulassen. Hat sich aber irgendwann wieder normalisiert. Jetzt rauche ich zwei Schachteln am Tag. Und esse sogar Fisch.

Also noch immer kein Rock’n‘ Roll in Ludwigshafen?

In der Band raucht keiner außer mir, keiner nimmt Drogen, keiner trinkt Alkohol. Wir sind clean.

Klingt nicht grad nach Rockstar.

Warum auch? Ich sehe mich ausschließlich als Musikerin. Wir wohnen immer noch in Ludwigshafen und arbeiten in unserem alten Studio. Wir haben die alten Freunde, die alten Musikerkollegen.

Vielleicht ist das der Grund, warum Du 250.000 Platten verkaufst und Westernhagen 1,5 Millionen.

Marius ist für mich auch nur ein Musiker. Natürlich ist er ein Exhibitionist – aber das bin ich auf der Bühne auch. Ich mache Musik, und es gibt Leute, die meine Platten kaufen. Es müssen keine 1,5 Millionen sein. Ich kann nun mal beim Komponieren nicht an Singles, Medien oder Zielgruppen denken. Natürlich akzeptiere ich, daß wir z. B. Singles auf Radio-Länge kürzen müssen. Aber trotzdem. Ich will nicht irgendwelche Zielgruppen erreichen, ich will Menschen erreichen. Das Publikum ist erwachsen genug, selbst zu entscheiden.

Es entscheidet sich sehr oft für Deine Kollegen aus Ingersheim…

Wir machen völlig andere Musik als PUR. Ich kenne die auch nur vom Hörensagen. Unser Publikum fängt auch erst da an, wo das von Pur aufhört. So von 16 bis Mitte 40.

Schön, wenn man vor Gleichaltrigen spielen kann: Du bist gerade 30 geworden – für Frauen angeblich ein Wendepunkt im Leben.

Ich weiß, daß das für viele ein magischer Punkt ist. Ich hab nur deshalb ’ne kleine Krise gehabt weil alle um mich herum gesagt haben, daß man Anfang 30 eine Krise haben muß. Im Moment fühle ich mich frischer als mit Mitte 20.

Über ein anderes Klischee – Liebe im Alter – singst Du im Song „Glück an Glück“…

Der Song handelt von meiner Mutter. Sie ist früh Witwe geworden und hat im hohen Alter die Liebe des Lebens gefunden. An ihr habe ich gesehen, daß Alter nur damit etwas zu tun hat, wie offen du im Kopf bleibst.

Deine Jungs akzeptieren noch immer, daß Du der Boß bist?

Uns allen ist klar, daß nicht jeder auf dem Platz des Sängers stehen kann. Ich schreibe ja auch noch die Texte. Die logische Schlußfolgerung ist: Ich stehe vorne. Außerdem sind sie die Produzenten und wir komponieren zusammen – diese Aufgaben füllen sie als Musiker voll aus. Wenn sie meine Position haben wollten, hätten sie bestimmt irgendwann einmal Texte geschrieben, irgendwann einmal singen wollen.

Und deshalb bist Du es, der beim Eierkauf im Supermarkt um ein Autogramm gebeten wird.

Ich lebe in Ludwigshafen. Das ist eine Arbeiterstadt, da gehen die Leute sehr ehrlich mit dir um. Mich hat’s nie nach Köln, Berlin oder Hamburg gezogen, weil ich nicht in diese Scheinwelt eintauchen, nicht in dieser Glasglocke leben wollte. Die Menschen kommen, um meine Musik zu hören. Und das ist ein großes Privileg für mich. Wenn ich morgens um vier aus dem Studio nach Hause fahre und am Tor 3 vorbeikomme, sehe ich die Schichtler, die mit müdem, frustriertem Gesicht zur Arbeit marschieren. Und ich weiß: Das muß ich nicht tun, denn ich darf Musik machen. Ich kann aufstehen, wann ich will. Ich kann sagen, was ich für richtig halte – und man hört mir dabei zu. Ich kann meine Gefühle aus mir rauslassen und bekomme sogar Beifall dafür!

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