Land in Sicht

Der Stress des grossen Erfolges hatte P U L P in dunkle Untiefen gezogen. Kurz vor dem Kollaps besann Sänger Jarvis Cocker sich auf die Wurzeln des Daseins, die Liebe zum Leben und die Natur. Die geistige Stadtflucht hat Pulp wieder Boden unter die Füsse gebracht. Und ein neues Album

Nie hätte Jarvis Cocker gewagt, lustig aus dem Backstage-Bereich herauszuspazieren. Was die Leute da draußen mit ihm gemacht hätten, konnte er sich denken: Die warteten nur darauf, einen Fetzen von seinem Hemd abzukriegen. 30.000 waren im August 1996 zum Chelmsford-Festival gekommen, die meisten wegen der Headliner, Cockers Band Pulp. Warum es hinter der Bühne ein Gorilla-Kostüm gab, ist rätselhaft, aber Jarvis Cocker zog es an. In Kafkas „Bericht für eine Akademie“ trainiert sich der Affe menschliche Züge an, damit man ihn aus dem Käfig lässt, hier war es umgekehrt. Als Gorilla konnte Jarvis Cocker unerkannt seinen Rundgang machen. Als Jarvis wäre es unmöglich gewesen.

Im Herbst 2001 geht es wieder. Zumindest kann Jarvis Cocker mitten in London Brötchen holen gehen, was er seelenruhig tut, weil er das Klopfen des Chauffeurs nicht gehört hat. Der sollte ihn nach Notting Hill fahren, wo Cocker stark verspätet eintrifft. Die Pension, die die Plattenfirma für die Interviews ausgesucht hat, wirkt wie eine viktorianische Protz-Teestube, Jarvis Cocker mit schwarzem Ripp-Puüi und Karohemd-Kragen wie ein verirrter Schmetterlingsfbrscher. Fast jeder hat es mitbekommen: Das neue Pulp-Album, das nach vier Jahren Stille endlich veröffentlicht wird, handelt von Tieren, Pflanzen und Flüssen. Von der geistigen Stadtflucht.

„It’s like an animal farm, lots of rural charm in the country“, sang die Band Blur zu dem Thema, im Herbst 1995, als die Ironie noch nicht vorbei war und Jarvis Cocker die Ausgabe der englischen Show „Top Of The Pops“ moderieren durfte, in der zum Höhepunkt des Britpop-Booms Blur gegen Oasis antraten. Pulp hatten eben mit „Common People“ ihren ersten britischen Top-Ten-Hit nach 13 Jahren Karriere geschafft, kurz daraufkrachte das fünfte Album „Different Class“direkt auf Nummer eins, 300 000 verkaufte Exemplare in zwei Wochen. Blur, Oasis, Pulp: weltweit das unumstrittene Triumvirat des englischen Pop. Im Inland wurde die Band aus Sheffield gekrönt, als sie für ihre Platte den Mercury Music Price des ereignisreichen Jahres bekam. 1998 ging der an die Blues-Rocker Gomez, Pulp waren mit „This is Hardcore“ nur nominiert. Eine kurze Nummer eins, schlecht verkauft und ohne Hit-Singles. „Irony is over!“, orakelte Cocker im letzten Stück. Er hatte schon vorher gespürt, dass die Party vorbei war.

„Wir hatten nie Geld gehabt, und plötzlich war da so etwas wie finanzielle Freiheit“, erinnert sich Bassist Steve Mackey, der am Teetisch gegenüber seinem Sänger schnittig wie ein Action-Held aussieht, „es sind seltsame Dinge passiert, wir wurden in Privat-Jets herumgeflogen, wir trafen komische Leute.

A mental overload of experiences.“ „Wie ein schlimmer Kater, der zweiJahre dauerte“, meint Jarvis Cocker. „Wir hätten Urlaub nehmen sollen. Stattdessen haben wir zugelassen, dass man uns ins Studio nötigte, wie beim Sex: Jawoll, jetzt bist du drin, gut so, mach weiter!'“

So funktioniert Hardcore. Erst bei näherem Hinsehen wirkte die nackte Frau auf dem Plattencover wie eine zurechtdrapierte Leiche, und so kam sich der Sänger selbst vor, sagte er seiner zeit in einem Interview mit „The Face“: Er habe beobachtet, wie sein Foto auf dem Titelblatt einer LW-Zeitschrift am Kiosk von der Sonne nach und nach ausgebleicht wurde und am Ende fahl und krank aussah. Cocker erzählte damals nicht, dass die Band an der Sinnfrage nagte, dass Keyboarderin Candida Doyle nach 14 Jahren die Gruppe verlassen wollte, was Gitarrist Russell Senior gut zwölf Monate vorher schon getan hatte. Wie diskret Pulp sind, merkt man erst im Nachhinein.

Im Nachhinein sagt Jarvis Cocker, er sei stolz darauf, dass die Band „This Is Hardcore“, diesen Mühlstein von einem Album, überhaupt schultern konnte: „Es gibt nicht viele Musiker, die aus einer so trüben Landschaft etwas zurückgebracht haben. Es war sehr, sehr unangenehm. Als wir jetzt wieder im Studio zusammenkamen, mussten wir uns ernsthaft fragen: Wie rechtfertigen wir es vor uns selbst, eine neue Platte zu machen? Dass unsere Karriere nicht abschiffen durfte und wir eine Vorauszahlung vom Label hatten, waren keine ausreichenden Gründe. Die einzige Möglichkeit war, dass wir Freude daran haben und die Sache anders angehen.“ This is Art-Core: nach einer Motivation suchen, sich nicht kampflos dem Rhythmus des Pop-Geschäftes ergeben. Die finanzielle Freiheit dazu, von der Bassist Steve Mackey spricht, hatten Pulp ja noch. Obwohl Cool Britannia von ihnen nicht mehr viel zu erwarten schien. Und so wurde aus Schatten Licht, wurde aus „This Is Hardcore“ die neue Platte „We Lore Life“, wuchsen Bäumchen durch die Risse im mentalen Stahlbeton. Eine triviale Ungleichung. Tatsache ist, dass es Jarvis Cocker nicht nur um die Kunst ging.“In London bemerkst du die Jahreszeiten gar nicht, weil du in einer von Menschen gemachten Umgebung lebst“, erzählte er kürzlich in einem Video-Interview des Internet-Magazins „Worldpop“, „deshalb habe ich mir einen kleinen Bus gekauft, bin am Wochenende rausgefahren und habe Ausflüge gemacht.“ Der Mensch Jarvis auf Spaziergang, wie damals in Chelmsford, wo er erst zum Affen werden musste. Hier im Wald waren die anderen die Tiere, die Vögel und Füchse. „Wir Menschen denken, wir sind schlauer, nur weil wir auf zwei Beinen gehen und reden können. Aber wir sind immer noch mit den Eichhörnchen verwandt.“

Die Erkenntnis scheint ihn immer noch zu erschüttern, hier unter dem Kronleuchter in Notting HilL „Die Natur hatte für mich als Stadtkind immer etwas Geheimnisvolles“, sagt Jarvis Cocker und reckt seinen beeindruckend zugefeilten linken Daumennagel, „und es hat mich fasziniert, dass ich so entfremdet bin von meinen eigentlichen Wurzeln. Als mich an die neuen Texte setzte, habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht: Diese primitiven, natürlichen Triebe sind ja noch in uns. Es erscheint nur unpassend, sie in der modernen Welt auszuleben.“

Schon vor sechs Jahren hat Cocker auf „Different Class“ (im Song ,J Spy“) davon gesungen, unter anderen Vorzeichen: „My favourite parks are car parks, grass is something you smoke, birds are something you shag.“ Jetzt lauscht er den Vögeln, die dem Hauptdarsteller im neuen Stück „Birds In Your Garden“ zwitschern, er solle sich gegen den Trieb nicht wehren und die Frau beglücken, die ihn erwartet Das dunkle Epos „Wickerman“ spielt in Sheffield (bis 1988 Cockers Heimat) und erzählt, wie der Fluss Porter unablässig durch die Stadt fließt, unter der man ihn beerdigt hat. Cocker hat sogar eine biologische Paraphrase auf seinen Hit „Common People“ geschrieben: Die Ausbeutung der Arbeiterklasse beschrieb er damals im Gleichnis von der höheren Tochter, die zum Spaß das einfache Leben testen will. Jetzt, im Song „Weeds“, sind die Unterprivilegierten das auf kargem Boden wachsende Unkraut, das die beautiful people arrogant besichtigen und herumreichen.

Auch ein Emporkömmling: Jarvis Branson Cocker (38), allein erzogen von der geschiedenen Mutter, Filmstudent, dann Popstar. Vielleicht die prägnanteste Figur, die Post-Bowie-England hervorgebracht hat. Ein Pop-Charakter, designed by himself, dessen Glamour immer von der Schäbigkeit der Vorstadt durchzogen blieb. Der Doppelagent, der den Bessergestellten die Neuigkeiten aus den Zimmern der Arbeitermädchen brachte und sie dann hintenrum verspottete. Dass man von ihm ständig aktuelle Sittenbilder erwartete, ging Cocker aber schon länger auf die Nerven – er wolle kein Berufs-Nordengländer sein, hat er mal gesagt. Gut getan hat ihm auch die berühmte Affare Michael Jackson nicht: Nachdem er im Februar 1996 während Jacksons pathetischem „Brit Awards“-Auftritt auf die Bühne gesprungen war und den (bekleideten) Hintern ins Publikum gereckt hatte, sagten viele, Cocker habe ein Ego-Problem. Wenige merkten, dass hier vor allem jungenhafte Verspieltheit durchgekommen war. Aus Angst vor Attacken von Jackson-Fans steht Cockers Wachsfigur bei Madame Tussaud nun unter besonderem Wachschutz. Den bekommt dort außer ihm nur Adolf Hitler.

Manchmal, sagt Jarvis Cocker heute, muss man die Gedanken zurückfahren auf das Niveau eines Kinderbuches, um einen sicheren Ort im Leben zu finden.

Darauf konnte sich die Band einigen. Im Frühjahr 2000 zog man aufs Land, in ein Studio, durch dessen Fenster sie während der Aufnahmen sehen konnten, wie die Schwäne auf dem benachbarten See landeten. Stamm-Produzent Chris Thomas war dabei, die Laune war großartig. Im August entschied man einstimmig, die kompletten Arbeitsergebnisse wegzuwerfen.

Die Musik hatte keine Atmosphäre“, erklärt Steve Mackey, ohne ins Detail zu gehen. „Es war uns immer wichtig, mit jedem Pulp-Song eine kleine Welt zu schaffen. Das fehlte.“ Und so ging die Band zurück ins Stadt-Studio, kündigte die Release-Pläne und übergab das Ruder an einen Mann, der dafür bekannt ist, Dinge sehr gründlich anzugehen und deshalb sehr lange für sie zu brauchen: Scott Walker hatte Jarvis Cocker im Juni 2000 zum von ihm zusammengestellten Londoner „Meltdown“-Festival geladen (Cocker sang unter anderem „On Your Own Again“ von Walkers 1969er Album „Scott 4“). Die erste zarte Anfrage von damals konkretisierte man nach der Session-Pleite, Walker bekam die Bänder zu hören. Allzu schlecht können sie nicht gewesen sein, denn Scott Walker sagte zu, den zweiten Versuch zu produzieren.

Die Äußerlichkeiten: Walker ernährte sich nur von Müsli-Riegeln und kam täglich mit Baseball-Kappe. „Die Stellung des Mützenschirms zeigte den Stand der Arbeit an“, erzählt Cocker, „wenn es schlecht lief, ging der Schirm langsam nach unten. Wenn wir gut waren, ging der Schirm rauf. Wenn wir fantastisch waren, nahm er die Mütze ab.“ Mackey: „Walker labert nicht herum. Er baut dich auf und macht dich wegen eines Fehlers nicht fertig. Und er sagt nie: ,Geht heim, ich fummel das schon zurecht!‘ Was ihm nicht gefallt, lässt er dir nicht durchgehen.“ Man merkt den beiden immer noch an, wieviel Respekt der große Mann ihnen eingeflößt hat Dass die neuen Aufnahmen spontaner und entspannter klangen, ist ein hübsches kleines Pop-Wunder.

„I’m Desperate“ sagt der rote Button an Jarvis Cockers Pullover. Zurzeit nur das Erkennungszeichen des Desperate Sound System, dessen DJs Mackey und er sind. Beim diesjährigen Reading-Festival haben sie nachts in einer Turnhalle aufgelegt, das sei ganz toll gewesen. Einfache Dinge, die Freude machen. „Ich weiß, ,We Love Life‘ klingt albern und hippiemäßig“, sagt Cocken „aber es ist mir wichtig, das Risiko nicht zu scheuen, dass die Leute mich für einen Deppen halten.“ Die Vögel im Wald tun das sicher nicht.

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