Leiden an Sich

Anfang der 80er Jahre war die britische Musikszene nicht gerade arm an braven Popbands. Depeche Mode war eine der bravsten. Sie machten nette, elektronische Popsongs für Teenager. Sie waren nicht so politisch wie Heaven 17, nicht so ästhetisch wie ABC, nicht so schwül und sexuell wie Soft Ceü. Die vier Milchgesichter von Depeche Mode schienen ungefährlich und nett. Teddybären.

Auf dem Innencover ihres „Singles“-Samplers von 1985 sind Fotos aus den ersten Karrierejahren zu sehen: Unsere Jungs unterwegs in New York, in Hamburg, in Japan – und immer leuchtende Augen, alberne Posen, Touristenstolz. Eine Band wie eine Klassenfahrt. Auf der es auch, wenn man den Fotos traut, keinerlei Mädchen gab. Brauchten die vier womöglich überhaupt keine? Fanden sie Mädchen vielleicht doof? Hätte Martin Gore nicht ständig seinen Oberkörper entblößt – jede Ahnung von Sexualität wäre aus dem Image getilgt gewesen.

Als 1984 die Single „Master And Servant“ erschien, waren wir zum erstenmal überrascht: Sado-Masochismus hatten wir von den Frischlingen nicht erwartet. Als dann auch noch Gerüchte kursierten, die blassen Buben seien unersättliche Bordell-Gänger, war die Irritation komplett.

Anderthalb Jahrzehnte später ist aus Depeche Mode offenbar eine Rock’n’Roll-Band alten, exzessiven Zuschnitts geworden. Ihre letzten Jahre waren beinahe tödlich – für Sänger Dave Gahan, für die Band. Heroin, Alkohol, Selbstmordversuche, Depression, Trennung – die Stichworte einer Krise, die noch immer nicht ganz überwunden ist. Aber zumindest scheint die Existenz der Band vorläufig gesichert zu sein: Die neue CD „Ultra“ erscheint in diesem Monat. Aus diesem Anlaß ein Treffen mit Dave Gahan und Martin Gore im Hamburger Hotel „Atlantic“.

Keine Umgebung könnte geeigneter sein, die Rockstar-Hybris, der Depeche Mode fast zum Opfer fielen, besser zu visualisieren: Durch monströs hohe Türen und unendlich lange Gänge gelangt man in die Suite, die nur unnahbaren Stars vorbehalten ist. Gahan sitzt auf einem überdimensionierten Sofa, raucht mit hektischen Bewegungen und sieht ziemlich ungesund aus. Dünn, bleich, nervös. Seine Hautfarbe kann man nur als grünlich bezeichnen.

Daneben hockt Martin Gore auf einem prächtigen Stuhl: Er trägt vollständig schwarze Kleidung und zieht ein Gesicht, als habe man ihn gerade zum sofortigen Tod durch den Strang verurteilt Echt gute Stimmung hier.

„Ultra“ ist nicht einfach eine neue Depeche Mode-Platte, sondern ein Dokument des Überlebens. Aber wo und wann begann das späte Drama? Uns klingen noch die Interviews zum letzten Album „Songs OfFaith And Devotion“ in den Ohren, als die Bandmitglieder beteuerten, sie hätten ja jetzt Familie, seien ruhiger geworden etc. „Tja, das war vor der Tour“, sagt Gahan mit einem Achselzucken.

Die Welttournee 1993/94, auf der die Band 156 Konzerte gab, wird heute von allen als Ausgangspunkt der großen Krise betrachtet. „Davor hatte unsere längste Tour neun Monate gedauert“, erklärt Martin Gore. „Auch das ist körperlich und geistig schon der totale Schlauch. Aber diese Tour dauerte noch fünf Monate länger und hat uns allen den Rest gegeben.“ Gahan: „Ungefähr ein Auftritt in der Woche ist gelungen, weil eine gute Stimmung herrscht. Der Rest ist Routine. Und die meiste Zeit wartest du und fühlst dich irgendwie nutzlos und verloren. Es war für mich zunehmend schwieriger, mich für die Auftritte zu motivieren. In den letzten vier Monaten lief ich wie mit Autopilot gesteuert: Es war alles das gleiche, egal wo wir in der Welt waren. Sogar meine Garderobe sah immer genau gleich aus.“

Zu den Familien verloren die Bandmitglieder den Bezug, wie Gore erklärt: „Das Privatleben wird durch eine Mammut-Tour zerstört. Die Familien fühlen sich gegenüber der großen Rock-Familie wie Außenseiter – und sind es auch.“

Gahan: „Ich werde ja auf so einer Tournee wie ein König behandelt. Alles, was ich brauche, ist da. Sämtliche Überlebenstechniken werden dir abtrainiert. Als ich wieder zu Hause war, bekam ich Panikattacken, wenn ich nur einkaufen gehen sollte: Mein Gott, wie soll ich das nur schaffen? Ich habe mich nicht mehr aus dem Haus getraut“

Gahan sieht in diesem Entfremdungsprozeß den Hauptgrund für die Drogenprobleme: „Dieses Unterwegssein hat den Boden bereitet für das, was kommen sollte. Ich hatte am Schluß gar nichts mehr in der Hand, ich wußte schlicht und einfach nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Das Bild von mir, daß ich während dieser Zeit aufgebaut hatte, mochte ich nicht“

Schon einige Jahre zuvor war Gahan nach Los Angeles gezogen, während der Rest der Band bis heute in England lebt. Nach der „Violator „-Tour 1990/91 hatte Gahan seine erste Frau Joanne verlassen, nicht ohne ihr öffentlich mitzuteilen, er habe sie „nie wirklich geliebt“. Er zog mit der amerikanischen Journalistin Theresa Conway zusammen und heiratete sie 1992.

Es lag wohl auch an der neuen Umgebung von Hollywood, daß Gahan meinte, sich einen anderen Lebensstil aneignen zu müssen. Eben jenes brave Pop-Image, das Depeche Mode so geprägt hatte, erschien ihm im Grunge-Zeitalter als unerträglicher Ballast: Um hier als cool und zeitgemäß zu gelten, genügte es nicht, sich die Haare zu färben. Das New-Romantic-England der 80er Jahre erschien auf einmal um Lichtjahre entfernt.

Bis dahin hatte sich Gahans Heroinkonsum in Grenzen gehalten: Mit 17 hatte er mal ein bißchen experimentiert, aber schnell wieder aufgehört. Bei Depeche Mode hatte man immer „leichtere“ Drogen bevorzugt (Alkohol, Aufputschmittel, zuletzt auch Ectstay). Jetzt wurde Heroin zu seiner Droge, weil sich sein ganzes Selbstverständnis in Richtung „Rock’n’Roll-Star“ entwickelt hatte: „Ich wollte nicht nur mich selbst und meinen Lebensstil verändern“, erzählt Dave, „sondern ich dachte auch daran, die Band komplett umzumodeln. Ich hatte einmal Jane’s Addiction auf der Bühne gesehen und war unglaublich beeindruckt davon, daß jeder Musiker sich auf der Bühne so bewegte, als sei er der Frontmann. Dazu wollte ich die Jungs auch bringen.“

Wer die an Kraftwerk erinnernde Statik der Depeche-Mode-Choreographie kennt, weiß, daß dies ein aussichtsloses Unterfangen sein mußte. Die Band weigerte sich denn auch standhaft, auf die Rock’n’Roll-Linie einzuschwenken. „Sie wehrten sich mit Recht dagegen“, sagt Gahan heute. „Ich habe an ihren herumdrehen wollen, weil ich Probleme mit mir selbst hatte.“

Immerhin gelang es ihm, „Songs Of Faith And Devotion “ (1993) ein wenig rockiger klingen zu lassen. Sich selbst präsentierte er im ,J Feel You“-Video als dunklen, tätowierten, abgründigen Finstermann. Und die Popwelt rieb sich schon wieder die Augen: Was war bloß aus dem sauberen Jungen geworden, der früher nur in weißen T-Shirts aufgetreten war?

Als Gahan im April 1994, während besagter Mammut-Tournee, vom Selbstmord Kurt Cobains erfuhr, reagierte er geradezu eifersüchtig: Er hatte sich in die Rolle des destruktiven 90er-Jahre-Rock’n’Rock-Stars schon so weit hineingesteigert, daß er dachte, Cobain habe ihm die Show stehen wollen.

Als die Tour zu Ende war, sollte der Alptraum jedoch allererst beginnen. Erste spürbare Folge der Tbur-Tortur war der Abgang von Alan Wilder. Nach 13 Jahren Band gab er eine halbes Jahr nach der Tour seinen Ausstieg bekannt. Begründung: „Der Zusammenhalt in der Band ist nicht mehr da.“ Martin Gore: „Alan sagte uns, daß er schon während der Konzerte das Gefühl hatte, nicht mehr dabeisein zu wollen. Er warf uns vor, seine Arbeit nicht genug gewürdigt zu haben. Man muß wissen, daß er ein Kontrollfreak ist und immer das Gefühl haben muß, alles ganz genau mitzukriegen. Vielleicht haben wir ihn nicht genug einbezogen. Die Entfremdung innerhalb der Band war zu dem Zeitpunkt schon im fortgeschrittenen Stadium.“

Während das Projekt Depeche Mode erst einmal zur allgemeinen Erholung auf Eis gelegt wurde, führte Gahan in den Jahren von 1994 bis 1996 in Los Angeles das Leben eines vermögenden Junkies. Um ihn herum ebenfalls nur Junkies „Freunde“ und Schmarotzer, die es genossen, daß jemand sie aushielt.

Martin Gore und die anderen Bandmitglieder hatten in dieser Zeit nur sporadischen Telefonkonakt mit Gahan. „Wir wußten überhaupt nicht, was wirklich passierte“, erzählt Gore. „Manchmal rief uns jemand aus L.A. an und meinte, es gehe Dave prima, er sein clean. Aber wir wußten nicht, ob wir das wirklich glauben sollten.

Dave gehört für mich schon seit längerem zu den Leuten, an die ich denke, wenn das Telefon kungelt: Jetzt ist er tot, ist dann mein erster Gedanke. Er ist schon ein verdammt labiler Mensch.“ Wenn er mit den Drogen und seinen entsprechenden Freunden allein sein wollte, quartierte sich Gahan ins Sunset Marquis Hotel ein, eine diskrete Nobelherberge in Hollywood. „Ich habe dort nicht nur Heroin genommen“, erinnert er sich, „sondern auch alle möglichen anderen Drogen. Oft trank ich auch nur, aber das war meistens nur der Startschuß. Alles führte letztlich immer zum Heroin, egal womit ich anfing. Als ich gestern hier in Hamburg ankam, sah ich die Hotelbar und verspürte eine ungeheure Gier, sie sofort leerzusaufen. Aber ich bin seit einem halben Jahr clean und weiß, wohin es führen würde, wenn ich nur einen Tropfen trinken würde: Am Ende stünde das Heroin.“

Gahaiis Frau Theresa reagierte zunehmend hilfloser auf die Schußfahrt und ließ ihn schließlich allein im Drogensumpf von Hollywood zurück (inzwischen sind die beiden geschieden). Die „Flucht“ seiner Frau war für Gahan ein weiterer Grund, „noch mehr aufzudrehen.“ Zwar ging er zwischendurch immer wieder in eine Klinik, um sich entgiften zu lassen – aber nach kürzester Zeit fand er den Weg zurück ins Marquis Hotel, wo die Party weiterging.

Im August 1995 folgte der erste Zusammenbruch. Als Gahan mal wieder aus der Klinik kam, entdeckte er, daß sein Haus komplett ausgeraubt worden war, inklusive seiner beiden Harley Davidsons (schließlich war er ja Rockstar!). Gahan ging ins Marquis, um von dort aus seine Mutter anzurufen. Er erzählte, daß er gerade aus der Klinik komme, was sie ihm aber nicht glaubte: Sie hatte das Vertrauen in seine Versuche, dean zu werden, schon länger verloren. Gahan ging ins Bad seiner Suite und öffnete sich die Pulsadern. Als ihn ein paar Minuten später ein Freund fand, war es schon fast zu spät. Einige Tage später wurde er entlassen, stürzte sich aber nur noch tiefer in die Sucht, verbrachte monatelang in einem Haus in Santa Monica, wo er immer lückenloser im Rausch versank. Heroin reichte nicht mehr aus, um die Kicks zu garantieren, also ernannte Gahan Koks zu seiner zweiten Hauptdroge.

Am 28. Mai 1996 mußte erneut ein Freund den Krankenwagen rufen. Gahan hatte zwei Wochen lang keine Drogen genommen, war dann aber wieder im Sunset Marquis aufgekreuzt, wo er sich eine überhöhte Dosis gab. Als er in der Notaufhahme wieder bei Bewußtsein war, mußte sich Gahan nicht nur mit einem Strafverfahren auseinandersetzen – er beschloß auch ein weiteres mal – und diesmal endgültig -, clean zu werden.

Im amerikanischen Exodus-Zentrum, das zuvor schon Kurt Cobain beherbergt hatte, machte er nicht nur einen körperlichen Entzug, sondern setzte sich auch zum erstenmal mit seiner Sucht auseinander. Seit Sommer letzten Jahres ist Dave Gahan nach eigenen Angaben hundetrtprozentig clean. „Seit dem letzten Entzug fühle ich mich auch in der Band wieder wohler“, erzählt er.

„Und das liegt allein an mir, nicht an der Band. Heute muß ich jeden Tag daran arbeiten, nicht wieder anzufangen.“

Schon seit dem Oktober 1995 hatte die Band immer wieder Versuche gemacht, neue Songs aufzunehmen, „aber das war wie ein Roulettespiel“, so Martin Gore. „Manchmal war Dave extrem gut drauf und dann war es wirklich lustig. Aber im nächsten Moment schlug seine Stimmung total um; dann war die Luft im Studio zum Zerschneiden.“ Gahan: „Drogen kontrollieren nun mal deine Stimmung. Du weißt gar nicht, wie du dich fühlst das Gefühl richtet sich nur danach, ob du etwas genommen hast oder nicht.“

Ab er seinen Entzug abgeschlossen hatte, konnte die Band endlich die Arbeit an “ Ultra“ konzentriert aufnehmen. Die ersten Sessions hatten in London stattgefunden, dann war man nach Los Angeles und später nach New brk umgezogen, um schließlich die Arbeit in den Londoner Abbey Road-Studios endgültig abzuschließen. „Gerade dieser letzte Teil der Arbeit verlief ungemein kooperativ“, erzählt Gahan. „Ich war heilfroh, mich wieder unter Kontrolle zu haben.“ Um nach den Drogenexessen überhaupt wieder singen zu können, hatte er zuvor ein Stimmtraining absolviert.

Mit kleinen Sound-Revolutionen oder großen stilistischen Schritten nach vorn wartet „Ultra“ nicht auf. Die Band war froh, unter den Umständen überhaupt ein Album fertigstellen zu können. Um den Depeche-Mode-Sound dennoch behutsam zu modernisieren, holte man den Dance-Produzenten Tim Simenon (Bomb The Bass) ins Studio. „Wir wollten eine Dance-orientierte Platte machen“, sagt Martin Gore. „Und da wir Tim schon lange kannten, haben wir ihn gebeten, die Platte zu produzieren.“ Außerdem gaben sich Ex-Can-Drummer Jaki Liebezeit und der Living-Colour-Bassist Doug Wimbish ein Gastspiel. Die Lücke, die der Weggang von Keyboarder Alan Wilder gerissen hatte, wurde im Studio durch einen Gastmusiker geschlossen, den Simenon mitgebracht hatte. „Aber bis auf weiteres sind wir ein Trio“, so Gore.

Die momentan so populären Jungle-Beats wird man trotzdem vergeblich suchen. Mit der über weite Passagen lähmend depressiven Atmosphäre ist “ Ultra“das Lebenszeichen einer einst leichtgewichtigen Popband geworden, die auf ihre alten Tage unbedingt eine „richtige“ Rock’n‘ Roll-Band sein wollte: „Richtig“, grinst Gahan, „das haben wir uns jetzt bewiesen.“

Und um nicht erneut in den Strudel von drogeninduzierter Selbstzerstörung zu geraten, hat die Band in weiser Erkenntnis beschlossen, zum ersten Mal in ihrer Karriere mit dieser Platte nicht auf Tournee zu gehen. Dave Gahan will sich in Zukunft wieder mehr um seinen kleinen Sohn kümmern. Enjoy the silence.

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