Literarisches aus dem Chatroom

Ein Chat-Roman ist ein Oxymoron, contradictio in adjecto, ein schwarzer Schimmel mithin. Denn das eine ist Literatur. Und das andere ist Sülze. Und wenn das schnöde, dumpfe Ad-hoc-Gebrabbel im Netz tatsächlich einmal literarische Substanz bekäme – mir ist dieser Fall noch nicht untergekommen, kann aber an mir liegen -> dann wäre es wohl auch kein richtiger, also realistischer Chat mehr. Der Autoi; der dieses Phänomen dokumentieren will, kann das nur kopieren und den Leser damit langweilen (zumal niemand einen Chatroom besuchen wird, um zuzuschauen, man will dort doch in erster Linie agieren!). Wenn er es aber literarisiert, ästhetisch aufschmückt, geht das sofort auf Kosten der Wahrscheinlichkeit Hier haben wir das Dilemma, in dem zumindest jede realistische Literatur steckt, wenn sie sich diese Kommunikationsfbrm anverwandelt Satire und Groteske zum Beispiel hätten es da einfacher. Thommie Bayer nun bemüht sich redlich, die Netz-Dialoge der Wirklichkeit abgelauscht klingen zu lassen und das ist genau das Problem seines neuen Romans „Das Aquarium“ (Eichborn Verlag, 336 S. 19,90 €): JUNE: Es ist toll, zusammen Musik zu hören. Es fühlt sich an… Barry: Wie fühlt sich’s an? JUNE: Intim oder so. Ich weiß nicht genau. Es ist tolL Ich fühl mich dir nahe, obwohl du fast nur ein Phantasieprodukt von mir bist. BARRY: Vielleicht deswegen. JUNE: Nein. Wegen der Musik. Barry: Danke Joni (sie gehören gerade „Tbming The Tiger“ ronjoni MitchelL-Red.) JUNE: Was hören wir jetzt? Barry: Ich hätte Lust, die neue Paul Simon anzuhören. Kenn sie auch noch nicht. Sollen wir? JUNE: Gut So oder ähnlich geht das seitenlang. Will man das lesen?Also ich für meinen Teil nicht Natürlich ist das Rollenprosa, aber auf die Dauer eben doch ennuyant Und wenn die beiden Protagonisten sich von ihren mehr oder weniger tragischen Liebesgeschichten erzählen, in längeren E-Mail-Anhängen, dann sind die narrativen Schwächen zwar ebenfalls legitimiert, aber das macht es für den Leser ja nicht leichter. Und wenn dann auch noch Barry, der von sich selbst sagt, er hasse den Phrasendrusch wie sonst nix auf der Welt, nach Junes Lebensbeichte nur enthusiasmiert in die Tasten klimpern kann („Es ist tolL Du kannst schreiben. Alles ist klar, und es geht mir an die Nieren. Durch so ein Wechselbad bin ich noch nicht gegangen“), dann versteht unsereins ja die Welt nicht mehr. Barry allerdings auch nicht! Der wohlhabende Studiobesitzer steigt nach einem Unfall, bei dem er schwer verletzt wird und seine große Liebe ums Leben kommt, aus dem Musikgeschäft aus, um… ja, was eigentlich? Yor allem wohl, um sich die viele freie Zeit im Internet zu vertreiben. In die Wohnung gegenüber, die von ihm aus gut einsehbar ist (das „Aquarium“), zieht eine hübsche Rollstuhlfahrerin. June! Die bemerkt nach einer Weile den Voyeur, gibt ihre Mail-Adresse preis, und so entwickelt sich eine virtuelle Freundschaft,später Liebesbeziehung. Auch sie hat gerade eine etwas verdrehte Beziehung hinter sich, mit einem Tänzer, aus dessen Einflussbereich sie sich nur gewaltsam lösen zu können glaubt Sie provoziert einen Unfall, bei dem ihr Lover stirbt und sie querschnittsgelähmt davon kommt – so erzählt sie es jedenfalls Barry. Dann aber sieht er sie zufallig auf einer Party tanzen, und ihr Schwindel fliegt auf. Weder ist sie gelähmt noch ihr Ex-Liebhaber tot, vielmehr glaubt sie, ihn bei jenem Autounfall zum Krüppel gefahren zu haben, hat ein schlechtes Gewissen deshalb und versucht sich auf seine Entlassung und Pflege vorzubereiten. Aber auch ihr Ex hat sie angelogen; er spielt nur den Behinderten, um sich zu rächen, vor allem aber, um die Entschädigungssumme der Versicherung zu kassieren. Die Story ist pure Kolportage! Aber man ist ganz froh darüber, weil sie Thommie Bayer dann etwas von der fixen Chat-Idee ablenkt und zum herkömmlichen Erzählen nötigt. Das kann der nämlich durchaus, wie er bereits in mehreren Romanen bewiesen hat. Und schließlich ist da ja auch noch die Erotik, wo doch der Verlag schon so vollmundig von einem „schwindelerregenden Pas de deux der Gefühle“ klappentextet. Zwar sind die softpornographischen Exkurse sprachlich nicht von großem Belang – wie auch, wenn der Autor zwei schriftstellernde Dilettanten ranlässt? -, aber man liest das ja doch immer ganz gern. Frank Schäfer

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