Literaturkritiker Fritz J. Raddatz ist tot

Eminent selbstverliebt, liebend, zweifelnd, nörgelnd, larmoyant und klatschsüchtig – und natürlich brillant. Mit 83 Jahren ist der Journalist Fritz J. Raddatz nun verstorben.

Der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz ist tot. Der langjährige Feuilletonchef der „Zeit“ ist am Donnerstag im Alter von 83 Jahren gestorben, wie der Rowohlt-Verlag in Hamburg mitteilte.

ROLLING-STONE-Redakteur Arne Willander über Raddatz‘ „Tagebücher 2002–2012“ (Rowohlt):

Ein alter Mann sieht resigniert seinem mählichen Verfall zu, registriert den Tod von Freunden und Bekannten, mokiert sich über die Eitelkeit der Schriftsteller, klagt über mangelnde Anerkennung und die Verkommenheit des Kulturbetriebs, schwelgt melancholisch in vergangenem Glanz, ordnet seinen Nachlass, denkt über Selbstmord nach und schreibt und schreibt und schreibt: Die „Tagebücher 2010–2012“ sind das furiose Vermächtnis des Fritz J. Raddatz, der vor langer Zeit der Programmleiter bei Volk und Welt, dann bei Rowohlt war, später Feuilleton-Chef der „Zeit“ und seit 30 Jahren vor allem berüchtigt, außerdem Autor von Biografien über Tucholsky, Benn, Marx, Heine und Rilke, eminent selbstverliebter, liebender, zweifelnder, nörgelnder, larmoyanter und klatschsüchtiger Kritiker, Essayist und Ästhet.

Schon der erste Band der Tagebücher war ein Fest der Indiskretion, der Peinlichkeiten und Kümmernisse, der Hoffart und Idiosynkrasie: eine „Riesen-Ejakulation“, wie Raddatz seine größeren Texte gern nennt. Nun reist der mondäne Literat mal zu seiner Kemenate auf Sylt, dann zu seinem Apartment in Nizza, urlaubt grantelnd auf Teneriffa, zählt sein Geld, beschwert sich über 400 Euro Honorar und enge Etats („Kein Geld habe ich selber“), ausbleibende Anrufe („Nie wieder von ihm gehört“) und schmähliche Bewirtung („ein Salat und immerhin eine ganze Flasche Pellegrino“) – eine „Nuttentour des Greises“. Daheim in Pöseldorf ist es kommod, der Freund äußert sich zwar kaum zu seiner Arbeit, kauft aber den Hummer, kocht und spült; Raddatz unterwirft sich einer preußischen Disziplin: „Punkt 8.15 Uhr aufstehen, Punkt 9 Uhr schwimmen, Punkt 10 Uhr Frühstück, und wehe, die Haushälterin, die Wäschebesorgerin, der Hausmeister kommen nicht genau zur Stunde …“ An Halloween klingeln Kinder an der Wohnungstür, Raddatz stürzt „rasend vor Wut“ zum Eingang, „ein widerlicher alter Mann“, er brüllt, die Kleinen weinen – dabei sieht sich Fritz doch als „ein Kindernarr“.

Jedenfalls ist er ein unerbittlicher Kritiker der bizarren Eitelkeiten und Torheiten von Walter Kempowski und Rolf Hochhuth, Peter Rühmkorf und Günter Gaus, Joachim Kaiser und Peter Wapnewski, Jürgen Flimm und Michael Naumann, und die Freundschaft mit Günter Grass ist harten Prüfungen ausgesetzt: Mal schmollt der egomane Nobelpreisträger, weil seine Frau in Raddatz’ Memoiren, „Unruhestifter“, als Dienstmagd beschrieben wird, dann ist der Journalist beleidigt, weil er in Grass’ Tagebuch als „Scharfrichter“ vorkommt, der undankbare Dichter das mitgebrachte Buch (von Raddatz) nicht beachtet oder nicht zum Geburtstag gratuliert. Verbissen verfolgt der Tagebuchschreiber „die Dame Dönhoff“, für deren Zugehörigkeit „zum Kreis um Stauffenberg“ es keinen Beweis gebe, dann empört er sich über den „Oberleutnant“ Helmut Schmidt, der den Eid auf Hitler geschworen hatte. „Frau Maischberger“ ist an anderer Stelle „Frau Maischfeld o. s. ä.“, er schreibt „Cigaretten“, „Inscenierung“, „Caviar“, „en bref“ und „perorieren“, mancher Unbotmäßige ist eine „Magnifizenz“, seine Artikel sind „kleine Gemmen“, er hasst den „kleinen Italiener“, bei dem nach Lesungen gespeist wird, verachtet sein Publikum und isst in Nizza ausnahmsweise im „ordinären Kleine-Leute-Bistro“, wo das Kind am Nachbartisch „wusste, wie man die Muscheln aufmacht und danach die Finger säubert“. Frank Schirrmacher ist „ein guter Zeitungsmacher – ein Herr ist er nicht“, Thomas Bernhard gilt ihm als „Nihilismuskasper“. Überall entdeckt er „Unreinlichkeiten“, bekommt Kopfschmerzen vom billigen Wein, tadelt nach Wiederlesen Goethe und Thomas Mann und ist entzückt von Schopenhauers Aufsatz „Vom Unterschiede der Lebensalter“.

Und „jedennoch“: Fritz J. Raddatz, 83 Jahre alt, mag ein Stutzer und ein Prahlhans sein, der sich rhetorisch fragt, was an ihm das „Honigtopfige“ für Männer („1000“) und Frauen („20“) war – seine Tagebücher sind ein hochnotkomisches Journal des kulturellen Personals der alten Bundesrepublik, aber auch eine pompöse Selbstvergewisserung und anrührende Todesfuge. So unnachsichtig Raddatz’ „dicta“ über Kollegen, Freund und Feind fällt, so fest schaut er in den Abgrund: „Sieht man hier schöne Menschen am Strand, jung, rank, wunderbare Haut, schönes Haar, kleiner spitzer Brötchen-Po (der bei den Frauen, sehr lockend, meist ein Grübchen hat) – dann weiß man: Nie wieder. Nicht nur steht man selber faltig, schlabbernd und mit alter, verfleckter Haut daneben, den Hängearsch im Wind. Man muss sich auch klarmachen: Nie wieder wird man so einen schönen Körper berühren, diese Haut streicheln.“ Rudolf Augstein, Joachim Fest, Peter Zadek, Rühmkorf, Kempowski, sein Freund Paul Wunderlich sterben, und Raddatz fragt sich: „Wie lange noch?“

Im Jahr 2009 gab er die Wohnung in Nizza auf, verschenkte „Beisatztische“ und „Bratenvorlage-Gabeln“, die Haushälterin packte Kochtöpfe ein und weinte. „Tränen unterdrückend, stieg ich in die Straßenbahn, bis zur Place Masséna, ging an die Plage, da, wo der Paillon-Fluss ins Meer strömt, und warf meinen schönen Strohhut hinein. Er trudelte fröhlich auf den Wellen, drehte sich wie zu einer Abschiedsmusik und ging dann langsam unter.“

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