Markus Kavka kommentiert die „100 Most Wanted Videos“ auf MTV – und kommt zu der Erkenntnis, dass dieses Geschäft extrem schnelllebig ist

Am Tag, als das Ergebnis amtlich wurde, rief mich ein Journalist an und stellte die ‚ ge: „Herr Kavka, was haben sie spon gedacht, als ihnen die Top 100 vorlagen?“ Hmpf. Räusper. Naja, Michael Jackson mit „Thriller“ auf der Eins, das war zu erwarten, dahinter Nirva „Smells Like Teen Spirit“, auchT Überraschung. „Und sonst so?“ Von Platz drei bis 100 gibt’s dann eigendich nur noch Überraschungen, wenn man so will. Was einem beim Blick auf die Top Ten sofort ins Auge springt, sind die prominenten Platzierungen von Korn (4), Linkin Park (6) und Limp Bizkit (8). Obwohl die 524 323 (!) Votes im Detail nicht demoskopisch erfasst wurden, kann man eines dennoch mit Gewissheit sagen: Die meisten Stimmen kamen aus unserer Kernzielgruppe, und die ist zwischen 14 und 19.

Wenn man sich dann noch die Veröffentlichungsjahre der platzierten Titel anguckt, wird diese leise Ahnung um so mehr gestützt 30 Stücke sind nicht älter als etwa vier Jahre, stolze 57 sind aus den 90ern, nur zehn aus den 80ern, ganze drei aus den 70er Jahren. Jetzt höre ich natürlich schon alle motzen, die die Gnade der frühen Geburt genossen haben: „Das sind doch im Leben nicht die 100 besten Videos aller Zeiten!“ Doch, für die ja nicht gerade wenigen Leute, die gewählt haben, sind sie es schon. Die 500er-Liste, die wir als Basis zur Verfügung gestellt haben, war unter objektiven Gesichtspunkten komplett – Beleg dafür sind die auffallend wenigen Zusatzwünsche/-vorschiäge, die wir bekamen. Die Rechnung ist ja ganz einfach: Je älter man ist, desto mehr Videos kennt man. Im (Musik)fernsehen gab es, ähem, außer bei meiner kleinen wöchendichen Familienshow „20 Years On MTV“ kaum eine Möglichkeit, ein Video zu sehen, das älter als zwei Jahre war. Woher soll also jemand, der unter 20 ist, Perlen aus den 80ern wie „Siedgehammer“ von Peter Gabriel oder „Road To Nowhere“ von den Talking Heads kennen?

Was noch auffällt: Um in die Top 100 zu gelangen, mussten der Titel bzw. der Künstler schon von einer gewissen kommerziellen Relevanz (gewesen) sein. Alle platzierten Songs waren in den Charts, wenn nicht als Single, dann zumindest auf einem erfolgreichen Album. Es wurde also eher unter dem Gesichtspunkt „Schönes Lied, toller Act“ gewählt – Kleinkunstwerke von Regisseuren wie Chris Cunningham, Spike Jonze oder Michel Gondry landeten unter ferner liefen, außer es waren Clips für Stars.

Was mich als Fan persönlich getroffen hat: das vergleichsweise schlechte Abschneiden von Depeche Mode. Die haben ja eigendich nur Supervideos für Superlieder gemacht. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Zu unseren drei Vorschlägen kamen noch zig andere seitens der rührigen DM-Supporter, weswegen am Ende nur Platz 50 und 38 raussprangen. Wenn man sich da etwas einiger gewesen wäre, hätte es mindestens ein Clip in die Top 10 geschafft.

Zu den großen Gewinnern gehören dagegen Eminem und Metallica (je vier Videos), und im nationalen Wettbewerb Die Ärzte (drei).

Eins ist klar: Würde man diese Wahl Jahr nächstes Jahr machen, sähe das Ergebnis schon wieder ganz anders aus. Aber eine mitten aus dem Leben gegriffene Regel wird immer Bestand haben: Aus den Augen, aus dem Sinn.

10. Eminem – Stan

Ein dramatisches Epos zweifelsohne. Gedreht von Eminems Leib- und Magenregisseuren Philipp Atwell und Dr. Dre, wird hier die Geschichte des psychopathischen Eminem-Fans Stan erzählt, der – frustriert über eine vermeintliche Zurückweisung von seinem Idol – mit der hochschwangeren Freundin im Kofferraum in den Tod rast. Gehört sicherlich zu den beeindruckendsten Clips des noch jungen Jahrtausends, denn selten hat ein Künstler die Debatten um die eigene Person mit so viel beklemmender Intensität und selbstreferenziellen Anspielungen in Bilder umgesetzt.

9. Die Ärzte -Schrei nach Liebe

Ihr Paukenschlag zum ’93er „Comeback“. Und einer in die Fresse der Rechten. Rassistisch motivierte Übergriffe hatten sich gemehrt seit der Wende, rechtsradikale Organisationen erfuhren regen Zulauf. Da mussten die Ärzte ein Statement setzen, im Song wie im Video. Die Textzeile „Zwischen Störkraft und den Onkelz steht ’ne Kuschelrock-LP“ brachte ihnen von Seiten der Frankfurter Schlichtheits-Barden zwar Ärger ein, an dem Riesenerfolg der Nummer änderte das aber natürlich nichts. Ganz im Gegenteil. Das Video ist Ärzte-typisch natürlich nicht ganz ohne Ironie.

8. Limp Bizkit – Take A Look Around

Der Song war Titeltrack des „Mission Impossible 2“-Soundtracks, dennoch sind im Video kaum Filmszenen zu sehen. Stattdessen gibt‘ s einen selbstgebastelten Agentenkurzfilm, in dessen Verlauf die Band in ulkigen Verkleidungen erscheint. Regie führte wie bei den meisten Limp Bizkit-Clips Frontmann Fred Durst. Seine Videokünste haben u.a. auch Korn, Puddle Of Mudd und Staind in Anspruch genommen.

7. A-Ha – Take On Me

Ihre erste Single „Take On Me“ beschert dem Trio aus Oslo ihren größten Erfolg. Päl Waaktaar-Savoy, Magne Furuholmen und Morten Harket stürmen 1985 alle Charts der Welt. Darüber hinaus revolutioniert der Clip alles, was vorher an songbegleitendem Filmmaterial zu sehen war: Halb als Mensch, halb gezeichnet stolpern Morten und seine damalige Freundin durch Raum und Comicheft. Erschaffen hat den Clip Steve Barron. Er benutzte damals als einer der ersten digitale Bildtechniken, die es ihm ermöglichten, einen computergenerierten Zeichentrickfilm zu entwerfen. Barron hat unzählige andere Pop-Videos gemacht, u.a. für Bryan Adams, David Bowie, Dire Straits und Simple Minds. Und er hat einen Superstar kreiert: Michael Jackson. Bis zu Barrons Video zu „Billie Jean“ war “ Thriller“noch ein Album unter vielen. Nachdem MTV „Billie Jean“ dauerrotieren ließ, schnellte die Verkaufszahl in kürzester Zeit von zwei Millionen auf zehn Millionen hoch (heute 47 Millionen).

6. Linkin Park – In The End

Eine der Lieblingsbands der MTV-Zuseher. Zusammen mit Limp Bizkit und Korn gehören sich zu den Speerspitzen der (Achtung! Unwort!) „Nu Metal“-Bewegung. Für die Hälfte ihrer Videos, so auch für dieses, konnten Linkin Park es sich sparen, einen Regisseur zu bezahlen. Bandmitglied Joseph Hahn hat Videodesign studiert und setzt seine Kenntnisse in futuristisch-endzeitlich anmutende Clips um.

5. Michael Jackson -Black 0r White

Das Morph-Monster. Was mit dieser Technik möglich war, hatten Godley & Creme bereits 1985 im Clip zu „Cry“ zart angedeutet, 1991 war die Technik mittlerweile soweit gereift, dass sie auch in Filmen („Willow“, „Terminator2“) angewandt wurde. John Landis (siehe auch „Thriller“) führte Regie. Gaststars sind u.a. Macaulay Culkin, sein Vater George Wendt (aus „Cheers“) sowie Bart und Homer Simpson. Schon wenige Stunden nach seiner Fernsehpremiere war der Clip wegen der legendären „Pantherszene“ in aller Munde.

4. Korn – Freak On A Leash

Sensationeller Clip, keine Frage. Halb animiert, halb gespielt, wird in ihm der Weg einer Pistolenkugel vom Abfeuern des Schusses bis zum Fangen des Projektils durch die Hand eines kleinen Mädchens gezeigt. Dazwischen geht natürlich eine Menge kaputt, und so sieht man recht effektvoll Obst, Lavalampen und andere Gegenstände bersten. Regie führten Jonathan Dayton und Valerie Faris, die schon viele Videos für Smashing Pumpkins, die Red Hot Chili Peppers und R.E.M. drehten. Die animierten Parts stammen vom „Spawn“-Zeichner/Erfinder Todd McFarlane.

3. 2Pac / Dr. Dre – California Love

Hype Williams führte hier Regie. Und wie wir schon aus zahlreichen anderen seiner Werke wissen (u.a. für Busta Rhymes und Missy Elliott), wird bei ihm nicht gekleckert, sondern geklotzt. In diesem speziellen Fall hat er sich gedacht: Gut, dann dreh ich mal „Mad Max“ in sechs Minuten nach, und damit’s noch schwungvoller wird, dürfen sich die Aushängeschilder der Szene im Video die Klinke in die Hand geben. Eine kleine Auswahl: Redman, Method Man, Nate Dogg, George Clinton, Outlaw Immortalz etc. pp. – ein Riesenspektakel. Kostete 600 000 Dollar.

2. Nirvana – Smells Like Teen Spirit

Selbst der Hardcore-Fan muss zugeben: Das Video als solches ist ziemlich unspektakulär. Eine Band, ein bisschen Rauch und Nebel und ein paar Kids, das war’s. Aber diese Schlichtheit verstärkte die Durchschlagskraft eines der wichtigsten Songs der Musikgeschichte von einem der wichtigsten Alben von einer der wichtigsten Bands nur noch mehr. Kurz gesagt: Das Video rockt. Man mochte/möchte die Möbel im kieferholzbewehrten Jugendzimmer beiseite räumen (besser: kaputt hauen) und selbst mitmoshen. Regisseur Samuel Bayer lehnte Kurt Cobains erste Idee für ein Skript ab. Inspiriert durch den Film „Over The Edge“ (1979) sollte ein Aufstand an einer Schule, mit Gewalt, Geiselnahme und Abbrennen der Hütte inszeniert werden. Bayer dazu: „Vergiss es, sonst spielt MTV das Ding nicht.“ Der Rest ist Geschichte.

1. Michael Jackson -Thriller Was soll man lange drum herum reden: Der legendärste Clip der Videogeschichte, der mit allen bis dato bekannten Konventionen gebrochen hat. Das gilt zum einen für die Länge (um die 13 Minuten!) sowie für die narrative Struktur: ein Kurzspielfilm, der als eine Art Horror-Parodie aufgebaut ist und Filme wie George Romeros „Night Of The Living Dead“ (1968) oder John Carpenters „Halloween“ (1978) zitiert. Dazu gibt’s gesprochene Passagen ohne Musik, eine davon vom legendären Dracula-Schauspieler Vincent Price. Inszeniert wurde all das nicht von einem Videoregisseur, sondern von einem etablierten Filmemachen John Landis (u.a. „Blues Brothers“), der sich natürlich auch selbst zitiert, schließlich drehte er mit „An American Werewolf In London“ (1979) die wahrscheinlich bekannteste Horror-Comedy der Filmgeschichte. Und natürlich reflektiert Michael Jackson auch seinen eigenen Status: als Außenseiter, ja gar Außerirdischer. Weder Kind noch Erwachsener, Frau noch Mann, Schwarzer noch Weißer. Ein Thema, das er in unzähligen anderen Videos und Songs wieder aufgreift.

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