Neunte Kunst

Mathias Énards Comic-Debüt „Zuflucht nehmen“: Krieg im Gepäck

Der französische Autor Mathias Énard („Kompass“) hat mit „Zuflucht nehmen“ seinen ersten Comic gemacht. Eine politisch und künstlerisch ambitionierte Verschränkung von Orient und Okzident.

Der Krieg war weit weg/ der Krieg war ganz nah/ Wie der Regen“, schreibt Mathias Énard in seinem gerade erschienenen Gedichtband „Letzte Mitteilung an die Proust-­Gesellschaft von Barcelona“. Diese ebenso schlichten wie melancholischen Zeilen könnte man jeder seiner Figuren in den Mund legen, die seine insgesamt sieben Romane (fünf davon ins Deutsche übersetzt) bevölkern. Denn den Krieg tragen sie gewissermaßen mit sich herum.

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In seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Kompass“ etwa ist er schon im melancholischen Ton der Erzählung verankert, Énards Liebeserklärung an den von ihm innig geliebten Nahen Osten. In Damaskus, Beirut und Teheran hat er einige Jahre gelebt. Er ist ein Reisender und Mittler zwischen Orient und Okzident, der Schönheit und Anmut ­genauso sichtbar macht wie Krieg und Gewalt.

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Cover von „Zuflucht nehmen“
Cover von „Zuflucht nehmen“

Eine entsprechende Geschichte erzählt er nun in seinem ersten Comic, „Zuflucht nehmen“, für den er mit der libanesisch-französischen Zeichnerin Zeina Abirached zusammengearbeitet hat. Er handelt einerseits von der syrischen Wissenschaftlerin Neyla, die im Zuge des Syrienkriegs nach Berlin flieht, und andererseits von der Reise nach ­Afghanistan, die die beiden Schweizerinnen Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart 1939 unternommen haben.

„Mich hat an dieser Reise schon immer der Wendepunkt interessiert, als die beiden mit dem Ehepaar Hackin in Afghanistan ­sitzen und erfahren, dass Hitler Polen überfallen hat“, erklärt Énard. „Drei der vier Menschen, die da zusammensitzen, werden diesen Krieg nicht überleben. Und das Europa, in das die überlebende Maillart zurückkehrt, ist nicht mehr jenes, das sie verlassen hat. Damals flohen die Europäer vor Faschismus, Krieg und Zerstörung. Heute fliehen die Syrer davor.“

Das Zusammenführen von Geschichten und ­Geschichte prägt Énards Schaffen

Als Énard vor zwei Jahren mit dem Leipziger Buchpreis zur Euro­päischen Verständigung geehrt wurde, fand die Historikerin Leyla Dahkli auch eine Erklärung ­dafür: „Er lebt überall dort, wo er nicht zu Hause ist, weil er buchstäblich imstande ist, die Welt zu bewohnen.“ Der Kosmopolit und Weltenbummler Énard ist sich auch sicher, „dass die arabische Welt nicht sehr weit von Europa entfernt ist“.

Énard begeistert sich seit seiner Kindheit für die neunte Kunst und war sogar mal Comic-Kritiker bei „Le Monde“. Weil die Arbeiten der in Beirut geborenen, seit 2005 in Paris lebenden Zeichnerin Zeina Abirached ebenso wie seine Literatur ­kulturelle Brücken schlagen – ihr letzter Comic, „­Piano Oriental“, ist in seiner Annäherung an den Orient so etwas wie das Comic-Pendant zu Énards „Kompass“ –, schlug er vor, gemeinsam eine Geschichte zu erzählen.

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Énards auf den Punkt geschriebene Dialoge werden von einer Grafik erweitert, die im Strich simpel, in Komposition und Bildsprache aber überwältigend ist. Jede Doppelseite in diesem Album ist ein geheimnisvolles Kunstwerk. Und in der Verschränkung von Orient und Okzident steckt auch eine Hoffnung. Denn dass Berlin, einst in Trümmern, heute eine Welthauptstadt sei, in der so gut wie jeder leben möchte, „macht auch mir Hoffnung für den Wieder­aufbau der syrischen Städte und eine Renaissance der syrischen Kultur“.

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