Michael Jackson macht ernst

Als dieses epochale Album im Herbst 1982 erschien, begeisterte es nicht gleich jeden. So wetterte ein gewisser Kid P. in der letzten SOUNDS-Ausgabe (01/83): „Diese Platte wird/darf keinen erregen.“ Ein Foto des Künstlers war dazu mit der entwaffnend simplen Bemerkung versehen: „Michael Jackson singt schön, ist aber leider strohdumm.“ Christopher Connelly vom amerikanischen „Rolling Stone“ gab sich mehr Mühe und sezierte „Thriller“ mit kühlem Sachverstand und durchaus prophetischer Hellsichtigkeit…

Thriller

von Christopher Connelly

Michael Jacksons erstes Soloalbum, „Off The Wall“, verkaufte sieben Millionen Exemplare und warf vier Hitsingles ab. In den drei Jahren seitdem hat sich die schwarze Musik von dem tanzbaren, ultra-smarten Stil entfernt, den „Off The Wall“ noch auf den Punkt gebracht hatte. Von Prince bis Marvin Gaye, von Rap bis Rick James, afroamerikanische Künstler haben mittlerweile reifere Themen – Kultur, Sex, Politik – in ihre Musik aufgenommen, die zudem anspruchsvoller geworden ist. Jacksons erste Solosingle seit 1979 entpuppt sich indes als üble M.O.R.-Ballade mit dem Refrain „das verdammte Mädchen ist mein“, gesungen mit einem zahmen Paul McCartney – der Zug scheint ohne Michael abgefahren zu sein. Aber die Oberflächlichkeit dieses süßlichen Hits verdeckt die überraschende Substanz von „Thriller“. Statt den unbekümmerten Funk von „Off The Wall“ wieder aufzuwärmen, hat Jackson eine würzige LP fabriziert, deren Uptempo-Stücke quälende, dunkle Botschaften offenbaren. Vor allem in seinen eigenen Kompositionen, etwa dem spannenden „Thriller“, umgarnt ein fast obsessiver Sound zahlreiche Hits und entwickelten sich zu einem der erfolgreichsten den bemerkenswerten Text. Und der zeichnet eine Welt, die den 24-Jährigen in die Defensive gezwungen hat: „They’re out to get you, better leave while you can / Don’t wanna be a boy, you wanna be a man.“ Schwierige Zeiten für Jackson seine Eltern haben sich getrennt, er sieht sich einer Vaterschaftsklage gegenüber -, aber er hat erhobenen Hauptes auf die Herausforderungen reagiert. Sein jungenhaftes Falsett, das Hits von „I Want You Back“ bis „Don’t Stop Til You Get Enough“ befeuerte, hat er eingetauscht gegen eine volle, erwachsene Stimme mit grimmiger, melancholisch gefärbter Entschlossenheit. Jacksons neue Haltung gibt „Thriller“ eine tiefere emotionale Dringlichkeit als sie auf allen seinen früheren Arbeiten zu spüren war und markiert damit eine weitere Wasserscheide in der kreativen Entwicklung dieses ungeheuer begabten Performers.

Nehmen wir „Billie Jean“, eine lässige, eindringliche Funknummer, deren Botschaft nicht plumper sein könnte: „She says I am the one / But the kid is not my son.“ Der Party-Geist von „Off The Wall“ hat ihn offenbar in Schwierigkeiten gebracht, nun dämpft er jenen Überschwang mit Argwohn. „What do you mean I am the one“, so fragt er seine Femme Fatale spöttisch, „who will dance on the floor?“ Ein trauriger, fast trauernder Song, dessen Gefühlen jedoch eine wilde Entschlossenheit zugrunde liegt: „Billie Jean is not my lover“ wird im Fade-out des Stücks unermüdlich wiederholt.

Neben dem streitbarsten Track von „Thriller“, dem hyperaktiven „Wanna Be Startin‘ Something“, in dem sich Jackson der Presse, allen Sorten von Gossip und anderen unangenehmen Dingen widmet, verblasst Billie Jean allerdings. Hier sind die Gefühle so stark, dass der Song fast außer Kontrolle gerät. Er beschwert sich, „somebody’s always tryin‘ to Start my baby crying“, und diese Paranoia trägt im Refrain fast bittere Züge: „You’re a vegetable, you’re a vegetable / They’ll eat off you, you’re a vegetable“. Ein Stück Musik, das fast so aufregend ist wie eine Live-Performanee Jacksons aber erheblich unberechenbarer. Natürlich werden all die Texte Elvis Costello keine schlaflosen Nächte bereiten, aber sie zeigen, dass sich Jackson seit der „Hey-lass-uns-einen-losmachen“-Stimmung, die noch „Off The Wall“ bestimmte, deutlich weiterentwickelt hat. Dabei überdeckt die schiere Vitalität des musikalischen Geschehens jeden Anflug von Selbstmitleid. Quincy Jones‘ Produktion – Jackson hat seine eigenen Kompositionen coproduziert – ist sparsamer als sonst und erfrischend frei von Schmalz. Zudem arbeitet er mit dem wohl spektakulärsten Instrument der Popmusik: Michael Jacksons Stimme. Wo andere, weniger begabte Künstler Geigen oder fette Synthesizerteppiche benötigen, braucht Jackson nur den Mund aufzumachen, um tiefste Gefühle zu vermitteln. Diese seltene Gabe und seine Überzeugungskraft verwandeln Material wie „Baby Be Mine“ und „Wanna Be Startin‘ Something“ in erstklassige Tracks und retten sogar „The Girl Is Mine“. Fast jedenfalls.

Der wohl beste Song ist „Beat It“, ein „Dies-ist-kein-Disco“-A.O.R.-Track, wie ich bislang keinen gehört habe. Jacksons Stimme fliegt durch das Stück, Eddie van Haien schaut kurz mit einem herrlichen Gitarrensolo vorbei, und auf dem Backbeat könnte man eine ganzes Gemeindezentrum errichten. Das Resultat ist ein ganz vortrefflicher Dancesong.

Jacksons größte Schwäche war immer sein Hang zum Glitter. Auf „Thriller“ widersteht er diesem Drang, allerdings nicht durchgehend. Das Ende der zweiten Plattenseite, vor allem „P.Y.T. (Pretty Young Thing)“, erreicht nicht ganz das Niveau der anderen Tracks. Und der Titelsong, der zunächst mit jenem unterschwelligen Understatement daherkommt, das die besten Momente der LP auszeichnet, verliert sich in dümmlicher Künstlichkeit und nervt mit einem Rap von Vincent Price.

Jackson hat nie einen Hehl aus seiner Neigung zum traditionellen Showbiz und dem dazugehörigen Glamour gemacht. Seine Talente – nicht nur als Sänger, sondern auch als Tänzer und Schauspieler – könnten ihn zum perfekten Mainstream-Performer er-heben. Ein wahrhaft tückischer Gedanke. Das Feuer von „Thriller“ lässt hoffen, dass Michael noch weit davon entfernt ist, den Lockungen von Las Vegas zu erliegen. Vielleicht ist „Thriller“ nicht Jacksons „1999“, ein grandioser Schritt in die richtige Richtung ist es allemal.

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