Mit seinem dritten Roman „Never Mind Nirvana“ wagt Seattle-Kenner Mark Lindquist das Uncoole: Er lässt die Rock’n’Roll-Ideale fahren zugunsten von Verantwortung und Moral

Pete Tyler geht zum Geburtstag seines Neffen, seine Schwester empfangt ihn: „Als er eintritt, überreicht er ihr ein großes Paket, das in eine Lebensmitteltüte aus braunem Papier eingewickelt ist ,Hübsch eingepackt‘, sagt sie. ‚Es ist ein Ghettoblaster. CD und Kassette.‘ ‚Er ist vier.‘ ,Ich habe eine Mudhoney-CD mit reingetan.‘ Er zieht seinen ausgefransten Shetland-Pullover aus und hängt ihn an den Kleiderständer. ‚Every Good Boy Deserves Fudge. Ein Klassiker.'“

Hier nimmt sich Mark Lindquist selbst auf die Schippe, macht er sich ein bisschen lustig über die eigene literarische Manier, die seinen neuen Roman „Never Mind Nirvana“ (German Publishing) – der dritte, nach beinahe zehnjähriger Schreibpause – aufrüschen soll: Er lässt den Plot immer wieder von Rock-Songs begleiten, atmosphärisch andicken, vor allem aber auch kommentieren. Das kann er ganz gut.

Keine Songzeile, die hier zitiert wird, ist funktionslos, alles hat seinen Sinn, nur manchmal ist der ein wenig offensichtlich. Weil das Buch in Lindquists Heimatstadt Seattle spielt, weil sein Protagonist so eine Art Grunge-Stammvater ist, der mit seiner Band Morph Mitte der 80er Jahre das Genre mitbegründet hat, weil es ständig regnet und der ständige Regen die habituelle Melancholie dieses einsamen Mannes nährt, kurzum, weil alles für Grunge spricht, wird hier eben meistens Grunge gehört.

Lindquist kenntsichgutausin der Szene, zählt Bands auf, die man hier zu Lande wohl nicht mal dem Namen nach kennt (oder doch nur die Addicts), aber man fragt sich manchmal, ob er dieses Wissen wirklich organisch erworben hat. Da gibt es zum Beispiel einen anderthalbseitigen Dialog, in dem Tyler seine potenzielle Heiratskandidatin Esme kennen lernt. Wie sich etwas später zeigt, arbeitet sie beim Label Sub Pop, aber das hat weiter nichts zu sagen, dient nur zur Motivation ihrer Kennerschaft, die sie gleich im ersten Gespräch zeigen darf. Es ist eine Art Grunge-Quiz, das Pete mit ihr spielt, und es liest sich viel zu beflissen, unsouverän, als spielte es vor allem Lindquist für uns, um etwas zu beweisen.

Tyler ist ein loser Geselle. Zunächst jedenfalls. Der Ex-Rocker, der nach dem ersten Album die Karriere zugunsten eines Jura-Studiums drangegeben hat und sich nun als stellvertretender Staatsanwalt verdingt, prolongiert nach Feierabend sein früheres Leben: Sauftouren, Strip-Bars, One-Night-Stands, das alte „Besser verbrennen als verblassen“-Spiel. Nur macht es ihm so recht keinen Spaß mehr, naja, Spaß schon, aber etwas fehlt ihm dennoch, immer öfter stürzt ihn das Alleinsein in Depressionen, die immer schwerer wegzusaufen sind. Was er braucht, so seine fixe Idee, ist eine Ehefrau, aber die Auswahl fallt nicht leicht bei dem riesigen Angebot… Am Ende hat er zwar immer noch nicht geheiratet, aber jetzt meint er es wenigstens ernst Die Generation X kommt langsam in die Jahre. Es fühlt sich noch etwas komisch an, man wehrt sich ein bisschen, aber doch schon eher halbherzig. Diese zweite Adoleszenzphase der Mittdreißiger hat Lindquist hier beschrieben. Und der Rock’n’Roll, der damals die Herzfrequenz vorgab, unmittelbar mit ihrem Leben verbunden war, wächst nicht mit, wird auf einmal zur bloßen nostalgischen Reminiszenz. Die Musik ist hier die Chiffre für das, was Tyler hinter sich zu lassen hat, um erwachsen zu werden, einen unwiederbringlichen Abschnitt der eigenen Biografie, der vielleicht niemals so schön war wie jetzt in der Erinnerung.

Das ist mutig, denn der Autor lässt die Rock’n’Roll-Ideale fahren für so etwas Uncooles wie Verantwortung, Moral, ja sogar Reue -bürgerliche Tugenden also. Andererseits ist das schon seit einiger Zeit Mainstream in den großen Feuilletons, auch jenseits des Atlantiks, die nicht erst seit 09/11 unablässig von der Neuen Ernsthaftigkeit psalmodieren. Und man fragt sich eigentlich die ganze Zeit: Will man die überhaupt? Auch wenn Lindquist hier argumentiert wie die jüngste Fernsehwerbung für Bausparen bei der LBS, er schildert Petes Leiden an sich selbst ebenso tiefenscharf wie warmherzig, so überzeugend, dass man seine allmähliche Verspießerung mit Anteilnahme verfolgt und sogar deren Notwendigkeit einsieht. Der Mann hat einfach Angst, allein zu sterben!

Im Kleinen wird der Grundkonflikt dann noch mal gespiegelt in der bekannten Opposition Nirvana versus Pearl Jam. Pete zieht gegen Endes des Buches noch einmal mit einem Kollegen lustlos um die Häuser, und als seine Begleiterin viel über die „künstlerische Integrität“ und „unglaubliche Reinheit“ Cobains zu salbadern weiß, gibt es erwartungsgemäß Streit. „.Aber die Sache mit Kurt‘, fahrt Helen fort, ,ist doch …‘ .Die Sache mit Kurt Cobain‘, sagt Pete, ,ist, dass er tot ist.“ Und so ist letztendlich denn auch der wortspielerische Titel des Buches zu verstehen – als Warnung!

Die Tendenz dieses Entwicklungsromans mag einem vielleicht nicht gefallen, großartig ist er trotzdem.

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