NIRVANA

Es dauert drei Tage, bis sie die Leiche finden. Sie liegt auf dem Linoleumboden, das linke Bein ausgestreckt, ein Gewehr quer auf der Brust, der Lauf zeigt Richtung Kinn. Unter Kurt Cobains Kopf hat sich eine Blutlache gebildet. Hinter seiner geballten Faust steht eine Zigarrenkiste mit Heroin. Neben dem Körper liegen zwei Handtücher, eine leere Limonadendose, fünf Zigarettenkippen, Camel light. Und sein Abschiedsbrief. In ihm zitiert er in krakeliger Handschrift Neil Young: It’s better to burn out than to fade away. Es ist der 8. April 1994.

Das traurige, ikonische Foto, das Tom Reese über den Grundstückszaun hinweg für die „Seattle Times“ macht, zeigt einen Ausschnitt dieser Szene und geht um die Welt. Es gibt dem Ende der Geschichte ein Bild, so profan und berührend wie ein zufälliger Blick auf ein ungemachtes Bett. Aber was wir hier sehen, ist kein privater Moment. Es ist eine letzte Inszenierung.

Cobain hatte seinen Selbstmord angekündigt, in Songzeilen, Bühnenansagen, Interviews, mit einem knappen Dutzend Heroinüberdosen, einem erfolglosen Versuch mit 50 Tabletten Rohypnol und zuletzt auf einem Pressefoto aus dem Januar 1994: dort hält er sich einen Gewehrlauf in den Mund. Sein Selbstmord ist, anders als die Drogentode von Jimi Hendrix und Jim Morrison, ein bewusst gewähltes Ende: Cobain erklärt sein Scheitern als Rockstar. Die letzten Zeilen, die der 27-Jährige in der Nacht des 5. April in dem kalten Gewächshaus auf seinem Anwesen in Seattle schrieb, richten sich nicht in erster Linie an seine Frau und seine Tochter, sondern an seine Fangemeinde. In seinen letzten Stunden sieht er den verstorbenen Freddie Mercury vor sich, der die Rockstar-Rolle so überzeugt und überzeugend ausfüllte. Cobain kann das nicht. Und er will es auch nicht mehr.

Sein Tod beendet das finale Kapitel Nirvana, das Cobain mit „In Utero“ eben erst aufgeschlagen hatte. Das schroffe, unpopuläre Album verstört Musikindustrie und Millionen „Nevermind“-Käufer gleichermaßen. Es ist ein Großwerk der Verweigerung und ein wütendes Anrennen gegen den Warencharakter des Rock’n’Roll. Hier zerstört sich eine Band selbst. Nicht nur, dass sie die Erwartungen nicht erfüllt -sie gibt sich richtig Mühe, diese Erwartungen nicht zu erfüllen. Nirvana ist das letzte große Aufbäumen, das letzte Nein des Rock’n’Roll.

„Ja, ‚In Utero‘ war ein Statement. Wir wollten nicht die Lieblinge des Mainstream sein. Kurt trug diese schwere Last und stand unter einem irrsinnigen Druck. Das fiel ihm schwer“, sagt der Nirvana-Bassist Krist Novoselic heute, zwanzig Jahre später. „Kurts Tod ist eine Katastrophe, über die ich niemals hinwegkommen werde.“

Cobains Geschichte und die seiner Band, die für eine kurze Ära die größte Rockband der Welt war, ist also die Geschichte einer Selbstzerstörung -und der Zerstörung des Prinzips Mainstream. So wie sich Kurt Cobain, glaubt man seinem Biografen Charles R. Cross, bewusst für Heroin entschieden hatte, plante er ganz bewusst, Nirvanas größten Erfolg, das Album „Nevermind“, auszuradieren. Indem er „In Utero“ aufnahm, glaubte er Grungerock dem Formatradio und MTV wieder zu entreißen. Er habe „Nevermind“ nach der Veröffentlichung 1991 nie wieder gehört, hat Cobain in Interviews behauptet. Und die Aufnahmen zu Nirvanas drittem Album, das dieser Tage 20 Jahre alt wird, waren sein verzweifelter, manischer, von Selbstekel und Ambivalenzen geprägter Versuch, zu einem Ausgangspunkt zurückzukehren, an dem er sich endlich wiederfinden würde.

Das könnte der 1. november 1989 sein. Damals ist Nirvana eine weitgehend unbekannte Band auf ihrer ersten Europatournee. 37 Konzerte, 42 Tage, neun Länder. Sie sehen ulkig aus: der hünenhafte Bassist überragt Sänger und Schlagzeuger um Längen, Cobain muss den Hals verrenken, wenn er Novoselic anspricht. Sie reisen im Fiat-Minivan, der hat zehn Plätze und muss noch Tad mitnehmen, eine andere Grungerock-Band, die wie Nirvana bei dem hippen, aber stets am Rande der Pleite entlang navigierenden Label SubPop unter Vertrag steht. Ihr Drei-Zentner-Frontmann Tad Doyle reist nicht gerne und kotzt jeden Morgen, bevor er sich in den Van quetscht. Auch Cobain hat Magenprobleme und übergibt sich regelmäßig. Was damals niemand weiß: Cobain ist depressiv. Und voller Furor.

An diesem Tag macht der obskure Tross in Rotterdam Station. Cobain soll fotografiert werden und dazu auf einen Barhocker steigen um den Größenunterschied zu Novoselic auszugleichen. „Ich will das nicht“, mault er und tut’s dann doch. Am Abend wird sich Cobain vor kaum mehr als 100 Zuschauern die Seele aus dem Leib singen und wie ein gespannter Flitzebogen auf der Bühne stehen, Gott allein weiß, woher der schmächtige Kerl diese seelenvolle Energie nimmt.

Er wird dem Grunge getauften Brachialrock seiner Labelmates etwas hinzufügen, das Nirvana von allen anderen Bands dieser Szene unterscheidet: Pop. Oder zumindest eine Ahnung davon.

Er wird das Publikum fassungslos und entgeistert in die Nacht schicken und mit seinen Kumpels in eine schäbige Kneipe schlurfen, wo er nichts trinkt, aber Grimassen scheidet. „Der ,Negative Creep‘ aus dem Song, das bin ich“, sagt Cobain an jenem Abend. „Meine Freunde finden, ich sei zu negativ. Aber im Grunde ist es bloß schwarzer Humor. Es gibt einfach zu vieles, das ich lächerlich finde.“ Wenn er lacht, wird sein Mund breit, dann zieht ein jokerhaftes, schmallippiges Grinsen über Cobains Gesicht.

Viele der triumphalen Konzerte, die Nirvana in diesen Wochen spielen, erlebt ihr Sänger, Komponist und Texter als Niederlagen. Er hadert mit Sound und Publikum, mit den kümmerlichen Gagen und den schäbigen Absteigen, den mäßigen Verkäufen ihres eben veröffentlichten Debütalbums und der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit der Band. Tatsächlich aber stehen Nirvana an einem Wendepunkt. Aus der kläglichen, von Seattles Underground-Göttern Melvins protegierten und als bloß eine unter den vielen neuen Grunge-Acts gelisteten Band ist ein Ereignis geworden, eine Naturgewalt. Jeder im Publikum spürt das. Nur Kurt Cobain spürt es nicht.

Und dennoch ist er nie glücklicher als in jenen frühen Tagen, in denen das Aus-und Einladen des Equipments dem Leben Struktur gibt und ihr schlampiges Meisterwerk „Bleach“ nur Eingeweihten bekannt ist. Er träumt davon, Rockstar zu sein. Und er liebt die wachsende Anerkennung der überschaubaren alternativen Rockszene. Als Größen wie Mudhoneys Mark Arm, Black Francis von den Pixies, Kim Gordon von Sonic Youth und sogar Iggy Pop Cobain auf die Schulter klopfen, wird er fast ohnmächtig vor Stolz und Scham. Wer ihn kennenlernt, erlebt einen ambivalenten, zerrissenen Menschen: Cobain wirkt schüchtern und voll beißendem Spott, voll Nihilismus und Sehnsucht, voll Aufbruch und Angst. Ein fettiger Haarvorhang hängt über seinen tiefblauen Augen, durch die er sein Gegenüber minutenlang anstarren kann. Er raucht nicht, er nimmt noch keine Drogen, er trinkt kaum und lacht viel. Dass er sich nicht nur mit seinem kaputten Magen herumplagt, sondern auch mit Selbstzweifeln und tiefer Traurigkeit, ahnt kaum jemand. Bei ihrem Auftritt in Rom klettert Cobain auf einen Boxenturm und brüllt: „Ich bring mich um!“ Er tut es nicht, sondern gibt später in London ein grandioses Abschlusskonzert, über das der „NME“ schreibt, Nirvana seien die Antwort des Grunge auf die Beatles.

Da hin, zur kreativen unbekümmertheit kurz vor dem Weltruhm, will Kurt Cobain zurück, als er am späten Vormittag des 24. Oktober 1992 an der Tür zu Jack Endinos Aufnahmestudio in Seattle klingelt. Er hat ein Jahr hinter sich, das ihn in höchste Höhen katapultierte -und unfassbar abstürzen ließ. Ein Jahr, in dem er der größte Rockstar wurde und das Prinzip Mainstream hassen lernte.

Der Traum ist zum Albtraum geworden. Cobain will ihn verjagen. Dafür gibt es Vorbilder: Die Sex Pistols hatten ihren Plattenvertrag mit dem damaligen Branchenriesen EMI lustvoll sabotiert, den Rausschmiss durch Lümmelhaftigkeit und ein paar anarchische Parolen provoziert, bevor sie überhaupt ein Album einspielten. Punkrock war ganz Pop und Pose. Und Johnny Rotten kein gewöhnlicher Rockstar, sondern ein glamouröser, selbstbewusster Anti-Held. Kurt Cobain ist das nicht und die Musikindustrie hat längst gelernt. David Geffen, Chef des Major-Labels, bei dem mit Nirvana die wichtigste Rockband der Welt unter Vertrag ist, schert sich längst nicht mehr um aufmüpfige Mätzchen.

In England hatte sich Punkrock in kurzer Zeit als bestimmender Gestus in Popkultur und Mode gefräst – in den USA war er fast spurlos am Mainstream vorbeigegangen. Grunge wurde Amerikas zweite Punk-Explosion, etwas heftiger als die erste. Aber auch die Grunge-Revolte der Flanellhemden tragenden Seattle-Bands mit ihrem zwischen Hardrock und Hardcore oszillierenden Sound wäre nie in das Vorstandszimmer eines großen Musikkonzerns vorgedrungen, hätten nicht die Produzenten Butch Vig und Andy Wallace Nirvana auf diese unwiderstehliche Radiotauglichkeit getrimmt.

Vig hatte „Nevermind“ bereits mit Tricks und Samples aufgedonnert, Wallace die Songs schließlich so abgemischt und digital bearbeitet, dass Gitarre, Bass und Schlagzeug klar getrennt, sauber und saftig klangen. Vor allem Dave Grohls Schlagzeugspiel wurde manipuliert: Wallace legte Hall darauf, sampelte Snare und Kickdrum. „Die Platte klingt mehr nach Mötley Crüe als nach Punkrock“, sagte Cobain später. Und lag damit nicht falsch. Das Album war perfekt: Ein brillantes, kristallklares Rock-Monument. Ein Multimillionenseller in Rekordzeit, von Kritik und Publikum als bestes, wichtigstes Rockalbum seiner Generation gefeiert. Mit „Smells Like Teen Spirit“ als Hymne des noch frischen Jahrzehnts.

Anders als bei den Sex Pistols verlief die Mainstreamisierung des genialischen Trios aus Seattle zunächst recht reibungslos. Denn Kurt Cobain hatte zwar ein Unwohlsein, aber kein Anliegen. Wut und Depression formten sich erst nach dem überwältigenden und unerwarteten Erfolg zu einer Anti-Haltung und dem brennenden Wunsch, sich bei „seinen Leuten“ zu rehabilitieren. Doch Cobains politisch korrekten Antisexismus und sein Meckern über die eigene Platte schluckte das System Musikindustrie ebenso achselzuckend wie sein Posieren in Frauenkleidern oder auf dem Cover eines Schwulenmagazins. Cobain begriff: Die einzig wirksame Provokation ist Musik, die nicht funktioniert.

„Nach ‚Nevermind‘ machten wir damals diesen weird rock, laut und hart und seltsam“, sagt Krist Novoselic rückblickend im Gespräch mit dem ROLLING STONE. „Die neue Platte sollte uns zu unseren Wurzeln zurückbringen und zeigen, worum es bei uns wirklich ging.“

Natürlich folgt die Reise rückwärts keinem Masterplan. Dafür ist Kurt Cobain zu kaputt. So sehr er sich nach Anerkennung gesehnt hat, so sehr hasst er nun den Erfolg. Als er für das Cover des ROLLING STONE fotografiert wird, trägt er ein mürrisches Gesicht und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Corporate Magazines still suck“. Über Wochen schläft er in seinem Auto; in dem Haus, das Cobain und Courtney Love nach ihrer Hochzeit beziehen, hockt er stundenlang mit der Gitarre im Wandschrank. Es sind die falschen Leute, die ihn lieben.

In dem Moment, als überall auf der Welt Millionen neuer Nirvana-Fans Fäuste schwingend und Matte schüttelnd in den Konzerten und auf den Tanzflächen stehen, will Cobain nichts mehr davon wissen. Seine Depressionen und Magenbeschwerden nehmen dramatisch zu. Er kotzt morgens Blut, geht übellaunig und aggressiv auf die Bühne, streitet mit seiner Band, Konzerte und Tourneen müssen abgebrochen werden.

Bevor die Proben zu dem neuen, dritten Album beginnen, lässt sich Cobain schließlich im Ceddars Sinai Hospital in Los Angeles einweisen und versucht seinen zweiten Drogenentzug. Ein paar Flure weiter liegt Courtney Love. Während Cobain auf Turkey ist, bringt seine Frau die gemeinsame Tochter Frances Bean zur Welt.

Ein Wahnsinn.

Das letzte kapitel beginnt also an jenem mit 16 Grad recht milden Spät-Oktobertag 1992 am Lake Washington. Cobain hat eine Fender-Gitarre dabei und ein paar Songideen, nichts wirklich Ausgereiftes. Er will eine Handvoll Demos aufnehmen für ein Album, das „Nevermind“ und das verfluchte vergangene Jahr auslöschen soll. Einen Titel hat es schon: „I Hate Myself And Want To Die“. Ein Witz, sagt er.

Kein Witz, erfahren wir anderthalb Jahre später. Roh soll es klingen, und klug. Cobain hat wieder und wieder an Texten gearbeitet, ständig verändert er sie. Er geht zu Jack Endino, weil der wissen muss, was Cobain will. Schließlich hatte der Godfather des Grunge im Januar 1988 die ersten Nirvana-Demos und später ihr Debütalbum „Bleach“ produziert.

Auf dem gleichen Mischpult, vor dem sich nun Endinos junger Assistent Phil Ek, Schlagzeuger Dave Grohl und Cobains treuester Weggefährte Krist Novoselic, den er seit seiner Jugend und dem ersten Black-Flag-Konzert kennt, versammelt haben. Mindestens sechs Stücke wollen sie aufnehmen -am Ende wird nur ein einziger Song wirklich fertig: „Rape Me“, der kontroverseste auf dem Album, das auf Novoselics Einspruch hin schließlich „In Utero“ heißen wird.

„Hate me“, singt Cobain, „Do it and do it again /Waste me /Rape me, my friend“. Es ist sicher nicht zu pathetisch, sich die Musikindustrie als den potenziellen Vergewaltiger vorzustellen -Cobain war diese Deutung recht. Aber „Rape Me“ ist nur einer von vielen Exorzismen, die der Rockstar a.D. auf seinem letzten regulären Album vollzieht. Als es am 21. September 1993 veröffentlicht wird, ist der Song bereits mehrfach überarbeitet worden. Am Ende klingt er mit seiner Laut/Leise-, Sanft/Hart-Dynamik wie ein obszönes Echo von „Smells Like Teen Spirit“.

Die Session mit Endino dauert bloß zwei Tage, danach gehen die drei Bandmitglieder wieder ihrer Wege. Für Cobain heißt das: zurück in einen Alltag, der wie ein endlos geflochtenes Band aus Heroinbeschaffung und Heroinkonsum, Selbstüberschätzung und Selbstekel scheint. Seit „Nevermind“ veröffentlicht wurde, hat sich dieses Band immer fester um seinen schmalen Körper geschnürt.

Vier Monate nach der ersten Session ziehen sich Nirvana in das Studio des unbestechlichen Indie-Königs Steve Albini in Minnesota zurück. Albini gehört zu Cobains Plan, ein Anti-Mainstream-Album zu machen. Denn mit einem Produzenten wie Albini ginge das gar nicht -jedenfalls damals nicht. Und so hatte sich der mit viel street credibility ausgestattete Produzent auch standesgemäß ein bisschen geziert und demonstratives Desinteresse an der berühmten Band gezeigt, ihr dann aber genau den kargen Sound beschert, den sich Cobain wünschte. Zurück auf Anfang.

Nirvanas Plattenfirma sieht dem Treiben mit Argwohn zu. Natürlich wünscht man sich bei Geffen ein zweites „Nevermind“, aber weder mit Cobain noch mit Albini ist das zu machen. Der Tontechniker ist sehr von sich überzeugt und die Anerkennung des Rock-Undergrounds ist ihm wichtiger als ein in Verkaufseinheiten messbarer Erfolg. Zudem produziert Albini nicht im herkömmlichen Sinne – er schneidet mit, er nimmt auf, er lässt die Dinge laufen und befeuert das freie Spiel der Band, die wieder Spaß hat, an dem, was sie macht.

Die Aufnahmen gestalten sich unkompliziert. Es wird viel gelacht und herumgelabert, es scheint tatsächlich ein bisschen so wie früher. Aber das ist es nicht. „Einmal kam ich in den Aufnahmeraum“, erzählt Novoselic, „und da saßen Kurt und seine Tochter Frances am Klavier. Kurt hält sie im Arm und sie drückt auf den Tasten herum. Ich habe sie nicht gestört, nur zugesehen. Schön, dass sie diese Zeit zusammen hatten.“

Die zwölf Songs, die Nirvana in den zwei Wochen bei Albini aufnehmen, sind die intimsten und wütendsten, die Cobain je geschrieben hat. Das Album beginnt mit einer mächtigen Dissonanz und den lakonischen Zeilen „Teenage angst has paid off well/ now I’m bored and old“, dann gniedelt warmer, aufgerauter Bluesrock, wie man ihn heute von Jack White kennt: „Serve The Servants“, der Schlüssel zu „In Utero“, der Schlüssel zu Cobain. Es ist ein Song über sich und seinen Vater, der die Familie früh verließ, mit dem er nun seinen Frieden macht: „I tried hard to have a father/but instead I had a dad/ / I just want you to know that I/don’t hate you anymore“. Ein fast zarter Moment der Unmittelbarkeit.

Der Rest ist Wut. Einige Stücke des Albums sind von allzu offensichtlichem Feedbackfiepsen und Cobains heiserem Brüllgesang geprägt, schwere, unbehauene Brocken, womit Nirvana dem Ziel, von ihrer Plattenfirma und den Schnauzbartfans gehasst zu werden, recht nahe kommen. „Das Album entspringt zu großen Teilen Kurts künstlerischer Vision und drückt aus, wie er sich damals fühlte“, sagt Novoselic. „Ein bisschen dunkel, verdreht, böse; aber auch ein bisschen schön, melodisch, intensiv.“

In letztere Kategorie fallen die großartigen Songs „Pennyroyal Tea“,“Heart-Shaped Box“ und „All Apologies“: Hier gelingt es Nirvana noch einmal, die rohe Brachialenergie und ihr melodisch süßes Pop-Gespür zusammenzuführen. Zwei dieser Songs lässt Cobain am Ende vom R.E. M.-Produzenten Scott Litt neu abmischen, was Albini natürlich auf die Palme bringt und über den vermeintlichen Druck seitens der Musikindustrie zetern lässt. Aber es ist Cobain, der schon kurz nach den Aufnahmen an Albinis Leistung zu zweifeln beginnt. Der Gesang sei zu leise, der Bass zu nuschelig, überhaupt lasse ihn „In Utero“ kalt, wie Cobain dem ROLLING STONE-Reporter Michael Azerrad anvertraut, kaum dass das Album auf dem Markt ist. Die Platte berühre ihn nicht so stark wie „Nevermind“, auch wenn er dessen Produktion hasse. Und -einen Atemzug später lobt er Steve Albini für dessen Arbeit.

Cobain ist ambivalent, er hadert, er schwankt bis zum Schluss. Man darf annehmen, dass er mit jedem Ergebnis unzufrieden gewesen wäre. Die teilweise hymnischen Kritiken, die überraschend guten Verkäufe, all das scheint in der letzten Phase seines Lebens nicht mehr von großer Bedeutung. Am meisten jedoch nagt der Vorwurf, er habe sich Geffen gebeugt – er verbreitet sich als grimmige Legende. In Wirklichkeit träumt Cobain längst davon, Songs zu schreiben, die wie R.E. M. klingen.

Als Kurt Cobain ein halbes Jahr später tot aufgefunden wird, steckt „Automatic For The People“ im CD-Player seines Zimmers.

Was bleibt? nirvanas zerrissenes, wüstes, struppiges letztes Album überdauert als ihr berührendstes Werk – auch ohne die postum hineingedeutete Vorahnung um Cobains Selbstmord. Der Erfolg von „Nevermind“ und die destruktive Kraft von „In Utero“ haben die Musikindustrie und den Mainstream nicht grundlegend verändert -aber nachhaltig irritiert. Doch die Zeiten, in denen sich Bands selbst zerstörten und den Mainstream ad absurdum führten sind vorbei.

Und Grungerock? Neulich ist er wieder aufgetaucht. Als „Grunge-Couture“ in einer Ausgabe der Modezeitschrift „InStyle“.

DIE PRODUZENTEN

JACK ENDINO

Bleach (1989) Gründet und produziert 1985 die Grunge-Band Skin Yard und eröffnet 1986 das Aufnahmestudio Reciprocal Recording, wo er 1988 Nirvanas „Bleach“ produziert. Nach Studioschließung 1991 freier Produzent und Tontechniker für Soundgarden, Mudhoney etc., aber auch Musiker: viertes Soloalbum noch in diesem Jahr.

BUTCH VIG

Nevermind (1991) Bryan David „Butch“ Vig lernt während des Filmregiestudiums Ende der 70er-Jahre Steve Marker kennen und gründet mit ihm eine Band, ein Label und ein Tonstudio. Produziert ab 1983 Platten von Killdozer, dann Durchbruch mit „Nevermind“. Gründet nach Arbeiten für u. a. Smashing Pumpkins, Sonic Youth, Green Day und Foo Fighters mit Marker die Band Garbage.

STEVE ALBINI

In Utero (1993) Gründet 1982 Big Black und spielt auch in verschiedenen anderen Bands, sattelt dann wegen mangelnden Erfolgs auf Produzent und später Tontechniker um. Arbeitet nach „In Utero“ für PJ Harvey, Bush, Joanna Newsom, Iggy &The Stooges u. a. Seit 1992 mit der Band Shellac auch wieder als Musiker aktiv (neues Album für 2014 angekündigt).

SCOTT LITT

In Utero (1993), MTV Unplugged NY (1994) Ende der 70er-Jahre Tontechniker bei Alben von Ian Hunter und Carly Simon. Durchbruch als Produzent von R.E.M.s „Document“, bleibt der Band bis Mitte der 90er-Jahre treu. Musste nach den Aufnahmen zu „In Utero“ einspringen und zwei Songs neu abmischen, produzierte außerdem die „MTV Unplugged“-Session. Weitere Kunden: Bob Dylan, Patti Smith, New Order, Hole.

DIE MUSIKER

AARON BURCKHARD

(Drummer 1987) Melvins-Fan, Burger-King-Mitarbeiter, dann erster Nirvana-Drummer. 1988 wegen Unzuverlässigkeit gefeuert. Gründete 2005 die Band Attic, seit 2011 Screaming Sons Of.

DALE CROVER

(Drummer 1988) Melvins-Drummer, sprang 1988 kurzzeitig ein. Von seinen Demo-Aufnahmen mit Nirvana wurden später neun Songs offiziell veröffentlicht. Kehrte bald zu den Melvins zurück, mit denen er 2013 30-jähriges Bandjubiläum feierte.

DAVE FOSTER

(Drummer 1988) Nachfolger von Crover auf dessen Empfehlung. Rausschmiss, nachdem er betrunken in Streit geriet und zwei Wochen im Knast landete. Später Mitglied von Bands wie Suckerpunch, Psycho Samaritan und Helltrout.

CHAD CHANNING

(Drummer 1988-1990) Fosters Nachfolger, Schlagzeug auf „Bleach“. Wollte aktiver am Songschreiben beteiligt werden -Trennung 1990. Seit 2006 Sänger, Gitarrist und Bassist bei Before Cars.

JASON EVERMAN

(Zweiter Gitarrist 1989) Auf dem „Bleach“-Cover zu sehen, obwohl er bei keinem Stück mitgespielt hat. Wanderte im Juli 1989 zu Soundgarden ab. 2013 nach Militärdienst mit Irak-und Afghanistan-Einsätzen Abschluss eines Philosophiestudiums.

DAN PETERS

(Drummer 1990) Wurde 1990 für eine Single („Sliver“) vor der Tour mit Sonic Youth von Mudhoney ausgeliehen. Ein gemeinsamer Liveauftritt. Nachfolger: Dave Grohl.

PAT SMEAR

(Zweiter Gitarrist 1993-1994) 1977 bis 1980 Germs-Gitarrist, dann solo. Zusammenarbeit u. a. mit Nina Hagen. Wurde 1993 von Cobain für eine Tour engagiert, blieb bis zu dessen Tod. Heute bei den Foo Fighters.

LORI GOLDSTON

(Cellistin 1993-1994) Spielte 1993-94 bei Nirvana-Liveauftritten mit, z. B. bei der „MTV Unplugged“-Session. Danach Zusammenarbeit u. a. mit David Byrne.

DAVE GROHL

(Drummer seit 1990)

Lernte mit zwölf Jahren Gitarre, ging dann zu Schlagzeug über. Seit 1986 bei Scream, nach deren Trennung 1990 bis zu Cobains Tod bei Nirvana. 1994 Gründung der Foo Fighters, daneben zahlreiche andere Projekte (Probot, Them Crooked Vultures, „Sound City“).

KRIST NOVOSELIC

(Bassist seit 1987) Cobains alter Kumpel und Band-Mitgründer. Nach dessen Tod diverse Musik-, Buch-und Filmprojekte, zuletzt Mitwirkung bei Grohls Film „Sound City“(2012) mit Paul McCartney und der Nirvana-Quasi-Reunion mit Pat Smear.

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