Opas Enkel

Alle finden Ferdinand von Schirachs Geschichten toll – nur Maxim Biller nicht.

Ferdinand von Schirach, Anwalt, Autor und Enkel eines in Nürnberg verurteilten Großnazis, sagt, er müsse nur jemandem ins Gesicht sehen, um zu wissen, „was das für ein Mensch ist“. Es gehe ihm wie dem Kommissar Lohmann in „M“, dem alten Fritz-Lang-Film, der nach dem Prinzip ermittelt: „Ich erkenne meine Schweine am Gang.“ Wenn ich in Schirachs Gesicht sehe, erkenne ich auch viel: einen kalten Adligen, der zwar, wenn man ihn danach fragt, lieb erklärt, sein Großvater Baldur von Schirach sei ein Nazi gewesen, den er aber trotzdem als Opa sehr gemocht habe. Verkauft er genau wegen dieser Sowohl-Als-Auch-Haltung fast so viele Bücher wie der Vulgärgenetiker Thilo Sarrazin? Natürlich nicht, denkt jetzt jeder, der Schirach und seine Verbrecher-Stories kennt und ihn tausendmal lieber und aufgeregter liest als David Foster Wallace oder Franz Kafka, weil bei Schirach garantiert immer die Identifikationsfigur des wild gewordenen deutschen Spießers ein nettes, blutiges Rendezvous mit sich selbst und ihrem SM-Alter-Ego hat. Die Liebe der Deutschen zu Schirachs billiger Blut- und-Hoden-Prosa, in der alle Brüste schwer und die Stimmen der Bösen metallisch sind und die mit Carver-Lakonie so viel zu tun hat wie eine bayerische Blaskapelle mit den New Yorker Symphonikern, wird von ihnen, von amusischen Lesern und kopflosen Kritikern, meist so erklärt: Super, wie der dichtende Strafverteidiger zeigt, dass jeder von uns von einer Sekunde auf die andere zum Serienmörder werden kann! Bevor Schirach im „Spiegel“ eine Kolumne bekam, stand genau dort über ihn: „Verbrechen ist für Schirach eine logische Konsequenz aus dem Leben. Das Böse gehört zum Menschen dazu.“ Wirklich? Oder nur wenn er ein Deutscher ist? Oder nur ein deutscher Opa?

Ferdinand von Schirachs Großvater, dem Kommissar Lohmann das Schwein auf jedem einzelnen Parteitagsfoto angesehen hätte, war ein verwöhnter Halbintellektueller, der die HJ groß machte, den Text des HJ-Fahnenlieds schrieb, der als Gauleiter Wiens Juden zur Ermordung in die polnischen KZs deportieren ließ und sich für einen „anständigen Antisemiten“ hielt. Dafür bekam er nur zwanzig Jahre Spandau, und als er rauskam, holten ihn seine drei glücklich strahlenden Söhne ab und nahmen ihn mit nach Westdeutschland, wo er mit den Enkeln Mühle spielte, ihnen Gummibärchen schenkte und den ganzen Tag nach gutem Pfeifentabak roch. „Ich mochte meinen Großvater“, sagt der dichtende Strafverteidiger Ferdinand von Schirach, wenn er nicht über dessen Nazikarriere reden muss – und verschweigt, dass ausgerechnet sein Vater Robert den Entlassenen erst zu sich nach München holte und später ins schwäbische Trossingen. Opa selbst kommt zwar in seinen populären Verbrecher-Geschichten nicht vor, aber Typen wie Opa – nette, feinnervige Normalos, die plötzlich Amok laufen, weil sie zu sehr lieben, zu geil sind oder zu große Angst vor dem Leben haben, so ähnlich wie Opa vor den Juden. Der Anwalt, der ihnen nach der Verhaftung gegenübersitzt, ist genauso ein Typ wie er selbst, Ferdinand von Schirach, und während er das traurige Seelchen vor sich über die Verteidigungsstrategie aufklärt, denkt er in einer protestantisch ekligen Mischung aus Empathie und Selbstmitleid: „Das Vermögen, ein Verbrechen zu begehen, steckt in jedem von uns, wir alle sind mögliche Straftäter.“ Oder hat das vielleicht der reale Ferdinand von Schirach ausgerechnet in einem Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“ gesagt? Für einen Nichtjuden ganz schön chuzpe.

Die Schirachs, die nach Opa kamen, haben alle dieselbe Formel für den Umgang mit dem HJ-Obergangster gefunden – das begreift man spätestens, wenn man „Der Schatten meines Vaters“ liest, das Anti- und-Pro-Baldur-Buch von Ferdinands Onkel Richard, einem anderen großen Stilisten und Fabulierer des Clans, der vielleicht nur deshalb noch blüht und existiert, weil nach dem Krieg ehemalige BDM-Führerinnen und Schirach-Adjutanten für Brot und Erziehung der Schirach-Nachkommen sorgten. Die heuchlerische Schirach-Formel lautet offenbar: Hier – für die Ohren der übermächtigen Alliierten und Alt-68er – die Verurteilung der historische Figur; dort – fürs eigene Gemüt – die liebevolle Solidarität mit dem armen, eingekerkerten Vater und Großvater, der für einen kurzen geschichtlichen Moment so verzweifelt und doof war, dass er im Glauben an den Verlierer Hitler zum Verbrecher wurde. Wer das weiß, kann, wie ich finde, nicht mehr daran vorbeilesen, dass genau aus dieser gewissensentlastenden Dichotomie Ferdinand von Schirach seine literarische Inspiration herleitet. Und man muss nicht in sein Gesicht sehen, um zu erkennen, dass er das im wahren Leben auch nicht anders macht. Man muss ihm nur genau zuhören, wenn er sich bei Interviews ein bisschen zu sehr gehen lässt, wenn er etwa darüber redet, wie er damals den SED-Bösewicht Günter Schabowski verteidigte. „Eigentlich war es wie bei den Nürnberger Prozessen“, beschwert er sich, „weil es darum ging, etwas im Nachhinein zu bestrafen, was im untergegangenen System gar nicht verboten gewesen war.“ Wie zum Beispiel den Holocaust? Ob Opa davon gewusst habe, sagt er in ein anderes Mikrofon, „könne und wolle“ er „nicht entscheiden“. Lieber würde er gern wissen, wie sich der kultivierte Baldur „mit den dummdreisten Parolen“ der Nazis „gemein machen konnte“. Wagalaweia, da ist sie wieder, die Melodie, die alle anständigen Deutschen seit dem Zusammenbruch pfeifen!

Kann man etwas dafür, dass man der Enkel eines Naziverbrechers ist? Nein, natürlich nicht, finde ich, nicht einmal dann, wenn man als öffentliche Figur alles dafür tut, um ihn insgeheim als armen Verführten und weniger als Täter darzustellen. Ich finde aber auch, dass diese historischen Rechtfertigungsstrategien von Opas Enkel allen anständigen Deutschen von heute bewusst sein sollten, die die unschuldigen Verbrecher in Ferdinand von Schirachs Büchern so lieben, als fänden sie es tief drin auch cool, ein Schwein zu sein.

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