Peter Glaser auf literarischer Reise

Mit brennender Schreibmaschine suchte Peter Glaser als Punk-Schriftsteller nach den Urknochen der Literatur, danach tauchte er als Kolumnist tief ins Datennetz, bis ans Herz des Computers. Nachdem er im vorigen Jahr den Bachmann-Preis gewann, erinnert er nun mit einem fabelhaften neuen Buch daran, dass auch die Schriftsteller von der Freiheit profitieren, die die Punks erstritten haben.

An der Wohnungstür empfangt mich Frau Bandini, „meine Freundin“, hat sie Peter Glaser am Telefon genannt, die auf eine ziemlich nette, sympathische Weise aussieht wie die böse Fee im Märchen. Links neben der Tür steht ein Rollstuhl. Glasers Rollstuhl. Heiza, sein alter ego aus dem Debütroman „Der große Hirnriss“, fallt mir ein, der schon mit Anfang 20 am Stock geht, weil seine Knie von schlimmem Gelenkrheuma geplagt werden. Die Frau in Schwarz fuhrt mich ins Arbeitszimmer – einen langen Flur entlang, der die Wohnung in zwei Hälften teilt. Ein riesiges Bücherregal auf der rechten Seite. Ganz hinten rechts steht die Tür bereits offen. „Hi“, sagt Glaser grinsend und schiebt sich mir auf einem Schreibtischstuhl mühevoll entgegen. Seine Beine kann er kaum noch bewegen.

Frau Bandini, die sich ihren schwarzlackierten Fingernägeln zum Trotz als durchaus gute Fee erweist, bringt uns Kaffee, und dann fangt er auch schon an zu erzählen, obwohl wir eigentlich noch beim verabredeten Warmwerden sind: Dass er glücklich darüber sei, sich nach über 20 Jahren dem Literaturbetrieb wieder genähert zu haben, dass die Öffentlichkeit ihn nach dem Bachmann-Preis und dem Erscheinen seines neuen Prosabands „Geschichte von Nichts“ (bei Kiepenheuer & Witsch) wieder vor allem als Schriftsteller wahrnehme und eben nicht mehr nur als Journalist und Computer-Spezialist, dass er das Spiel ganz gern mitspiele, auch Lesungen mache… Also, Aufnahmetaste drücken! Und zunächst die Frage nach den Ursachen für diese lange Abstinenz.

„Das entwickelte so eine Dynamik in den 90er Jahren, da war ich als Computer-Fuzzi so weit im Rampenlicht, dass ich – als das mit dem Internet so richtig explodierte – fast nur noch aus dem Bermuda-Dreieck berichtet habe, also Computer, Online, Internet. Es ging dann aber relativ schnell, dass ich gemerkt habe: Die Ironie, mit der ich die Dinge ganz gern betrachte, denn so kann man ja zeigen, dass der Mensch immer noch der Souverän ist – zumal im Technikbereich sehr wenige Leute schreiben, die das entscheidende Quentchen Energie noch obendrauf legen… also ich habe gemerkt, dass sich meine Ironie langsam verwandelt in so eine Art Sarkasmus. 1995/96 haben wir ja alle an der Gründung einer neuen Religion teilgenommen, wo Sinn durch Geschwindigkeit ersetzt worden ist. Naja, und dann habe ich mich auch ein paar Mal zu oft dabei erwischt, wenn mich jemand gefragt hat:, Was machst du? wie ich geantwortet habe: Eigentlich bin ich Schriftsteller. Ich wollte dieses ,eigentlich‘ endlich wieder loswerden. Und da war der Bachmann-Preis natürlich ein Sterntaler, der mich in einer Sekunde wieder aus dieser Verlegenheit befreit hat.“

„Das war schön und schrecklich zugleich, insofern, als ich in Interviews gleich nach der Preisverleihung sinngemäß gefragt worden bin, wie ich das denn habe ertragen können, all die Jahre in diesen schlimmen Niederungen des Journalismus mich aufhalten zu müssen, und dass ich doch jetzt endlich wieder in den Höhen der Literatur angekommen sei…“ Er schüttelt belustigt den Kopfüber so viel Ignoranz. „Wir sind damals angetreten, die Unterscheidung von Literatur und Journalismus aufzuheben oder doch zumindest durchlässiger zu machen. Ich habe immer schon für Zeitungen geschrieben und mich in Bereichen getummelt, bei denen ohnehin die Tür etwas offenstand, also Kolumnen geschrieben, Feuilleton-Sachen. Ich habe auf diese Unterscheidung nie so viel Wert gelegt. Mir war dieses amerikanische Modell recht sympathisch, wo so jemand wie Tom Wolfe eine große Reportage schreibt, die dann als Buch kommt.“

Das Problem ist nur, das man hier zu Lande auf diese Art literarisch nicht reüssieren kann. „Das ist genau das Problem“, sagt Glaser. „Und auch die Herstellung ist nicht ganz einfach. Ich glaube nicht, dass man hier zu seinem Chefredakteur gehen kann: Hör zu, ich klinke mich jetzt mal ein Jahr aus und mache ein Buch…“

Aber selbstredend gab es genügend Leser, denen durchaus aufgefallen ist, dass die Texte – nicht zuletzt die „Tempo“-Kolumnen – literarisch gearbeitet waren. Eine Auswahl („Neues im Westen. Glasers Heile Welt“) ist ja dann auch als Buch erschienen.

„Ich habe immer versucht, über die Sprache an die Dinge heranzugehen. Wenn man das ganz stark verkürzen will, meine 20-jährige Beschäftigung mit Technologie, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass Sprache die größte und schönste Technologie ist, die wir jemals entwickelt haben. Und diese Ausflüge in die drahtgebundene Technologie, das war schon alles ganz interessant, aber im Vergleich sind 26 Buchstaben, aus denen man ganze Universen errichten kann, etwas wesentlich Eleganteres, eleganter als irgendwelche Rechner, die einem dauernd abkacken…“ Er lacht.N

un nimmt man diese Zeit in den so genannten journalistischen Niederungen schon als einen deutlichen Bruch wahr, er selbst ja auch. Ich frage ihn, ob es bei ihm nie die Idee gab, einen Roman oder doch etwas im strengen Sinne Belletristisches folgen zu lassen.

„Doch! Ich arbeite seit 14 Jahren an einem Roman.“ Jetzt muss ich lachen: Also doch, das alte Problem… Glaser verzieht keine Miene, offenbar kennt er diese Reaktion. „Naja, bei einigen Freunden, die davon wissen, ernte ich so etwas wie freundlichen Hohn, das ist so eine Art Running Gag geworden. Der einzige, der sich diese Ironie immer verkniffen hat, war Helge Malchow, mein Verleger bei Kiepenheuer & Witsch. Ich hab ihm immer gesagt: Helge, du kriegst deinen Roman, aber das dauert…“

„Und das hat verschiedene Gründe. Ich bin Autodidakt und habe Lust gekriegt, mich auf ein Thema richtig einzulassen, und bin dann in die altägyptische Geschichte, die Beschäftigung mit Menschheitsgeschichte, also in die Historie im Großen reingeknallt. Ich bin durchgestartet, und man kommt da vom Hölzchen aufs Stöckchen. In dem Roman geht es um die Nase der Sphinx, das ist der Plot. Das fing an mit einer kleinen Zeitungsmeldung, in der stand, dass die Ägypter von den Engländern die Nase zurückwollen. Ich habe einen Stoff gesucht, an dem man ein bisschen Zeitgeschichte erzählen kann und eine Liebesgeschichte. Außerdem: Wenn man viel für Zeitungen schreibt, dann ist man eher so eine kleinteiligere Arbeitsweise gewohnt, es ist dann schwierig, diesen Schritt zu tun und zu sagen, ich springe jetzt ab, das hat ja als Freiberufler auch mit existenziellen Sorgen zu tun.“

Aber für die „Geschichte von Nichts“, die Titelgeschichte des Buches, hat er dann doch eine Auszeit gewagt und seinem Kontostand beim Sinken zugesehen – vor allem, weil die Einladung durch den Literaturkritiker Denis Scheck, beim Bachmann-Preis 2002 in Klagenfurt zu lesen, schon die zweite war und er beim ersten Mal abgelehnt hatte. Ein drittes Mal wird man nicht gefragt, sage ich. Und er nickt. Ja, und andere verkaufen für diese Chance ihre Großmutter. Ich habe also acht Wochen nur an der einen Erzählung geschrieben. Es war nicht nur die technische Arbeit, es war etwas, das ganz tief ging. Ich habe mir gesagt, ich gehe ins Dunkle, ich möchte mal wieder wissen, was ist mit mir und was ist mit der Welt Und ich weiß nicht, ob ich komplett scheitern werde, aber ich versuch’s einfach.“

Nun, die „Geschichte von Nichts“ ist alles andere als gescheitert, das hat ja sogar die Jury erkannt. In kurzen, die eigentliche Handlung stark komprimierenden Episoden, die durch ihren kontrollierten Beschreibungsfuror bestechen, verfolgt der Ich-Erzähler seine Tante Nelly von Kairo über Griechenland nach Hamburg, findet sie dort sterbend in einem Krankenhaus und bleibt bei ihr bis zum Tod. Auch Stella, seine Liebe, verliert er. Und am Ende fährt er mit dem Taxi ins Nichts: „Es war die letzte milde Nacht in diesem Jahr, und wir fuhren mit offenem Schiebedach, und es war nicht nur, als würde wir mit einem Auto über die Erde fahren, sondern mit der Erde wie mit einem Cabrio durch die Unendlichkeit, das Zarte und Offene der Atmosphäre über uns, und unser Haar wehte hinaus in die kalte Weite des Weltraums.“

Ist da tatsächlich nur das Nichts? Was solche literarischen Epiphanien zeitigen kann, muss ja wohl doch ein Etwas sein. Und das sollen Glasers enorme Arbeit am Wort und seine Beschäftigung mit den profanen Kleinigkeiten dann auch einschärfen – es ist alles eine Frage des genauen Beobachtens: „An einem der Fenster in der Wohnung in Kairo gibt es ein Fensterbrett aus hellem Holz, in das sie im Lauf der Jahre eine dunkle, seidige Mulde hineingelehnt hat. Als Kind konnte ich nicht verstehen, wie jemand an einem Fenster lehnen und auf eine Straße sehenkann, auf der es nichts zu sehen gibt als eine Straße und Leute. Dann zeigte Tante Nelly mir, was es zu sehen gibt, und die offenen Augen gingen mir auf.“

„Ich bin ja ein verhinderter Musiker“, sagt er. „Ich glaube, man merkt meinen Sachen an, dass ich viel mit Musik zu tun habe, weil ich mehr an Stimmungen und Assoziationen interessiert bin. Auch meine Kolumnen waren eher wie eine Single, also etwas, das man in drei oder fünf Minuten mitnehmen kann, und hinterher ist man in einer anderen Stimmung. Was mich nie wirklich interessiert hat, waren diese diskursiven Dinge, also etwas von A nach B abzuhandeln. Und die .Geschichte von Nichts‘ ist im Grunde genommen eine Uterarische Entsprechung zur Ambient-Musik, also die größtmögliche Reduktion. Ich wollte eine Geschichte schreiben, in der nichts passiert, eine Geschichte, in der jemand verloren geht, aber auf eine Art und Weise, wo man nicht das Gefühl hat: großes Drama oder deutsche Beziehungsliteratur oder so etwas, vielmehr schwebte mir so eine großstädische fersion von Melancholie vor, die ja auch etwas Süßes hat Wenn man das mit etwas Ironie würzt, dann kann das durchaus ein attraktives Lebensgefühl sein.“

Mittlerweile also kann sogar Ambient als Muster dienen. Früher war Punk die einzige Referenz. „Ich habe das Glück gehabt, dass ich 1978 nach Düsseldorfgekommen bin und mit einem Musiker zusammen gewohnt habe, mit Xao Seffcheque (einem ebenfalls aus Österreich stammenden Musiker und Autoren, der noch heute mitFehlfarben-Sänger Peter Hein in der Band Family 5 spielt – d. Red.). Unser Wohnzimmer war praktisch ein Studio. Das lief mir alles entgegen. Das Tolle an der Zeit damals war: Man stand morgens auf, und man hatte das Gefühl, die Luft ist geliert, voller Potenzial, voller neuer Möglichkeiten. Es gab dauernd etwas zu tun und eine Unendlichkeit an Möglichkeiten, die sich innerhalb von Tagen, Stunden eröffnet hat.“

Was einem als Nachgeborenem, der Punk und NDW erst richtig wahrgenommen hat, als die längst in Dieter Thomas Hecks „Hitparade“ angekommen waren, ein bisschen neidisch macht, ist das Bewusstsein der Protagonisten, bei etwas gänzlich Neuem dabei zu sein. Im Nachhinein kann man den Stolz und auch das Pathos leicht belächeln, mit denen man bisweilen die neue Haltung abgefeiert hat („Was ich will, ist Ironie und Schönheit“, bramarbasiert Heiza im „Hirnriss“), aber wer sich darüber lustig macht, sollte sich daraufhin auch noch mal seine Konfirmationsfbtos ansehen. Diese totale Gegenwärtigkeit, das Gefühl, die Welle oben auf der Schaumkrone abzureiten, das muss schon sehr inspirierend gewesen sein.

„Absolut. Wir saßen abends beisammen. Xao hat seine Gitarre genommen und spielte etwas von Leonard Cohen, und ich habe dann auf die Melodie etwas von Mittagspause draufgesungen, Xao macht das Teac an, das Vierspurtonbandgerät, und zwei W>chen später hatten wir unsere O.R A.V.-LP zu Alfred Hilsberg geschickt, es lief alles so en passant. Am nächsten Tag kamen Thomas Schwebel und Peter Hein mit einem Plastik-Saxofon aus dem Kaugummiautomaten, dafür haben wir noch Arrangements gemacht…“ Zum ersten Mal lacht er laut auf, freut sich über die eigene Frechheit von damals. „Man wusste, da gibt es Alfred Hilsberg in Hamburg. Schick es ihm, der hört sich das an! Wir haben dann eine halbe LP gemacht Auf der anderen Seite war so eine All-Star-Band mit Leuten, die in diesen Jahren alle berühmt geworden sind: Albert Oehlen am Schlagzeug, Gabi Delgado, Peter Hein hat gesungen – JEin Loch ist im Eimer‘, fünf Minuten lang. Die Rückseite war noch frei, und da kam unser Band dem Hilsberg genau richtig. Innerhalb von sechs Wichen kam die fertige LP aus dem Presswerk. Da war ich als Autor natürlich enorm neidisch auf den Musiker in mir. Auch deshalb sind wir damals verstärkt auf Zeitungen und Magazine zugegangen, weil wir gesehen haben, das ist ein Medium, wo eine gewisse Umschlaggeschwindigkeit gewährleistet ist, wo man aktuelle Präsenz haben kann.“

Peter Glaser ist ein wortreicher, assoziativer Erzähler, der sich seine Stichworte nicht selten selbst gibt. Noch bevor ich ihn fragen kann, wann das für ihn alles anfing, hat er die Frage bereits beantwortet. „Ein Schlüsselerlebnis waren Kraftwerk. Weil die schon sehr früh ein bedeutendes Statement zur Informationsgesellschaft gegeben haben. Nämlich, wie man diesen ganzen Overload handhaben kann. Als in den 70ern die Synthies aufkamen, haben alle ihre Geräte aufgedreht, und da gab es dann diese Waber-Musik. Und dann kamen Kraftwerk und haben gesagt: ,Okay, da ist eine Maschine, die bietet mir 100Milliarden Variationen von einem Ton an, und ich möchte gern diese fünf, danke!‘ Das war ein totales Erweckungserlebnis, ich habe die 1980 in Düsseldorfin der Philippshalle gesehen. Und wo sich mein Hirn förmlich überschlagen hat: Die kamen mit einem Studio auf die Bühne! Da habe ich begriffen, dass ein Studio ein Instrument ist Es hat dann 20 Jahre gedauert, bis das handhabbar geworden ist für viele.“

Würde er Kraftwerk also dem Punk zuschlagen? „Die sind damals in Düsseldorf natürlich attackiert worden von den Prolo-Punks, weil die das Signalement, das Kraftwerk hatten, immer sehr elitär, großbügerlich sozusagen, nicht leiden konnten, auch diese Art der Ironie. Da gab es immer ziemliche Reibungsflächen zu den Lederjacken-Punks, aber in Wirklichkeit waren das Prügeleien in der Familie. Diese inszenierte, gewagte Kiste und die raue Sicherheitsnadel-Nummer, das waren im Grunde zwei Seiten von einer Medaille. Heute hat sich der Begriff ja auch verschoben, heute ist Punk der Oberbegriff.“

Da sei es schon durchaus anrüchiger gewesen, sich als Literat zu erkennen zu geben. „Man hatte den Status von einer alten Dame, der über die Straße geholfen werden muss. Literatur war das Letzte, das Allerletzte. Wenn man sagte, man ist Schriftsteller, dann konnte man von Glück sprechen, wenn man nicht einen in die Fresse gekriegt hat. Aber Musikjournalismus war absolut respektiert. Das war der Rettungsanker, für ,Sounds‘ zu schreiben, das war noch möglich. Es war auch noch möglich, Bücher zu machen in der Tradition der Underground-Literatur der 70er, so diese Cut-up-Sachen von Burroughs und so weiter. Aber im Musikjournalismus gab es ganz viele Leute, die literarisch schrieben, und bei denen ich es heute noch bedauere, dass die nicht mehr schreiben, weil ich glaube, dass da etwas verlorengegangen ist“

Ich frage ihn, was bei ihm verloren gegangen ist, wie sich sein Schreiben in all den Jahren verändert hat. „Ich interessiere mich jetzt zunehmend wieder für Formen, weil ich glaube, dass wir 20 Jahre lang die Welt zerlegt haben in kleine Stücke, das war Punk und Neue Deutsche Welle. Es gab nur noch die Möglichkeit der Ironie, also durch einen indirekten Zugang die verbrauchten Ausdrucksmittel wieder lebendig zu machen. Diese rebellische Geste der 60er und 70er Jahren, die konnte ich im Plattenladen kaufen, diese Pose war wie Klamotten, man konnte die einfach so überziehen. Deshalb war Punk so eine immense Anstrengung, so eine Anti-Ästhetik, gar keine Richtung oder eine Jugendbewegung, sondern wie Diedrich Diederichsen mal ganz richtig gesagt hat, eine Sammlung von Anti-Haltungen. Wobei es nicht nur die Anti-Haltungen waren, die mich interessiert haben, sondern auch die Affirmativ-Strategien.“

„Ich habe mich aber auch beim Schreiben des neuen Buches dann mehr und mehr gefragt, wozu hat das alles geführt, womit wir vor 20 Jahren oder noch länger angefangen haben, diese Ironisierung, die dann in den 90ern zu so einem Kampfbegriff wie Spaßgesellschaft geführt hat, und bin schon zu dem Schluss gekommen, dass diese Richtung mittlerweile in einer Phase der Dekadenz angelangt ist Die Kugel runterrollen lassen ist immer leicht, diese Entgrenzungen und Enttabuisierungen und so weiter, das sind ja in der Zwischenzeit auch Werbe-Vollautomatiken geworden. ,Dann machen wir halt noch einen Hauch von Kinderpornografie in die Werbung hinein.‘ Irgendwann stellt sich doch die Frage, wie kommen wir den Berg wieder herauf. Und rauf ist anstrengender als runter. Runter rollt die Kugel, und rauf muss man anfangen, sich zu überlegen, wie mache ich das, man muss sich mit Form beschäftigen.“

Ironie und Affirmation gehören zu den Leitbegriffen der Provokations-Ästhetik des Punk. „Töte sie durch Umarmung!“ Mehrfach kommt Glaser in unserem Gespräch darauf zurück, und mit spürbarer Begeisterung und einiger Süffisanz erzählt er von einer der „Sternstunden“ dieses Widerstandskonzepts. „Nach den Unruhen in Zürich, ,Züri brennt‘, gab es eine Diskussion im Schweizer Fernsehen, und das sind zwei Vertreter aus dem Jugendzentrum eingeladen worden, ein Mädchen und ein Typ, und man hat natürlich erwartet, dass da Punks kommen, aber die haben sich richtig in Schale geschmissen, sie kam im Kostüm, er im Anzug mit Krawatte, also richtig Wave, und die haben einfachdas, was die Gegenseite hätte sagen wollen, ironisch für sich in Anspruch genommen. Die fingen an zu reden: ,Die Jugendlichen gehören an die Wand gestellt!‘ Immer so einen kleinen Tick überdreht. Und man merkte dann, wie die konservative Seite ins Schwimmen geriet: ‚Moment, Moment, das ist unser Text, aber so ganz auch nicht…‘ Und die haben die ganze Zeit versucht, ihre Definitionshoheit wieder aus der Ironie zurückzuholen. Das war grandios, aber so was kann man natürlich nicht permanent wiederholen.“

In seinem „Explose“ zum „Rawums“-Sammelband versuchte Glaser nun diesen Punk-Impuls für die deutsche Literatur fruchtbar zu machen – gegen die Poesie der „Barte“, gegen diesen abgelebten Teesocken-Protest, gegen „Betroffenheit“, „Nachdenklichkeit“, „Botschaft“, „Innenleben“, „Tiefsinn“, „Einfühlsamkeit“ etc. Diese „Gebetsmühle des Andersdenken“ sei längst Staats- und gesellschaftskonform, deshalb müsse sich die Literatur wieder radikalisieren. Entsprechend wünscht er sie sich: „ungebremst von ameisenhaft durcheinanderkrabbelnden Bedenken; selbstsicher. Adrenalintreibend, störend und ungehalten. Schnittig, schräg, witzig. Treffend.“

Und „treffend“ war nicht einfach so dahingesagt. Die Literatur sollte ja eben nicht bloß Geschmackssache sein, sondern eine Notwendigkeit, eine Weiterentwicklung aus guten Gründen. Neben allem Geschimpfe hatte Glaser dann auch tatsächlich noch ein argumentatives Ass im Ärmel: das Realismus-Prinzip! In einer gewandelten Lebenswelt sei die Literatur verpflichtet, so sie es mit der Wirklichkeit aufnehmen wolle, entsprechend zu reagieren, sich ebenfalls anzupassen. An eine „immer geschlossener vernetzte elektronische Umwelt“ etwa: „inmitten der Magnetic Media Metropolis werden neue Sichten überprüft und der eigene Stand, werden neue Geschichten geschrieben. Zu viele Gefühle sind nur behauptet und eigentlich gar nicht mehr vorhanden, oder Kino-Gefühle geworden.“ Glasers Ideal-Erzähler dagegen ist „achtsam, gründlich, straight und präzise, ein Weltspion in niemandes Auftrag, und doch für viele unterwegs…“

Die Texte aus „Rawums“ zeigen dann aber, dass sich nicht alle an seinem Manifest orientierten. Diese vielen unterschiedlichen Schreibweisen lassen sich kaum unter dem Dach eines Kampfbegriffs versammeln. Er stimmt mir zu, beharrt aber dennoch auf einer grundsätzlich „neuen Haltung, einem offeneren Umgang mit Sprache und Literatur“. „Dass man zum Beispiel einen Begriff wie Entertainment oder Unterhaltung überhaupt in den Mund genommen hat, das war damals, Ende der 70er Jahre, ein Skandal. Kann man sich heute nur noch schwer vorstellen, aber so war’s. Ich habe damals Rezensionen geschrieben über Simmel-Romane und versucht, klarzumachen, dass dieser Mann, der wie das Krokodil im Kasperletheater immer aufs Dach bekam, kein so schlechter Schriftsteller ist. Man könnte zwar 100 Seiten kürzen bei seinen dicken Büchern, aber das ist nicht einfach Trivialliteratur, das ist ungerecht, wenn man den einfach so abfertigt.“

Er schiebt sich langsam zur Glasfront seines Arbeitszimmers, um ein Fenster zu schließen, spricht aber weiter. „Rawums“ sei für ihn ein Versuch gewesen, „ein Polaroid dieser Zeit zu machen“, und er räumt ein, dass der „auf sehr hohem Niveau gescheitert ist“. Etwas enttäuschend, weil formal eher konventionell und auch nicht sehr witzig sind etwa die Beiträge der Musikjournalisten Michael O. R. Kröher, Diedrich Diederichsen und Qara Drechsler. „Es gab da ein Problem“, nickt Glaser. „Die haben so eine Art Kunstkrampf gekriegt. Es gibt eben doch dieses ,Oh, jetzt machen wie ein Buch, jetzt machen wir Literatur‘ oder ,Oh, jetzt machen wir Anti-Literatur‘. Diederichsen hat das ja versucht Er hatte die Idee im Kopf, mit einem Stück Literatur große Literatur zu machen und damit jede Art von großer Literatur gleichzeitig zu ironisieren, so eine Art Super-Hattrick, und das ist dann grandios daneben gegangen.“

„Und dann gab es eine Diskussion. ‚Diedrich, die Geschichte ist nicht gut!‘ Er war beleidigt. Dann wollte ich etwas anderes. Und er hat gesagt, er hat nichts, er besteht drauf, dass ich die Geschichte bringe. Dann gab es diplomatische Verwicklungen, er hat Rainald Goetz eingespannt. Und Goetz rief aus New York an: ,Was? Du zensierst Diedrich Diederichsen? Dann ziehe ich meinen Beitrag zurück.‘ Auf einmal war ich mitten in einer Kesselschlacht, aber schließlich hat er dann doch noch in seine Schublade gegriffen und etwas anderes geliefert. Diederichsen hat ja jetzt auch verhindert – nach 20 Jahren! -, dass es eine Neuauflage gibt, weil er sich geniert. Völlig unnötig, das ist doch mittlerweile alles Historie. Jetzt ging das halt nur so, dass wir die alte Auflage fortgesetzt und keine Neuauflage gemacht haben, deshalb sind die alten Biografien auch noch drin.“

Schließlich frage ich ihn, was übrig geblieben ist von dieser, wenn man so will: zweiten Popliteratur in den 80er Jahren. Sie hat mit Glaser, Rainald Goetz, Bodo Morshäuser und noch einigen anderen ein paar herausragende literarische Talente hervorgebracht, aber waren deren Bücher eigentlich traditionsbildend? Hat beispielsweise die jüngere Popliteratur Bezug genommen auf diese Antizipatoren?

„Eher im Stillen“, sagt er. „Wir waren ja auch keine literarische Bewegung, die sich konstituiert hätte wie in der Nachkriegszeit die Gruppe 47, eher so ein loser Haufen. Aber in gewisser Weise dann doch. Die Frage, die wir uns damals auch stellten, war ja: Warum kann ich als Schriftsteller keine Halle mit 20 000 Leuten zum Schreien bringen? Das war der große Schmerz des Dichters. Warum nehmen mich Grand Funk Railroad nicht als Vorgruppe? So einer wie Stuckrad-Barre ist zumindest auch ein Stück in diese Richtung gegangen. Der hat die DJ-Attitüde mit dem Wort vermischt, und das ist ganz fantastisch.“

Und dann schweift er wieder etwas ab, wie so oft in unserem Gespräch – und auch in seinen Geschichten. „Ich habe die Musiker immer beneidet, die machen ,pläng‘, und es ist eine Reaktion da. Das wird unmittelbar klar. Bei Literatur ist immer alles langsamer, ein bisschen umständlicher. Aber diese Langwelligkeit, die wir damals als so ein großes Manko empfunden haben, sehe ich jetzt positiver. Man ist eben auch längst nicht so schnell weg vom Fenster wie ein Musiker. Das dauert alles etwas länger, ist dann aber auch nachhaltiger präsent“

In den frühen Achtzigern hätte er das tatsächlich kaum sagen dürfen: Auf Geschichte schielen? – Punk ist was anderes!

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