Platten, die wir lieben: „Lick My Decals Off, Baby“ von Captain Beefheart & The Magic Band

Jeder hat unter seinen vielen Platten die eine, die ihm besonders viel bedeutet. Zur Plattenladenwoche erzählen Rolling Stone-Autoren ihre Vinyl-Liebesgeschichten. Den Anfang macht Maik Brüggemeyer.

Seit Montag stimmen wir uns täglich mit einem Artikel auf die Plattenladenwoche ein, die vom 15. bis zum 20. Oktober in ganz Deutschland stattfinden wird und die, wie schon im letzten Jahr, von unserem Magazin präsentiert wird. Alle Infos über Termine, Sonderveröffentlichungen und über die teilnehmenden Läden findet man unter www.plattenladenwoche.de.

Ich habe keine Ahnung, wie viel die guten Stücke meiner Vinyl-Sammlung wert sind. Die Wertschätzung von Schallplatten lässt sich – anders als die von Gebrauchtwagen – schließlich nicht in einer Schwacke-Liste ablesen. Irgendwas bedeuten Sie mir alle, jede trägt Spuren der Vergangenheit, die Nadel hat jedes Hören in die Rillen und in meinen Kopf hineingeschrieben.

Mein Exemplar von Captain Beefhearts „Lick My Decals Off, Baby“ ist vermutlich monetär gesehen kein besonders großer Schatz, denn es handelt sich nicht um die Erstpressung des Straight Labels von 1970, sondern die erste Ausgabe von Reprise aus dem gleichen Jahr. Doch für mich steht diese LP stellvertretend für die Epiphanien des Plattenkaufs.

Erworben habe ich sie Mitte der Neunziger. Der Name Captain Beefheart war mir aus den Bestenlisten der Musikmagazine bekannt. „Trout Mask Replica“ hieß die Platte, die man haben musste. Und die hatte ich. Mit jedem Abspielen war sie schöner geworden, hatte mich gelehrt, Strukturen in und hinter Krach und Kakophonie zu finden und mir so letztendlich den Schlüssel zur Welt des Free Jazz gegeben – zu Don Cherry, Archie Shepp und Albert Ayler. Doch über ihren Schöpfer, Captain Beefheart, oder – wie er ja eigentlich heißt – Don Van Vliet wusste ich nichts.

Und dann zog ich „Lick My Decals Off, Baby“ aus einer Restekiste in einem Münsteraner Second-Hand-Plattenladen. Das Cover zeigte deutliche Spuren von Alter, die Farben waren ver­blichen, die Umrisse der LP zeichneten sich schon ab wie das Gesicht des Erlösers auf dem Turiner Grabtuch. Die Platte selbst war makellos. Wie mochte sie klingen? Ein großes Geheimnis für acht Mark.

Ich weiß noch, wie ich dann mit dem Rätsel im Rucksack in einer Vorlesung saß. Konzentrieren konnte ich mich nicht – der Hegel, der Fichte, der Bloch oder was rauschten an mir vorbei. Immer wieder zog ich die Platte hervor, schaute auf die Songtitel und las das Gedicht auf der Rückseite: „Earholes, eye holes, airholes/ Dance, deflate, inflate meat rainbows.“ Im Kopf hörte ich dazu die verqueren Rhythmen, die schrägen Gitarren und diese Stimme, die klang wie Howlin’ Wolf, der seine Seele an William S. Burroughs verkauft hatte. Ein Gefühl wohliger Unruhe, das erst nachließ, als ich die Platte am Abend auflegte. Ich hörte die schönste Popmusik, die ich mir an diesem Tag vorstellen konnte.

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