Pop-Philosoph Paul Morley zum Thema: „Die Zukunft der Musik“

Der englische Pop-Philosoph behandelt in diesem für den ROLLING STONE verfassten Essay die Frage, wie er sich die Zukunft der Musik vorstellt.

Der englische Pop-Philosoph nennt diesen für den ROLLING STONE verfassten Text „Auszüge aus einem Essay zu diversen Fragen, wie: ‚Wie würden Sie reagieren, wenn Ihnen jemand ohne weitere Erläuterung das Thema ‚Die Zukunft der Musik im Jahr 2011‘ hinklatscht?'“.

I. Kommt drauf an. Wenn Sie sich richtig für Musik und das ganze Drumherum interessieren, für die Systeme und Strukturen, Formate und wirtschaftlichen Aspekte, dann wird sich in Ihren Augen viel ändern, auch wenn sich scheinbar fast gar nichts ändert – Sie werden weiterhin Zugriff auf all die Musik haben, die Sie maximal ertragen können, aus allen Zeitaltern, so dass es Ihnen vorkommen wird, als ob wir gleichzeitig 2011 und 2001 hätten, 1991, 1981, 1971, 1961, etc. pp., so dass, obwohl die Musik weiter eine Zukunft hat, auf die sie sich zubewegt, trotzdem gleichzeitig auch die komplette Vergangenheit stattfindet, pausenlos.

II. Eine Zeit lang, sagen wir mal: bis 1992, ging es in der populären Musik immer um das Neue, Überraschende, bis zu einem gewissen Grad Schockierende, bis zu einem anderen Grad um die Nummer eins der Pop-Charts. Eine Neuheit knipste die vorige aus, die rutschte in die Vergangenheit und war damit erledigt. Pop handelte von Innovation, Radikalität, technologischer und emotionaler, obwohl es auch ums Offensichtliche, Formelhafte ging, auch um eine bestimmte Art von Nostalgie, die in der vagen Sehnsucht nach einer tröstenden Vergangenheit bestand, die aber unerreichbar war, schon gar nicht über Google.

III. Pop handelte von Veränderung, dem Streben nach Veränderung, dem Begehren, eine Zukunft zu erfinden und sich selbst ein neues Selbst, durch Verwandlungen und Experimente, obwohl dieses Begehren in den meisten Fällen auf hohem Niveau kommerzialisiert war. Dann kam das 21. Jahrhundert, die Unsicherheit, das Internet, das die Zukunft mit sich brachte, aber auch die Vergangenheit. Es gab mehr und mehr Popmusik, sie war populärer denn je, und deshalb merkte keiner, dass sich ihr Vorwärtsdrang bremste – im Gegenteil, es wirkte sogar, als würde sie noch schneller und breite sich noch weiter aus. Und auf sonderbare Art begann die Musik, sich selbst zu konservieren, und trotz des hektischen Online-Betriebs feierte sie nur noch ekstatisch die Vorstellung von Ekstase und Feiern und wurde zu einer konservativen Kraft.

IV. In diesem Sinne begann in den 90er-Jahren eine Entwicklung, in deren Verlauf die spontane, progressive, oft obszöne, manchmal ziemlich alberne Energiewelle, die man in den 50er-Jahren erstmals gespürt hatte, abbrach oder sich auflöste. Diese glitzernde, explosive 50er-60er-70er-80er-90er-Energie strahlte noch ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hinein, in dem die Pop-Party noch in sehr 20th-Century-hafter Manier weiterging, so dass man mit gutem Recht sagen könnte, dass das 21. Jahrhundert noch immer nicht wirklich begonnen hat, zumindest nicht in der Popmusik. Daraus ergibt sich, dass sich die Popmusik vielleicht gar nicht fürs 21. Jahrhundert eignet, jedenfalls nicht so, dass man den Geist hinüberretten könnte, das Musikalische und Optische, das Elvis ausmachte, Dylan, Phil Spector, die Stones, Beatles, James Brown, den Velvets, Bowie, Roxy, Kraftwerk, Patti Smith, die Pistols, Clash, Joy Division/New Order, Grandmaster Flash, Prince, Nirvana, Beck, Björk, Eminem … Am Ende waren es vielleicht die Vorstellungen, das subversive Schicksal, der poetische Ehrgeiz, die verführerische Alienhaftigkeit dieser Künstler, die uns so berührt haben, und nicht die Gitarren, Trommeln, Synthesizer, Songs, Texte, Haarschnitte oder die Träume, die dazwischenpassten.

V. Die nächste Bewegung, die unsere Realität auf Rock’n’Roll-ähnliche Weise verwandeln wird, könnte eine völlig andere Gestalt haben. Sie wird vielleicht nicht einmal etwas mit Musik zu tun haben – vielleicht eher mit hypersurrealen, multischichtigen, elektronischen Spielen und Rätseln, die uns direkt ins Hirn gebeamt werden, oder mit einem abstrakten, ätherischen sozialen Netzwerk, oder mit irgendeiner Kraft, die unsere Grenzen zwischen Identität und space derart auflöst, dass wir den neuen Rock’n’Roll oder Pop oder Punk oder HipHop nicht in der Gestik eines Sängers oder einem Geräusch oder Refrain erkennen, sondern in einem alle Vorstellungen übersteigenden Zusammenspiel aus Software, Community, Atmosphäre, Sprache, Instinkt, Zeitreisen, Merchandising und Weisheit, das wir heute nicht mal erahnen können.  Werden wir 2011 vielleicht den ersten musikalischen Vorgeschmack von diesem neuen Dingsda bekommen, das irgendwann das Internet ablösen wird, oder wird sich alles noch einmal um die ganzen alten Schemata, Reime, Melodien, Moden, Rhythmen und Illusionen drehen? Werden wir einfach wieder einen Haufen Musik bekommen, Tausende von Songs, die wir entdecken und kaufen und verkaufen und untereinander tauschen sollen, ohne die Musik damit endlich ins ungewisse nächste Jahrtausend zu propellern?

VI. Zweifellos wird in diesem Jahr auch sehr begrüßenswerte, behutsam ausdifferenzierte Musik gemacht werden, viele intelligente, gut durchdachte Variationen über gern gehörte Themen und Klangkonzepte, Versuche über Fragen wie: wie The Lovin’ Spoonful auf Animal Collective reagiert hätten, oder wie eine von Zappa gemanagte Boygroup ausgesehen hätte, oder eine Girlgroup, oder vielleicht sogar zwei oder drei neue, voll abgefahrene Genres, in denen simuliert wird, was passiert wäre, wenn Four Tet Schönberg inspiriert hätte, John Cage Kanye West produziert hätte und Webern von Glitch-Techno beeinflusst worden wäre – aber dass aus dem Inneren von Pop und Rock heraus etwas kommen wird, das so kraftvoll ist wie seine größten Umsturz-Allveränderungs-Momente, ist unwahrscheinlich. Das liegt daran, dass Popmusik heute vor allem eine Sammlung kleiner Rituale ist, mit denen man Menschen das Leben angenehm macht, keine Quelle der Erschütterung mehr, die Potenziale freilegt und den Hörer in Bewegung bringt. Das ist weder gut noch schlecht, darüber soll keiner jammern – nach einer bestimmten Zeit wurde die Popmusik eben durch etwas ersetzt, das wie ihre Fortsetzung klingt, aber in Wirklichkeit ihre Nachgeschichte ist. Ihr eigenes Gespenst.

VII. Es wird weiterhin geheimnisvolle, unerklärliche Musik geben, die den anderen weit voraus ist, gemacht von visionären Künstlern, die sich erfolgreich gegen die Vorstellung wehren, man existiere in der heutigen Welt nur noch als aggressiver Promoter der eigenen Sache, durch genug Follower, Freunde, Fans. Die neue Art von Ruhm wird die Anonymität sein. Der größte Künstler 2011 wird ganz und gar obskur sein, in der eigenen Welt verloren, verdeckt von seiner außergewöhnlichen Vorstellungskraft, so herrlich privat, wie es sonst nur noch die eigenen Gedanken sind.

VIII. Es wird weiter extrem erfolgreiche Popgruppen geben, die Tausende von Einheiten verkaufen, auch T-Shirts und Poster, und gewaltige Popstars, die Awards und eigene TV-Shows bekommen und in Stadien vor Tausenden religiös Begeisterten auftreten. Allerdings sind diese in der Realität verhafteten Celebrities streng genommen nicht mehr als Musiker anzusehen. Take That, zum Beispiel, haben mehr mit Disney, Coca Cola, Big Brother, Google und Louis Vuitton gemeinsam als mit den Beatles, Monkees oder Elton John. Wenn die Musikberichterstattung im Jahr 2011 einfach alle Casting-Show-Sieger, alle Stars, die nur Parfüm oder Kleidung verkaufen wollen, und alle pseudo-aufgepeppten 1950er-Modelle ignorieren würde, wäre alles wenigstens etwas klarer. Und gleichzeitig etwas trauriger.

IX. In einem Jahr könnte ein ähnlicher Text geschrieben werden, über das Thema, wo der Pop denn nun gelandet ist, was als Nächstes passieren wird und warum das 21. Jahrhundert nicht poptauglich ist. Es wird wenige neue Erkenntnisse geben. Vielleicht wird man anerkennend berichten können, wie das rätselhafte, quecksilbrige Genre namens Dubstep aus dem Schatten gekrochen ist, ohne wirklich im Licht anzukommen. Trotzdem, viel wird sich bei aller Veränderung nicht verändern, außer Bob Dylan stirbt, was alles verändern würde, oder jemand/etwas/eine Szene/eine App taucht auf und schafft es, dem Internet, seinen Vorstellungen von Raum und Zeit, seinen Vorteilen und Nachteilen etwas Neues abzuringen, auf subversive, sensationelle, einzigartige, aber unzweifelhaft musikalische Art. 

Paul Morley, 53, begann 1977 als Journalist beim „NME“, analysierte Punk und New Wave mit Marx und französischen Philosophen, entdeckte 1983 die Band Frankie Goes To Hollywood für sein Plattenlabel ZTT. Heute arbeitet er als Autor. Seinen Blog findet man unter www.guardian.co.uk/profile/paulmorley.

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