PUNK ROCK EXPLOSION

Man könnt es sich leicht machen und Richard Hell fragen. Der erzählt jedem, der es hören will, er sei der erste Punk gewesen, Punk Rock sei seine Erfindung. Zum Beweis knallt er seine Indizien auf den Tisch: mein Song („Blank Generation“), meine Band (The Voidoids), meine Frisur (spiky und professionell gefärbt). Seine Friseuse führt er zwar nicht ins Feld, aber ein paar inzwischen angerostete Sicherheitsnadeln, die angeblich bereits seit Anfang 1976 als Ohrschmuck zur Zierde gereichten. Malcolm McLaren kann da nur mitleidig lächeln.

Wäre er so blöde wie Richard Hell, würde er kontern: mein Song („Anarchy In The UK“), meine Band (Sex Pistols), deren Frisuren (stacheliger, noch greller gefärbt). Obendrein: meine Designerin (Vivienne Westwood). Doch McLaren ist alles, nur nicht blöde. Das schlitzohrige Rethorik-Genie fabuliert, wie es Mitte der Seventies Gestalt angenommen habe in seinem Hirn, das Konzept Punk, und wie genau er sie antizipiert habe, die Punk-Bewegung, bevor er sich daran machte, diese seine Ideen dann in die Tat umzusetzen.

Richard Heils Problem ist: niemand glaubt ihm. Doch McLarens noch größeres Problem ist, daß er seinen Schwindel ad infinitum wiederkäuen muß, weil es immer wieder Leute geben wird, die vor der Intelligenzbestie kapitulieren und ihr glauben.

Wir tun das nicht, weisen die idealistischen Erklärungsversuche zurück, wissen wir doch bereits seit dem zweiten Semester (die Ossis schon seit ihrem zweiten Geburtstag): Das Sein ist es, von dem unser Bewußtsein bestimmt wird. Sollen doch andere Schiedsrichter spielen, Punk-Patente verleihen und den noch immer schwelenden Streit zwischen London und New York, wer denn die Erfinderrechte beanspruchen darf, schlichten. Wir halten uns an die Realität, an die Produktions-Bedingungen des Pop und die nüchternen, harten Chartsplazierungen.

Die Verfassung des Rock’n’Roll circa 1975 war jammervoll. Pomp regierte, und was nicht seicht war oder prätentiös oder zumindest fadenscheinig, war chancenlos. Mike Oldfield, Genesis, Queen, Elton John, Yes, Wings, Cat Stevens, die Carpenters, Supertramp, Rod Stewart: die Hitparaden waren regelrechte Gruselkabinette. Pop war fett, aufgeblasen und bewegungsunfähig. Ab die Gegenbewegung dann endlich kam, war sie militant und rabiat, lauter, härter und kompromißloser als alles, was die Welt des Pop bis dahin gehört und gesehen hatte. In New Yorks „Max’s Kansas City“ und „CBGB’s“ rotteten sich verwegene Gestalten zusammen und frönten der Lust an Lärm und Provokation.

In London mutierte der Pub-Rock, engagiert angetreten, aber ultimativ harmlos, zu einem noch reduzierteren, abgefuckteren, schnelleren und gehässigeren Musikstil, für den ein Name schnell gefunden war: Punk Rock. Und aus war’s plötzlich mit der Gemütlichkeit.

Die Medien trugen das ihre zu der Skandalträchtigkeit dieser neuen, noch nicht flüggen Jugendrevolte bei. Die Sex Pistols bei Bill Grundy, der geschaßt wird, weil er seine ungezogenen Gäste dazu ermuntert, „fuck“ zu sagen, live im Nachmittagsprogramm der BBC. 1977 war Punk mitreißend, von musikalischer wie gesellschaftlicher Brisanz, und London war das Mekka. Auch und gerade für die New Yorker Szene, von Jayne County bis zu den Ramones. Wenn es das Ziel war, die alte Ordnung aufzumischen, dann hatte Punk gesiegt. Für 15 Minuten immerhin, bevor Pop irgendwann erneut in Lethargie fiel. Like punk never happened.

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