R.E.M.s „Monster“: Gedanken zu einem ungeliebten Album

Zerfaserte Melodien, keine Mandolinen mehr und eine diffuse Verneigung vor Grunge und Glam: Mit „Monster“ gingen R.E.M. 1994 einen neuen Weg. Die Intimität und Dringlichkeit dieser roh anmutenden Songs wurde aber oft verkannt.

Die Zeit im Studio war für R.E.M. eigentlich zu keiner Zeit ihrer Karriere eine einfache Sache. Reibereien waren die Regel. Manchmal sprachen die Musiker Tage lang nicht miteinander. Und am Ende kam dann doch immer ein mindestens gutes Album heraus. Zu den Aufnahmen von „Monster“, die im Oktober 1993 begonnen wurden und sich mehr als ein halbes Jahr hinzogen, war das etwas anders.

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Die Stimmung nach der bewegenden, aber auch anstrengenden Arbeit an „Out Of Time“ und „Automatic For The People“ – also jenen Alben, die bis heute die Fixpunkte des R.E.M.-Universums geblieben sind – war so gelöst wie lange nicht mehr. Wie Peter Buck erklärte, sei man einfach in die Studios in New Orleans, Miami, Atlanta und Los Angeles und auf ein paar Parkplätze gegangen und habe die Instrumente gestimmt und losgelegt. Zwischendurch gab es Pizza und Frisbee-Spielereien. Kein Druck, vielleicht sogar etwas Spaß.

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Bevor der Ansatz einer Art Konzeptplatte über die Wirren der Adoleszenz, die Suche nach (sexueller) Identität und wohl auch die Mühsal des Ruhms stand, hatten sich Stipe, Mills, Berry und Buck geschworen, dass diesmal wieder mehr das musikalische Handwerk der Mitglieder im Mittelpunkt stehen würde. Weniger ein produzierter Sound und eine aufwendig choreographierte Atmosphäre, wie sie melancholische Stücke wie „Nightswimming“ oder „Find The River“ auszeichnete, sondern gescheuerte Gitarren.

Michael Stipe wechselt die Identitäten

Stipe war damit einverstanden, dass seine Stimme nicht mehr so stark im Mittelpunkt stehen würde; tatsächlich arbeitete er mit ihr in den Proberäumen, als wäre sie selbst ein Instrument. Er raunte, er erstickte die Wörter wie einst bei ihrer „Chronic Town“-EP und später dann „Murmur, er hüllte das brachiale Gitarrenwerk mit traumhaftem Gesäusel ein („I Don’t Sleep, I Dream“). Am schönsten, aber auch befremdlichsten bleibt wohl seine Falsett-Metamorphose zur Ballkönigin in „Tongue“.

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Nachdem der Sänger nach Wochen der inneren Einkehr seine Texte zu den schroffen Soundskizzen gefunden hatte, konnte sich Gitarrist Peter Buck kaum darüber einkriegen, was für scheußliche Figuren darin das Sagen hatten. Den Titel „What’s The Frequency, Kenneth“ entlieh Stipe dem Ausspruch eines verurteilten Mörders, der einen Nachrichtenmoderator belästigte. „Strange Currencies“ bohrte sich in das Gehirn eines „verliebten“ Stalkers. „I Took Your Name“ handelt scheinbar von einer Person, die psychisch erkrankt ist. Stipe fühlte sich in so viele Figuren ein wie auf keiner anderen LP der Band – und alle von ihnen scheinen irgendwie durch den Wind zu sein.

Es ist ein kleines Wunder, dass diese Platte trotz der in den Texten ausgebrüteten elenden Gestalten, von besessenen Teeangern bis eiskalten Psychopathen, einen positiven Grundton beibehält. Zweifellos weil Stipe seinem Personal mit Neugier und Einfühlungsvermögen begegnet, weil er in sie eingeht. Betrachtet man dieses empathische, künstlerische Verfahren, das auch queere Momente mit einschließt, mit der Brille unserer Zeit, in der postmoderne Identitätskonstruktionen längst außerhalb akademischer Kontexte diskutiert werden, zeigt sich, dass „Monster“ schon damals einen Schritt voraus war.

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R.E.M. mussten ihren neuen Superstar-Status bestätigen

Nach dem letztlich unerwarteten Erfolg der 90er-Platten stiegen die Musiker in den in die Business-Class der Rockmusik auf, mit all den Folgen, die dies mit sich bringt. Lange hielt sich der Mythos, das „Monster“ vor allem als giftige Auseinandersetzung eines begabten Sängers mit den von Lügen und Märchen besessenen Medien und seiner seltsamen Rolle als androgyner Heiligenfigur des US-Indie-Rocks zu verstehen ist.

Schon früher musste er der Presseschar ins Stammbuch schreiben, dass nicht seine Gefühle gemeint seien, wenn es in den Texten der Band ein lyrisches Ich gibt. Zur Sicherheit legten R.E.M. ihren Singles nun die Songtexte bei. Etwas, das sie vor ihrer LP „Green“ nie getan hatten – und auch hier gab es nur die betörenden Zeilen von „World Leader Pretend“ zum Mitlesen, weil Stipe so stolz auf sie war.

Stipe stellte zu den Lyrics von „Monster“ klar: „Es ist eine Beleidigung zu unterstellen, ich hätte die Songs über mich selbst geschrieben. Klar, ich habe ein gewaltig großes Ego, aber ich bin weder so aufregend oder erfahren, noch waren meine vierunddreißig Jahre so erlebnisreich, dass ich ein Album nach dem anderen über mich selbst schreiben könnte. Es gibt eine Menge interessante Dinge, über die man schreiben kann.“

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Das tat Stipe auch. Songs wie „Crush With Eyeliner“ oder der irritierende Closer „You“ zeigen, wie weit der Lyriker seine Methode der Freien Assoziation verfeinert hatte. Die zahlreichen Gedankenfetzen, die einander umgarnen und sich schließlich wieder unsicher voneinander entfernen („I can whisper in your ear/I can write a calendar year/I can wing around your Saturn smile/shout at the moon/I walked the tension wire line“, You), passen perfekt zur Gedankenwelt junger Menschen, die noch nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen können, aber von so viel sexueller Energie gesteuert werden, dass sie entweder vor Zorn oder vor Verlangen explodieren oder depressiv zusammenbrechen.

Songs über Sex

Natürlich ist „Monster“ ein Album über Sex (Stipe: „Nichts anderes als Reibung, Ego und Timing“), aber es ist keines über Lust und Liebe. Nichts ist hier wirklich erotisch aufgeladen. Wohl keiner wird diese Lieder je abgespielt haben, um dazu Sex zu haben. „Monster“ handelt ja auch von abgefuckten Momenten, von aggressiver Anziehung und Abstoßung, „Bang And Blame“, „She’s a real woman-child/Oh my kiss breath turpentine“. Stipe ging es um die Macht des Eros‘, um die Hilflosigkeit der Menschen, die sich nach Bestätigung und Vereinigung sehnen und doch allein gelassen werden (auch mit Gefühlen, von denen niemand sprechen möchte). Das ist eine trotz der scheppernden Klänge hochintime Angelegenheit, die wohl jeder Hörer – je nach Erfahrungshorizont in diesen Dingen – anders wahrnehmen mag. „Binky The Doormat“ ging mit seiner expliziten Beschreibung von sexueller Selbsterniedrigung auf der Nachfolgeplatte sogar noch weiter

Noch einmal Stipe: „Irgendwie wollte ich etwas, das aufdringlich und sexy ist und trotzdem nicht richtig funktioniert. So was wie ein geschlechtsamputiertes Zugwrack, das einfach liegen gelassen wurde.“

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Chaos regiert

Steckt auch genügend Menschlichkeit darin, wie sich der Sänger damals fragte? „Monster“ ist vielleicht auch deshalb ein ungeliebtes Album im bemerkenswert abgerundeten Werk R.E.M.s geblieben, weil das Labyrinth des Schattenlebens, in das diese Songs sich unweigerlich hineinzwängen, keine Ausgänge kennt. Ja, sicher – die Band schnappte sich wieder elektrische Gitarren. Aber das Feeling der Southern-Rock-Schwermut ihrer frühen Alben, den Spirit der Folk-Präziosen und Kammermusikausflüge von „Out Of Time“ und „Automatic For The People“ sucht man hier vergebens.

R.E.M. erlaubten sich Wildheit und Chaos im Studio und bedauerten später, dass dann doch an vielem bis zur Besinnungslosigkeit herumgeschliffen wurde. Scott Litt fungierte im Studio als Ingenieur; seine neue Stripped-Down-Fassung des Albums, die sich nun im Boxset zum 25. Jubiläum findet, ist aber nur ein nachträglicher Versuch, das Krachende und Verwaschene verschämt herauszufiltern. Die Tempoverschiebungen (etwa auf „I Took Your Name“) und die Neuabmischung von Stipes Stimme wirken nicht sehr organisch. Am deutlichsten ist das auf „I Don’t Sleep, I Dream“ und „Let Me In“ zu hören. Der eine büßt seine undeutliche Tagtraumhaftigkeit ein, der andere schwächt den durch den Gitarrensturm erzeugten Sog der Verzweiflung ab. Beide klingen furchtbar blechern.

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R.E.M. standen kurz vor der Trennung

Peter Buck sprach aber auch deswegen von einem „Monster“ im Zusammenhang mit diesen enigmatischen Tracks, weil R.E.M. ihre Songs trotz der anfänglichen Euphorie über zurück gewonnene Freiheiten schließlich doch unter Schleim und Schmerzen gebaren. Eigentlich sollten nur die rohen Tapes von den Proben auf Platte. So war der Plan (eine Vorstellung, die R.E.M. übrigens zu „Accelerate“ noch einmal aufwärmten, gleichwohl mit völlig anderem Ergebnis). Aber dann kamen doch die Overdubs und die Konzentration auf akustische Details. Manchmal nur ein Trommelschlag und ein Akkord als Grundlage. Soul mit Indianertrommeln. Schließlich die introvertiert-schmerzhafte Verneigung vor Kurt Cobain und River Phoenix (transzendiert während ihrer letzten Tour als Geisterbeschwörung auf der Bühne).

Nicht ohne Grund gab Mike Mills einmal den Hinweis, dass es sich lohnt, „Monster“ mit Kopfhörern zu hören. Und zwar laut. Sehr, sehr laut. R.E.M. spielten ja auch ganz bewusst mit Referenzen, die bisher in ihrem Werk eigentlich nicht vorkamen. Sicher, die Bewunderung für Patti Smith, Athens-Bands wie Pylon und Velvet Underground waren bekannt. Aber nun flirtete die Band mit den New York Dolls, Leonard Cohen (auf dem vielleicht brüchigsten, am wenigsten überzeugenden Song „King Of Comedy“), „Star 69“ gemahnte gar an die herrlich ungenierten Heavy-Rock-Spielereien von „Dead Letter Office“.

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Das musste die neu hinzugewonnenen Anhänger vor den Kopf stoßen. Und vielleicht wollten R.E.M genau das erreichen: nach der Reflexion über Tod und lebenslange Zweifel jede Komplexität tilgen und eine richtige Show abziehen. Schließlich stand nach Jahren der Einkehr ohne Tour auch die Rückkehr auf die Bühne an. Hier wich die Intimität sicht- und hörbar einer neuen Struktur. R.E.M. nahmen die Herausforderung an, die neuen Superstars der amerikanischen Rockmusik zu sein. Zugleich rechneten sie sich die ziellose Anstrengung herunter, in dem sie eine Platte zur Grundlage ihrer bis dahin größten Konzertreise nahmen, die radikal viele Gesichter und vor allem Rockposen zeigte.

„Alle waren völlig durchgeknallt“

Natürlich führten die Wehen der sich viel zu lange hinziehenden Aufnahmen und einige Verluste in Familie und Freundeskreis doch zu herben Friktionen. 1996 erzählte Buck der US-Ausgabe des ROLLING STONE: „Wir saßen alle in diesem kleinen Raum und sagten nur ‚Ihr könnt mich alle mal‘ – und das war’s. Es war reiner Wahnsinn, dieses Album aufzunehmen. Alle waren völlig durchgeknallt.“

Einmal hatten sie sich sogar gegenseitig versichert, dass es so nicht weiter gehen könne. Der Schlusspunkt war nah. Aber das war zu diesem Zeitpunkt nichts Neues für diese Band, die immer durchhielt und immer gemeinsame Entscheidungen traf, egal was passierte. Schon während der Produktion von „Fables Of The Reconstruction“ stand die Trennung im Raum, der bitterkalte Regen Englands, wo die Songs aufgenommen wurden, war einfach zu viel. Doch es blieb bei Worten. Und so war es auch im Mai 1994, als sich die Arbeiten an „Monster“ endlich einem Ende entgegenstreckten.

Aus der einmal mehr schwierigen Studioerfahrung leiteten R.E.M. den frommen Wunsch ab, die nächsten Songs gleich völlig ohne Netz und doppelten Boden zu arrangieren und auf Tour zu schreiben. Daraus wurde „New Adventures In Hi-Fi“, das mehrere Tracks enthält, die während der „Monster“-Tour live gespielt wurden. Das legt durchaus Zeugnis davon ab, welches Selbstbewusstsein die Musiker inzwischen gewonnen hatten – und wie selbstverständlich sie mit diesem Erfolg umgehen konnten, ohne sich und ihren Idealen untreu zu werden.

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