Reed

In den siebziger Jahren erprobte Lou Reed den "Walk On The Wild Side" bis zum Exzeß. Heute ist das "Rock'n'Roll Animal" in ihm gezähmt - und seine Musik wieder zum Minimalismus der Velvets zurückgekehrt. Ein Doppelporträt zeigt die zwei Gesichter des New Yorker Ausnahmemusikers

ch habe gestern Nacht auf den Himmel geI schaut. Es war so schön. Man konnte jeden Stern sehen. Aber es gibt in dieser Stadt keine Sonne.“ Lou Reed betrachtet die Skyline des Hamburger Hafens aus dem sechsten Stock seines Hotels. Es ist November, die Stadt ist seit Wochen in diesiges Licht getaucht. Die Häuser werfen lange Schatten, wie auf Bildern Edward Hoppers, auch das Kontorhaus gegenüber, das zwischen zwei Baulücken stehend den Eckpunkt einer großen Straßenkreuzung markiert. Durch die Häuserschneisen hindurch kann man die Kräne der Container-Terminals sehen, das Hotel könnte auch in Brooklyn stehen, so sehr ähnelt diese Ecke den Straßenzügen New Yorks. Es ist ein ruhiger Nachmittag, Teezeit, die wenigen Autos, die unten auf der Straße verkehren, lassen vergessen, daß wir uns in einer Großstadt befinden. „Sie haben die Sonne noch nicht gesehen?“ Lou Reed steht mit dem Rükken zu mir vor dem Fenster. Im Gegenlicht ist er seine eigene Silhouette. „Nein, nein“, die Vorhänge des Fensters wieder zufallen lassend, dreht In den siebziger Jahren erprobte Lou Reed den „Walk On The Wild Side“ bis zum Exzeß. Heute ist das „Rock’n’Roll Animal“ in ihm gezähmt – und seine Musik wieder zum Minimalismus der Velvets zurückgekehrt. Ein Doppelporträt zeigt die zwei Gesichter des New Yorker Ausnahmemusikerssich Lou Reed um: „Sie kommt einfach nur nicht gegen diesen Dunst an!“ Fast einen ganzen Monat lang hat sich der Mann, der 1967 zusammen mit Andy Warhol und John Cale in New York die epochalen Velvet Underground gründete, in Hamburg aufgehalten. Der Tag dieses Interviews ist sein letzter in der Hafenstadt, danach geht es wieder zurück nach New York, der Heimat Lou Reeds, zurück zu Laurie Anderson, seiner neuen Liebe, nachdem die langjährige Ehe mit Sylvia Reed im vorigen Jahr geschieden worden war. Der gefeierte Theaterregisseur Robert Wilson, selbst ein Mann des Rampenlichts, hatte Reed gebeten, die musikalische Leitung in der Inszenierung seines neuen Stückes „Time Rocker“ nach der Romanvorlage von H.G. Wells‘ „Die Zeitmaschine“ zu übernehmen. Die Zeit in Hamburg hatte Reed daraufhin mit umfangreichen Vorbereitungen im Theater und der Zusammenstellung einer Reihe von Musikern verbracht, die seine Kompositionen zu „Time Rocker“ spielen werden. Im Juni dieses Jahres soll die Premiere im Hamburger Thalia Theater stattfinden. Lou Reed gießt sich Wasser in ein Glas, denn Kaffee darf oder kann er nicht mehr trinken. „Es würde mich verrückt machen, zu viel Koffein.“ Auch auf schwarzen Tee verzichtet er lieber. Statt dessen dreht der Mann, der während der Reunion-Tour der Velvet Underground im Mai ’93 im Muscle-Shirt und mit unfreundlichem Gestus seine Mitmusiker aufs unangenehmste dominierte, die Heizung auf. „Es ist kalt hier, findest Du nicht?“ Es ist nicht kalt. Reed sieht mit seinem stoppeligem, grauem Drei-Tage-Bart, langsamen Bewegungen und blassem Gesicht nicht gerade wie ein Jungbrunnen aus. Auch ein unmodisches Designer-Jackett mit fraktalem Schachbrettmuster und die spitzen schwarzen Lederstiefel können vom gelebten Leben nicht ablenken. Schade eigentlich – denn immerhin hat Lou Reeds im Februar erschienenes Album „Set The Tmlight Reeling“, das 20. seiner Solo-Karriere, das Gegenteil erwarten lassen – so kraftvoll, optimistisch und zuversichtlich klang der Gitarrist und Sänger schon seit Jahren nicht mehr. Bleibt zu hoffen, daß die wiedergewonnenene Konzentration anhält, selbst wenn die Arbeit, das Leben und die Drogen bei Lou Reed Tribut gefordert haben. „Ich bin glücklich“, sagt Lou Reed, „mir geht es endlich wieder gut.“ – Das ist keine Lüge. „Set The Twilight Reeling“ (was man etwa mit: „Bringe die Dämmerung in Aufruhr“ übersetzen kann) ist die erste Studio-Veröffentlichung seit vier Jahren. Es besitzt mehr Wucht und Mut und Wut als die Alben „New York“, „Songs For Drella“ (mit John Cale) und „Magic AndLoss“ eine Trilogie von Verlust und Schmerz – zusammen. Er hatte Freunde verloren, und besonders schmerzlich war der Tod seines Weggefahrten Andy Warhol, der 1987 – gänzlich unerwarteteine tiefe Lücke hinterließ. Noch heute brechen die Wunden von damals auf. Zum letzten Mal war dies der Fall, als der Regisseur Julian Schnabel um die Freigabe von Velvet Underground-Songs bat, um sie in den Soundtrack seines Filmes einzubinden. In dem Film ist die Rolle der Valerie Solanas, die am 3. Juni 1968 ein Attentat auf Andy Warhol verübt hatte, ambivalent, fast sympathisch angelegt. „Sie haben Schnabel verboten, Songs von Velvet Underground zu…“ – die Frage wird unterbrochen: „Ich habe ihnen gesagt, daß ich es nicht erlauben würde, irgendwelche Musik von mir zu benutzen. Was sie tun, ist einfach nur noch widerlich. Das sind doch Schweine.“ Detaillierte Nachfragen läßt Reed nicht zu. „Ich würde niemals zu einem solchen Machwerk irgendetwas beisteuern. Das ist einfach nur noch ekelhaft, ohne Moral.“ „Sollte der Film also verboten werden?“ Reed, dessen Musik wegen Drogenverherrlichung (in den Velvet Underground-Songs „Heroin“ oder „Waiting For My Man“ beispielsweise) ebenfalls Gegenstand von öffentlichen Zensur-Diskussionen war, verteidigt trotz aller Entrüstung die absolute Freiheit der Kunst und des Künstlers: „Nein. Der Film ist nur nicht für mich gemacht. Natürlich kann jeder tun, was er will.“ Dieses Thema ist für ihn damit abgehakt – Reed knüpft statt dessen beim Tod von Andy Warhol wieder an: „Es sind diese Zeiten, in denen so viele negative Sachen um uns herum passieren. Man wird heute überall ständig damit konfrontiert. Also habe ich über diese Erfahrungen ,Magic And Loss‘ geschrieben. Aber das war garantiert das letzte Album dieser Art. Now we rock.“ Lou Reed erwähnt mit keinem Wort Sterling Morrison, den jüngst verstorbenen Gitarristen von Velvet Underground. Er wurde beerdigt in der Woche, in der Velvet Underground für ihre musikalische Leistung in die „Rock’n’Roll-Hall-Of-Farne“ aufgenommen wurden. Was aber bedeuten einem launischen Einzelgänger die Ehrungen des Establishments? „Ich habe kein Interesse an der Vergangenheit. Wie sollte es möglich sein, einerseits ein Album wie ,Set The Twilight Reeling‘ zu machen – und sich andererseits in banalen Reminiszensen zu ergehen. So etwas funktioniert nicht.“ Auch der Rückblick anläßlich der kurzlebigen Wiederauferstehung der Velvets von 1993 wurde von Reed gründlich verdorben: Im Tourbus saßen alle Band-Mitglieder auf Distanz, während der Fahrt wechselte man kaum ein Wort, auf der Bühne gab Reed barsch und übelgelaunt den Ton an und bestand darauf, daß vorrangig seine Songs gespielt wurden. John Cale wurde, ganz wie damals, zum Statisten degradiert, durfte brav die Viola streichen und manchmal sogar zum Singen ans Mikrophon. Kein Wunder, daß sich Cale verbittert über das Unternehmen ausließ: „Lou hat nur sein Ding durchgezogen und sich um nichts anderes gekümmert. Wir zahlten ihm mit gleicher Münze heim. Und dann das Gerede von einem ,Unplugged‘-Album: Ich hatte ständig den Eindruck, daß Lou die totale Kontrolle übernehmen wollte. Und als er sich dann noch zum Produzenten aufschwang, kam ich mir fast schon wie ein Leihmusiker vor.“ Nein, wenn von „Rückblick“ die Rede ist, dann meint Reed nur „Peel Slowly And See“, eine 5-CD-Box mit Remasterings der legendären Original-Alben und bislang in dieser Qualität nie veröffentlichten Outtakes, Demo-Aufnahmen und verschollen geglaubten Bändern von Velvet Underground. So wenig Reed die Vergangenheit heute als Einfluß gelten lassen möchte – um so aufschlußreicher sind die Box und das opulente Booklet. Reed beschränkte sich auf das Supervising des Remasterings, um soundtechnisch das Optimale herauszuholen. Und Reed behält im positiven Sinne Recht, was seine Einschätzung des Heute angeht: „Set The Twilight Reeling“ ist tatsächlich urbane Gegenwart – und gleichzeitig meilenweit von jener großstädtischen Potenz-Attitüde entfernt, wie sie unzählige Gangsta-Rapper zu entwerfen versuchen. Es ist ein schlichtes Rock-Album geworden, wie es spröder, trockener und gleichzeitig poetischer nicht hätte ausfallen können. Erinnerungen an einen Imbiß – „Becky’s“ am Kings Highway in New York – in dem Opener „Egg Cream“ oder aber Selbstreflexionen über unwiderrufliche Entscheidungen wie in „Trade In“ bilden abgeschlossene Geschichten, von Reed in knappen Worten erzählt. Keine Auseinandersetzung mehr mit Depressionen, keine Reportagen mehr über den alltäglichen Verfall. Statt dessen gibt es dezidierte Liebeslieder wie zum Beispiel die Single „Hookywooky“ eine kleine autobiographische Episode, die auf dem Dach eines Hauses im Zentrum von Manhattan spielt, und in der sich die Beschreibung von Großstadt-Geräuschen mit seinen Gedanken an eine Frau vermischen. „Es ist eine durchgehende Geschichte,“ sagt Reed, ,“Egg Cream‘ ist der Anfang und erzählt davon, wie ich ein junger Mann war. In dem zweiten Song bin ich bereits älter, da bin ich ein ,New York City Man‘, so wie der Song auch heißt. Nun ist er erwachsen geworden. Das ist alles mit Absicht so gesetzt. Das Album erzählt dir eine Geschichte. Es geht mir um Geschichten.“ Die Bilder, die Lou Reed benutzt, sind greifbarer geworden, kaum noch verschlüsselt. Die Großstadt wird geradezu greifbar – ein Thema, mit dem sich Reed schon immer beschäftigt hat. Aber nie wurde dieses Gefühl einer Stadt, die nie schläft, das Porträt einer Stadt und das eines Künstlers, der mit Haut und Haaren New Yorker ist, bei Reed so natürlich und beiläufig formuliert: „Oh, es ist immer New York. Immer diese Stadt. Das Gefühl, die Personen, die Situationen, die beschrieben werden – immer New York. Der Sound ist diese Stadt. Ich hätte dieses Album nicht außerhalb von New fork gemacht haben können. Andere vielleicht aber nicht dieses Album.“ Und die Musik, die Lou Reed gemeinsam mit Fernando Saunders (Baß) und Tony Smith (Drums) aufgenommen hat, mutet wie klanggewordene Struktur eines monochromen Bildes an. Hier finden sich keine stadionrockenden Parolen, keine anbiedernden Mitsing-Refrains, keine halbseidenen Soul-Anleihen. Auch Pop-Ansätze, wie Lou Reed sie auf jüngeren Alben wie „Mistrial“, oder – weniger ungehobelt, aber auch weniger mitreißend – in „New York“ ausprobierte, sucht man vergeblich. Reed hat mit einem belasteten Abschnitt seines Lebens abgeschlossen, und die Musik ist eine diesen Abschluß vertonende, einstündige Katharsis: laut und voller Liebe. Jemand bemerkte einmal über Reed, daß er immer dann, wenn er eine neue Freundin habe, ein überdurchschnittliches Album produziere und dann Stagnation einsetze. Auf „Blue Mask“ von 1982 trifft dies zu, und auch die Qualität von „Set The Twilight Reeling“ scheint diese Beobachtung zu bestätigen. Trotz all ihrer bewußten Roheit hat die Musik des (offensichtlich frischverliebten) Reed filigrane Texturen. „Es ist wie eine graphische Struktur, wie ein Bild ohne Titel, wie eine Studie von Richard Serra: Es werden Bilder vermittelt – schnell, noch während die Musik spielt.“ Reed hatte bereits Mitte 1993 mit den Vorbereitungen zum neuen Album begonnen, doch seine Unzufriedenheit mit dem klanglichen Ergebnis resultierte in endlosen Verzögerungen. „Wir brauchten die Zeit, um endlich einmal – zum ersten Mal! – den Sound der Instrumente so festzuhalten, wie sie im Studio tatsächlich klingen. Das ist uns gelungen, und ich bin stolz darauf. Aufgenommen haben wir die Platte schließlich in nur drei Wochen.“ Unter den Danksagungen finden sich folglich fast ausschließlich Vferstärkerbauer, Gitarrenhersteller, Studiotechniker. So etwas machen doch sonst nur prätentiöse Angeber… „Ohne diese Leute wäre dieses Album aber nicht zustande gekommen! Jede einzelne Person, der wir gedankt haben, hat einen immensen Anteil an dem Projekt gehabt.“ Trotz Mitwirkung so vieler unterschiedlicher Personen behielt Reed, dem ohnehin die Charakterzüge eines Tyrannen nachgesagt werden, offensichtlich das Ruder in der Hand. Minimalismus und Dynamik – Attribute also, die zu jeder Schaffensperiode auf die Musik dieses weißen Intellektuellen zutrafen, finden sich auch heute. Schön, daß Reed nicht mehr ermüdend all die gesellschaftlichen Krankheiten und Mißstände beim Namen nennt, wie es auf den meisten seiner letzten Alben der Fall war. Reeds poetische Miniaturen sind heute wieder mit persönlichem Inhalt gefüllt. „Ist Ihnen das Explizite heute peinlich, oder denken Sie einfach, wie Joseph Beuys sagte, daß jede künstlerische Äußerung politisch ist?“ Reed pafft an seiner Zigarre, streift die Asche ab und sagt: „Für mich ist das beim Schreiben unwichtig. Es geht ohnehin immer nur um einen persönlichen Blickwinkel. Selbst wenn andere Wörter gebraucht werden: Es ist immer der gleiche Ansatz.“ Als vor fünf Jahren eine Reed-Anthologie unter dem bedeutungsschwangeren Titel „Between Thought And Expression“ erschien, stand ein Gedanke als Kernfrage im Mittelpunkt des 40-seitigen Booklets: Was wäre gewesen, wenn Reed in einer anderen Epoche geboren worden wäre, wenn Poesie einen größeren Stellenwertgehabt hätte? Also – was hätte Lou Reed getan, wenn es keine Rockmusik gegeben hätte? Endlich einmal kommt Bewegung in die Gesichtszüge, Reed lächelt: „Ich kann mir das noch nicht einmal vorstellen!“ Aber was, wenn nicht Romancier oder Poet, wäre er geworden, hätte er vor 200 Jahren gelebt? „Ich glaube, ich wäre ein fahrender Musiker gewesen. In einer Rock’n’Roll-Band zu spielen, über das Land zu fahren, ist eine alte Tradition. Ich hätte vor den Baikonen der Damen gesungen, hätte in finsteren Spelunken vor besoffenen Schnauzbärten gespielt.“ Ein Mariachi vielleicht. „Genau! Ab nach Mexiko. Der einzige Unterschied zu damals besteht doch darin, daß wir heute Elektrizität haben. Unter dem Strich hat sich überhaupt nichts geändert. Nimm beispielsweise die alten Country-Musiker: Die konnten auch nicht anders, als den lieben langen Tag zusammenzuhocken und ihre Lieder zu singen. Das war es, was sie tun mußten – und das ist es, was ich tun muß.“ Aber es gibt doch auch immer Pioniere -Leute, die nicht Traditionen widerkäuen, sondern Mauern niederreißen. Kann er nicht für Dichter, die im Opiumrausch zu ihrer Höchstform aufliefen. Andere wiederum ruinierten ihr Talent. Drogen sind eben nicht per se gut oder schlecht.“ Zwischen Schwarz und Weiß existieren eine Menge Grautöne – das weiß Reed heute mehr denn je. „There’s a difference between bad and worse“, singt er denn auch in „New York City Man“. „Wie schlecht auch immer etwas sein mag – es könnte immer noch um ein Vielfaches schlimmer sein.“ Sollte man diese Einschätzung also gar als zaghaften Optimismus deuten? „Als Realismus. Natürlich gibt es auf,Set The TnilightReeling‘ auch positive und durchaus optimistische Gedanken. Ich denke viel darüber nach, was es wirklich bedeutet, mit jemandem zusammenzusein. Mit jemandem zurechtzukommen. All diese Gedanken sind keineswegs fatalistisch und depressiv – eher… ja, spielerisch.“ Reed ist verliebt. Würde er in diesem Gefühlszustand auch bestätigen, daß hinter jeder Entscheidung, die ein Mann trifft, immer eine Frau steht? „Man kann es nur hoffen.“ Was hoffen? Nicht alleine leben zu müssen? sich in Anspruch nehmen, mit Velvet Underground diesen Anspruch erfüllt zu haben? Reed winkt ab. „Velvet Underground hatten den Spirit. Nicht mehr und nicht weniger.“ Nichtsdestotrotz ist es Velvet Underground, mit dem auch heute noch Reeds Name primär assoziiert wird. Seine ersten Solo-Alben, vor allem aber auch das unverdauliche „Metal Machine Music“ (das ausschließlich in Japan erfolgreich war!), brachten nicht die von Reed erwartete Anerkennung. Hinzu kam ein Drogenkonsuni, durch den sein physischer wie psychischer Zustand vollends unter die Räder geriet. Heute ist Reed clean. Auf die Frage, ob Drogen das mentale Gleichgewicht eines Menschen zwangsläufig zerstören – oder ob sie dem Menschen kreative Kicks geben können, weicht Reed aus: „Oh, Drogen – das ist ein kompliziertes Thema. Den einen bauen sie auf, den anderen machen sie fertig. Natürlich gibt es große „Well…“ – wieder eine Pause, und Reed spricht leise weiter: „Ohne eine Frau, ohne Liebe, ohne den Glauben, ohne das Vertrauen in diese andere Person würde etwas Elementares im Leben fehlen. Wenn du nachts im Bett liegst, nicht einschlafen kannst und im Halbschlaf träumst, dann hast du diesem Traum gegenüber eine Verpflichtung. Wenn du die Kraft hast zu träumen, dann bist du automatisch mit der Frage konfrontiert, ob du nicht auch die Möglichkeit hast, den Traum zu realisieren. Das ist der Beginn von Verantwortung.“ Liegt hierin etwa auch die tiefere Bedeutung des Titels „Between Thought And Expression“? Ist es das, worum sich alles dreht? Die ewige Herausforderung des Künstlers? Das nämlich auszudrücken, was bis dahin nur in einem flüchtigen Traum existiert? „Das eigentliche Machen ist es, das mir Genugtuung gibt. Hat man erst einmal eine Sache abgeschlossen – nun, was kann man dann noch machen? Nach vorne sehen. Das Kreieren ist der eigentliche Spaß, das Erschaffen – auch wenn manchmal schon die reine Idee unterhaltsam sein kann.“ Erst der Thought also, dann die Expression? „Du hörst Musik in deinem Kopf und versuchst, sie auch für andere Menschen hörbar zu machen. Und irgendwann kommt dann der Punkt, an dem andere Musiker diesen Gedanken umsetzen können, ihn noch ausschmücken können, ihn vielleicht deutlich verbessern.“ Bob Dylan hat einmal über traditionelle alte amerikanische Lieder gesagt: „All diese Lieder über Rosen, die aus Gedanken erwachsen, über Schwäne, die sich in Engel verwandeln – diese Lieder werden nie sterben.“ Was denkt Reed darüber? Ob seine Musik ihn überleben wird, kann er nicht wissen. Niemand kann es wissen. Aber will er es wissen? Ist es sein Wunsch, daß seine Songs überleben? ,Ja, ich möchte, daß sie überleben. Ich habe all meine Platten immer mit der Vision und dem Wunsch aufgenommen, zeitlose Aussagen und Formulierungen zu finden, die auch in Zukunft eine Verbindung zum Hörer herstellen. Die eben nicht bloß ein antikes Fundstück sind, das man sich nur anschaut, sondern etwas, das ungeachtet seines Alters zu dir spricht, mit dir kommuniziert. Deshalb habe ich immer hartnäckig vermieden, mich auf das Trittbrett eines Trends zu schwingen. Mir ging es nie um Mode. Nicht mal um die Mode, gegen die Mode zu sein.“ Statt dessen hat Reed mit „Set The Twilight Reeling“ ein neues Level seiner inneren Konsequenz erreicht: Der musikalische Ausdruck ist diszipliniert und schroff zugleich. Die Melodien sind, wie auf all den anderen Alben auch, weniger in den Refrains als vielmehr – scheinbar unspektakulär – im Baßbereich zu finden. Man hat fast schon den Eindruck, als sei dies ein kompositorisches Prinzip… „Meine Wunsch war es immer, daß der Baß nicht nur den Rhythmus stützt, sondern gleichzeitig auch eine Melodie spielt – eine Melodie als Gegenpol zum Gesang. Am deutlichsten hört man das wohl auf ,Walk On The Wild Side‘. Was ich mit meinen Bassisten Fernando Saunders und Rob Watson immer zu finden versucht habe, war dieser melodische Rhythmus. Das wirst Du auf all meine Platten finden: die Gegenmelodie zum Gesang. Auf dem Titelstück ist die Baß-Melodie eine richtige, ausgearbeitete Melodie…“ … um dann aber von Noise, Gitarren-Feedback und Krach konterkariert zu werden. „Oh nein, das ist kein Krach. Das sind inspirierte, kraftvolle Gitarren.“ Es klopft an der Tür. Die junge Dame von der Schallplattenfirma bedeutet mir mit gequältem Lächeln das unvermeidliche Ende unseres Gesprächs. „Okay, eine letzte Frage kannst du schnell noch stellen. Schieß los!“ Is a new love the beginning of a great adventure? Reed lächelt: „Absolut, ja! Das war aber nur eine kurze Antwort.“ Das macht aber nichts, sage ich und bedanke mich für das Gespräch. J3

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