A Complete Introduction To Chess Records :: Anthologie mit großen Songs aus der Geschichte des Blues-Labels
Von den beiden Bio- pics „Cadillac Records“ und „Who Do You Love“, die Aufstieg und Fall der Brüder Chess weithin abseits historisch verbürgter Tatsachen nacherzählten, kam das zweite Machwerk bei uns erst gar nicht ins Kino. Dabei war das, was die Porträts von Leonard und Phil angeht, viel mehr um authentische Darstellung bemüht. Starke Worte findet der Junior, was die Lebensleistung der Altvorderen betrifft, in diesem durchaus verdienstvollen Box-Set. O-Ton Marshall Chess im Vorwort: „Chess Records was one of if not the most important record label of all time.“ Letzteres sei dahingestellt, aber recht hat er mit der Behauptung: „Chess helped shape the sound of Rock and Roll as well as influencing the sound of all popular music.“
Deshalb ist gleich die erste von hundert Aufnahmen hier „Rocket 88“ von Jackie Brenston & His Delta Cats, die 1951 von Sam Phillips produzierte Aufnahme, die manchen mit guten Argumenten als Geburtsstunde des Rock’n’Roll gilt. Assistiert hatten dem Komponisten Brenston Ike Turners Kings Of Rhythm so formidabel, dass sich der Ohrwurm 17 Wochen in der Rhythm-&-Blues-Hitparade hielt. Ein Erfolg, den Brenston trotz hochkarätiger Songs nie mehr wiederholen sollte – und Chess mit Rock’n’Roll erst Jahre später, als sie diesem talentierten Chuck Berry aus Louisiana die Chance seines Lebens gaben.
Bis dahin waren die aus Polen emigrierten jüdischen Brüder bei der bewährten Firmenpolitik geblieben, Amerika den Blues seiner farbigen Bewohner auf Schallplatten näher zu bringen. Das war wie bei anderen regionalen, auf Eigenständigkeit bedachten und nicht durch Major Companies vertriebenen Firmen schon mal ein mühseliges Geschäft, bei dem Schellackscheiben von den von Stadt zu Stadt fahrenden Lastwagen runter verkauft wurden. Zum Zweck strategisch größerer Chancen bei Rundfunksendern gründete man mehrere Labels unter dem Dach von Chess. Jukebox-Programmierer wusste man erfolgreich zu bearbeiten. Wie die Studios in Memphis oder Nashville sorgte das Chess-eigene an der 2120 South Michigan Avenue für eine unverwechselbare Identität, was den Sound der Produktionen anging. Große Klasse brachten die natürlich beim eigenen Musikverlag unter Vertrag stehenden Komponisten mit, allen voran Willie Dixon, Chuck Berry, McKinley Morganfield, Bo Diddley und der junge Bobby Charles. Ausnahmsweise verhalf man auch Doo- Wop-Talenten wie den Moonglows zu beträchtlicher Popularität, und die Erfolge des Hauses lockten zeitweilig etablierte Größen wie John Lee Hooker und Elmore James an.
Von all denen findet man hier etliche ihrer erfolgreichsten Aufnahmen für Chess. Von Howlin‘ Wolf, Etta James und Dale Hawkins auch, aber nicht eine einzige von Buddy Guy. Was schon deswegen völlig absurd anmutet, weil der zwischen 1960 und 1967 etliche seiner grandiosesten Aufnahmen für Chess machte. Was den Sammlerwert in diesem Fall mehrt, sind nicht die versammelten Evergreens, sondern weniger bekannte oder untypische Aufnahmen wie „Wade In The Water“ vom Ramsey Lewis Trio und Terry Callier mit „Ordinary Joe“. (Universal) Franz Schöler