Beirut
Gulag Orkestar
Ein gewitzter Amerikaner rekonstruiert europäische Traditionen
Die Schwermut der Puszta. Der Überschwang des Balkan. Russische Seele. Deutsche Grübelei. Blaskapelleninferno. Die Heimeligkeit des Schtetl. Die polnische Polka. Der Muezzin vom Minarett. Zigeunerjunge. Klezmer. Gulasch. Bläser. Akkordeon-Seligkeit. Klagende Männer. Der west-östliche Diwan. Die schwarze Milch der Frühe. Ein 20-jähriger Amerikaner hat sich das alte Europa zusammenmusiziert, zuerst daheim mit Schlagzeugmaschine und Tröte und dann mit ein paar Freunden, die das „Gulag Orkestar“ spielten. Nun klingt es wie eine dieser elegischen Truppen, die immer in Emir Kusturicas Filmen die Musik von Goran Bregovich posaunen und trommein und flöten.
Die Musik von Zach Condon – der angeblich aus Albuquerque, New Mexico stammt – ist anverwandelte, ist falsche Folklore, die auch zu den falschen Ortsnamen (als Songtitel) erklingt: „Prenzlauerberg“, „Brandenburg“ haben nichts Teutonisches, Marschmusikhaftes, Spielmannszugseliges, sondern feiern die herzzerreißende Trauer des Slawischen. „Postcards From Italy“ mit seinen jubilierenden Bläsern soll möglicherweise den sizilianischen Weisen nachempfunden sein, Condon singt hier auf Englisch (und klingt dabei ein wenig wie David Byrne bei seinen lateinamerikanischen Versuchen). Man darf in „Rhineland (Heartland)“, „Bratsislava“, „The Bunker“ nicht nach historischer oder geografischer Akkuratesse suchen. „Gulag Orkestar“ ist aber auch nicht bloß die Satire eines überkandidelten Touristen auf eine fremde Welt oder die Art, wie Randy Newman oder P. J. O’Rourke die europäischen Länder sehen.
In dieser Musik liegen diesseits aller Erfahrung jene Gefühle für Heimat, Landschaft, Brauchtum und Religion, die in so vielen Kriegen zuschanden gingen. Mit gewitzter Naivität rekonstruiert Condon aus den Trümmern zerstörter Kulturen noch einmal den Klang von Identität, das Wispern von Namen, den Nachhall der Zeiten – das, was man Tradition nennt. Allenfalls mit Laibach ist das vergleichbar, den man Vorjahren freilich Nationaltümelei vorgeworfen hat. Zach Condon weiß wahrscheinlich nicht um Konnotationen und Misstöne, wenn er in „Bratislava“ schwere Trommeln und Bläser aufmarschieren lässt. Es ist eine Hölle der Unschuld, in der diese manieristischen Melancholie- und Totengesänge an das Untergegangene erinnern. „After The Curtain“ heißt das letzte Stück, eine Orgel dudelt zu orgiastischem Applaus und Pfeifen. Gott oder irgendwer bewahre Condon davor, der heiße Scheiß der Schlauberger zu werden.