Billy Joel :: The Ultimate Collection
Sträflich unterschätzt: Schießen Sie nicht auf diesen Pianisten!
Wären dies die so genannten Linernotes zu einer Platte von Billy Joel – sie würden ungefähr so lauten:
Ich arbeitete im letzten Jahr mit Bono im Studio auf Martinique. Eines Morgens gingen wir mit Harpunen auf Schildkrötenjagd, aber wir fingen keine, und Bono erzählte mir am Strand von den Plänen zu einer Oper, die im Kosovo spielen soll, Regie Luc Bondy. Ich erzählte ihm von meiner Studie über Billy Joel anlässlich seines Millennium-Konzerts im Madison Square Garden. Ich war mit einigem nicht zufrieden gewesen, ja ich hatte das Gefühl, Joel nicht gerecht geworden zu sein, obwohl sein Populismus auch bei diesem Konzert manchmal schwer zu ertragen war. Bono nickte verständnisvoll und sprach von seiner Cover-Version von Jt’s Still Rock’n’RoU To Me“ mit Luciano Pavarotti, die er für ein geplantes U2-Album mit dem Titel „The Judas Files“ aufgenommen hat Das machte mir Mut.
Zu Weihnachten ging ich in das Kaufhaus „Lust For Life“ und kaufte sämtliche Billy-Joel-Platten. Natürlich kannte ich die meisten, einige besaß ich in Vinyl-Ausgaben. Seit ich 1980 „Say Goodbye Tb Hollywood“ gehört hatte, verehrte ich Joel, doch Menschen in meiner Umgebung belächelten mich. Hat Billy nicht Klassiker geschrieben? Ist er nicht ein Genie des Populären? Als 1983 .An Innocent Man “ erschien, übertrafBilly sogar Bruce Springsteen, und während der seine Gitarre stimmte, hatte Billy schon wieder ein Album fertig. Damals war Billy der Größte, aber noch immer wurde er nicht ernst genommen. Ich erzählte niemandem von meiner Leidenschaft.
Schon die 70er Jahre hatte Billy Joel dominiert, indem er in praktisch jedem verdammten Jahr der Dekade eine Platte herausbrachte. „Piano Man“, Just The Way You Are“, „Honesty“, „It’s Still Rock’n’RoU To Me“ und „My Life“ wurden zu Signaturen dieser Jahre. Ungefähr so wie die Pullover mit Aufschriften wie „University Of Washington 77“. 1977 erschien „The Stranger“, die LP, die Billy weltberühmt machte. Auf dem Cover sieht man eine Schelmenmaske auf dem Kopfkissen liegen, so eine aus dem Theater, und Billy schaut sie skeptisch an. Ist nicht auch er ein Gaukler, ein Troubadour, eben der „Entertainer“, den er auf „Streetlife Serenade“ besang? Fehlte ihm der nötige Ernst?
Natürlich hat er so Rührseliges wie „Yim’re My Home“ und „She’s Always A Woman To Me“ gesungen, später „Leningrad“, das leider nicht die russische Nationalhymne wurde, sowie „The Downeaster ,Alexa'“. Er verherrlichte in „Allentown“ die Proletarier der Kleinstadt, wie es nur Bruce Springsteen in „Factory“ gelungen war, und blickte in „Goodnight Saigon“ merkwürdig pathetisch auf Vietnam zurück, Hubschrauber inbegriffen. Ein letztes Mal kommentierte er 1989 in „We Didn’t Start The Fire“ seine Zeit, und zwar die des Kalten Krieges, der nun vorbei war. Danach erschien nur noch JRirer Of Drearns“, Billys schwächste Platte, die doch mit „All About Soul“ noch einen kapitalen, wenn auch falsch arrangierten Song enthält.
Nein, die 70er Jahre waren seine Zeit, und wenn er irgendwann in den Neunzigern bekanntgab, er werde nun nur noch Instrumentalmusik schreiben, dann sagt das viel über das Wesen des Alterns. Natürlich hat auch der junge Billy mit Debussy kokettiert und „The Ballad Of Billy The Kid“ für eine komplexe Komposition gehalten, dabei war es einer seiner schönsten Gassenhauer. Natürlich gibt es das furchtbare Instrumental „The Mexican Connection“, aber auch den famosen „Root Beer Rag“, der ein paar Jahre später die erste Ausgabe von „Löwenzahn“ mit Peter Lustig einleitete.
Aber in seinen besten Songs, die übrigens ganz schön komische Geschichten erzählen, hat uns dieser Billy erschüttert und aufgewühlt. In „Captain Jack“, dem großartigen Drama von Langeweile und Ausbruch, und in „Miami 2017 (IV Seen The Lights Go Out On Broadway)“, in dem alle nach Florida fliehen und ein paar Überlebende New York bevölkern. In „New York State Of Mind“, der Hommage an seine Heimatstadt, und „Everybody Loves ou Now“, einem höhnischen Abschiedslied. In „Leave A Tender Moment Alone“, der Reminiszenz an die Musik seiner Jugend, und „This Night“ und „Teil Her About It“, die all die Naivität früher Popmusik erstrahlen lassen. Die unvergessliche Stelle, in der Billy „the New York Times, the Daily News“ singt, sagt uns alles über Heimweh. Und die Stelle in dem
herrlichen „Fve Loved These Days“, in der er „We dry our doubts in dry Champagne/ And soodie our souls with fine cocaine/ We get so high and get nowhere“ singt, ersetzt uns die „Suche nach der verlorenen Zeit“. Die ganze.
So dachte ich, als ich die Regale mit Billy Joels Platten im „Lust For Life“ durchstöberte. Sehr viele Exemplare von „The Ultimate Collection“ lagen dort, und ich überlegte, wer die heute kaufen solL Es gibt natürlich schon ganz viele Billy-Joel-Compilations und „Box Sets“ (Franz Schöler), sogar bessere, wie ich höre. An der Kasse im 2. Obergeschoss kaufte ein pickeliger Junge eine Vinyl-Maxi von Korn. Und Billy Joel hat seit sieben Jahren keine Platte gemacht.
Alles hat seine Zeit Ich nahm die Tüte und suchte die Rolltreppe.