Blumfeld :: Old Nobody

Herzlich willkommen daheim in der Hamburger Schule! Direktor und Oberlehrer Jochen Distelmeyer eröffnet ein neues Seminar, auf das er sich vier Jahre lang vorbereitet hat: das Projekt „Der Pop und wie ich ihn rette (nebst einigen Anmerkungen zu Münchner Freiheit, George Michael, John Lee Hooker, Photek und Fleetwood Mac)“. Panik in den Redaktionsstuben, Hysterie bei den Meisterschülern. Das „Magazin für Popkultur“ hält die Seiten frei, um ein Jahr früher als alle anderen eine Seminararbeit vorzulegen, die gleich bauchpinselnd den Professor zitiert und ein Fleißkärtchen einbringt. Entsetzen dagegen bei der Plattenfirma: Wie, die machen auf Boygroup? Nicht ausgeschlossen, daß Distelmeyer es ernst meint.

Und so ist es. Denn Distelmeyer meint alles ernst, und sein erster Satz ist naturgemäß „Das ist nicht ironisch“. Die Schwärmerei für Arrangements der bekannten und bespöttelten Combo Münchner Freiheit mag ans Obskurantistische grenzen (oder ans Gaga), aber die inbrünstige Ballade „Tausend Tränen tief“ ist in ihrer konstruierten Einfalt, ihrer gravitätischen Ernsthaftigkeit geradezu ehrfurchtgebietend. Allein, wer wird’s würdigen?

„Old Nobody“ wird von einem der gefürchteten Distelmeyerschen Lang-Poeme eröffnet Hernach klingeln die Ohren: Distelmeyer ist verliebt! Mit dir in ein anderes Licht! Dance into the light! Er feiert das Leben! Und er sing, jawohl! Ein Kinderchor (Klasse 4c, Kielortallee) kräht das Motto „Mein System kennt keine Grenzen“, in dem mit delikatem Humor auch der unvergeßliche Satz „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ verwurstet wird – dies zu einem Getöse, das an Randy Newmans Kneipen-Lamento „Mikey’s“ erinnert. Da ist Distelmeyer wieder der unnachgiebige, scharfe Sprechsänger, der Dichter als Amokläufer, der mit „Ich-Maschine“ und „L’etat Et Moi“ eine deutsche Revolution (im Wasserglas) auslöste – die als erfreulichsten Ausfluß Tocotronic, aber leider auch jede Menge Diskurs-Pfeifen hervorbrachte. Denn so schön sexy und verschroben theoretisieren wie Jochen Distelmeyer können die Epigonen alle nicht. Das Genie geht seinen Weg, die Hunde bellen hinterher.

Blumfeld, nun ohne den philosophierenden Bassisten Eike Bohlken, nahmen sich Zeit im Ausmaß von George Michael und (beinahe) Scott Walker. Deshalb ist „Old Nobody“ ein luxurierendes Album geworden. Der Bassist Peter Thiessen und vor allem der Keyboardspieler Michael Mühlhaus haben phantastische Arbeit geleistet. Das Stück „Pro Familia“ etwa hat einen hypnotisierenden Disco-Groove und synthetische Streicher, und darüber spricht Distelmeyer einen Text, der als „Skyeyeliner“ lustigerweise fast identisch schon auf dem Textblatt von JL’etat“ stand: „Back to Brake, Bielefeld/ Haus der Geschichte/ In den Garten der Erinnerung/ Zu den Bäumen und den Früchten/ Meinen Ängsten, meinen Träumen/ (~.) Zu der Stelle, wo der Bus hält/ Und mich mitnimmt ein paar Meter.“

Eine sentimentale Reise also, die der Songschreiber mit großen Augen und ohne Schutz zurücklegt. Der Mann, der früher schwer atmend „Laß uns nicht von Sex reden“ rezitierte, entblößt sich in „So lebe ich“, einem fast zehnminütigen, gebetsmühlenhaften, süchtigmachenden Mantra: „So schlägt mein Herz/ Stunde um Stunde/ Es schlägt für sich/ Für dich und mich/ Im Showgeschäft Gefühle zeigen/ Ein Musicman dreht seine Runden / Ich brauche dich/ Und kann es zeigen/ Ich ruf dich an/ Ich hör dich gern/ So lebe ich/ Einer von vielen/ Kein Einzelfall.“ Das läßt sich endlos fortsetzen (wir haben es versucht) – nenn‘ es Blues. Distelmeyer jubiliert staunend (und es klingt wie die Offenbarung): „Liebe ist möglich.“ Etwas derart Einfaches mußte mal gesagt werden.

„Old Nobody“ enthält noch mehr solcher Wunder eines kindlichen, glücklichen Blicks auf die Welt („Ein Milchgesicht/ Seit 30 Jahren“). Doch Obacht: Wenn in „Old Nobody“ „ein ewiges Meer“ besungen wird „aus unnennbarer Zeit“, dann schaudert es auch den Sängen Denn aus dem Dunkel kommt er, und ins Dunkel wird er gehen. Da helfen auch die allerliebsten unschuldigen Gesichter auf dem Cover nicht. Das Schwarz ist undurchdringlich.

Es gibt Pop in Deutschland. Folge dem Bootsmann!

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