Davids Volkskunde

1. WARUM GEHT ES MIR SO DRECKIG? 1971

Natürlich hört man, dass hier praktisch ohne Budget und Konzept produziert wurde. Vorne vier Live-Aufnahmen aus der Alten Mensa der Berliner TU, hinten vier rudimentäre Studio-Songs – das Einzige, was nie zu leise oder vermüffelt ist, ist Rio Reisers atemloser Gesang, ein aggressives Bellen voll rasender Kraft und Libido, wie man es von keinem anderen hörte. Die Band ist ein Jahr nach der Gründung noch nicht richtig gut, allerdings sind hier einige ihrer einleuchtendsten und beliebtesten Lieder wie „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ oder „Macht kaputt was euch kaputt macht“, teilweise in den späten 60ern als Einlagen fürs Lehrlingstheater geschrieben. Beim Arrangieren von „Mein Name ist Mensch“ dachten sie an Cream, insgesamt eine schundige Mischung aus Rhythm’n’Blues, Moritat und Brecht/Weill. 3,5

2. KEINE MACHT FÜR NIEMAND 1968 Was die Platte damals für die bedeutete, die ihren aufständischen Mut nicht vor Ort in Kreuzberg kühlen konnten, kann man sich andeutungsweise vorstellen: „Für mich heißt das Wort zum Sonntag Scheiße“, „Sie würden uns gern zum Teufel jagen, doch der Teufel will uns gar nicht haben“. Die Band hatte nun große Themen im Blick, zeigte ein Gespür für Poppigkeit (Rios Klavier ist großartig), und noch heute verströmen der Titelsong oder „Der Traum ist aus“ ein Gefühl von Aufbruch und Vision, obwohl der Sänger erst 22 war. Die Wurschtigkeit, mit der über die Rache am Chef und den Boykott von Fahrkartenautomaten gesungen wird, muss man verdauen oder ignorieren. 4,0

3. WENN DIE NACHT AM TIEFSTEN… ms Die Übergangs-Platte: Ton Steine Scherben machten keine neuen Agitationslieder mehr, hatten den Absprung aus Berlin aber noch nicht vollzogen, obwohl Rio schon singt: „Ich geh weg und such was Neues“. Mit eskapistischen und teilweise psalmenhaften Liedern machten sie sich beim alten Publikum unbeliebt, aber bis auf einige große Songs wie „Halt dich an deiner Liebe fest“ und „Wenn die Nacht…“ ist das Album auch musikalisch halbgar. Angenehmer, überraschend harmloser Liedermacher-Pop mit spürbaren Soul-Einflüssen und – vor allem in der zweiten Hälfte – nutzlos überdehnten Stücken. „Steig ein“ dauert 20 Minuten, ist zu großen Teilen ein dramatisches Rezitativ von Rio und zitiert die alten Hits. 3,0

4. IV 1981 Ein Doppelalbum, das mit „Jenseits von Eden“ losgeht, dem besten aller Scherben-Songs, kann nicht so verworren sein, wie es von der schwarzen Platte (die in der Erstausgabe wirklich ganz schwarz war) oft behauptet wird. Umflirrt von Kokain und LSD, hatte die Band sich die Aufgabe gestellt, 22 Tarot-Karten zu vertonen, jeder musste Songs schreiben, trotzdem halten sich Spinnerei und fantastische Melodien die richtige Waage. Ein Hexensabbat mit Synthesizern, Hackbrettern und Rückwärtseinspielungen, kurze Stücke in blühenden Farben, Rio als schlampiger Harlekin und Totenbuch-Prediger. Kantor Nehmiz aus Niebüll dirigiert den Kinderchor und ist vielleicht der Einzige, der die Songtexte interpretieren kann. Nicht das wichtigste, aber das beste Album. 4,0

5. SCHERBEN 1983 Das Cover zitiert „Between The Buttons“ von den Stones, es war das Album, mit dem die Scherben es nicht etwa wissen wollten, sondern mussten, um endlich Geld ins Haus zu bringen. Deshalb wurde ein mobiles 24-Spur-Studio nach Fresenhagen gefahren und zeitgemäß produziert – was nicht das Problem gewesen wäre, wenn sie bessere Songs gehabt hätten. Rio findet zwar klare, sogar selbstironische Worte über sein Liebesleben, aber stark genug sind die Sachen nicht, um sich gegen Neue-Deutsche-Welle-Keyboards und Lehrbuch-Rockgitarren durchzusetzen. Besonders extrem ist der Kontrast bei „Mole Hill Rockers“, dem uralten Arbeitslosen-Reggae, der zum ersten Mal aufgenommen wird und gleich im Eighties-Klang erstrahlt. 2,5

1. RIO I. 1986 Der Fuzzi-Vorwurf gegen Rios Solodebüt ist schwer nachzuvollziehen: Man kann gut hören, dass dies zur Hälfte tatsächlich Songs vom letzten Scherben-Demo sind. Und andere, „Menschenfresser“, „Lass uns das Ding drehen“, erinnern sogar mehr an ganz alte, subversivere Zeiten. Der notorische „König von Deutschland“, im Original von 75, ist im Kern ein Kreuzberger Arbeitertraum. Geschmacksempfindliche Eighties-Poprock-Produktion, aber Rio klingt frisch und geradezu überschwänglich, Lanrue spielt auf „Junimond“ ein Solo zum Heulen – dann eben eines der besten deutschen Schlageralben. 4,0

2. BLINDER PASSAGIER 1987 Nach dem Wackersdorf-Festival, nach Rios Ankündigung, das Bundesland Bayern wegen der Schwulen-Hetze des Innenministers nicht mehr zu betreten – schrieb er das platte Spießbürger-Bashing „Normal“, den süßlichen Hippie-Protestsong „Wann“, die albernen Musikbusiness-Satiren „Manager“ und „Gib mir was ab“. Man merkt, dass Rio sich fast nur noch mit Studiomusikern umgab und er dem besagten Manager im Bemühen Recht gab, nun auch das langweilige Publikum zu überzeugen. Den brisanten Teil der deutschen 80er verpasste Rio. 2,5

3. RIO 1990 Zwischendurch hatte Rio persönlich Freundschaft mit seinen ostdeutschen Fans geschlossen, für Schimanski gesungen und geschauspielert, und als Empfänger des Fred-Jay-Preis hatte man ihn in eine Reihe mit Ralph Siegel gestellt. Die Texte sind hier wieder besser, die Berliner LJebesgeschichte „Sonnenallee“ ist einer seiner sohönsten 90er-Songs. Allerdings nahm er den schlechten Rat der Produzenten Udo Arndt und Reinhold Heil an, die Platte auf Keyboards zu programmieren: Bontempi-Banalitäten, peinliche Kraftwerk-Anflüge, Geigen wie aus Hochzeits-Videos. Die denkbar ungünstigste Umgebung für Rios typisches Nöten. 2,0

4. DURCH DIE WAND 1991 Als Rio in die PDS eintrat und mit Gysi auf der Bierbank saß, erreichte das öffentliche Interesse, das die Westdeutschen an ihm hatten, den ersten Tiefpunkt. Auch für die Sony scheint das hier nur eine Pflichtübung gewesen zu sein, dabei zeigt Produzent Arndt Einsicht und gibt dem Sänger sein gewohntes Zuhause aus Gitarrenrock und Großstadt-Folk zurück. Das uralte Scherben-Lied „Jetzt schlägt’s dreizehn“ nimmt er zum ersten Mal auf, auch sonst besinnt Rio sich auf kuschlige Werte, Natur und Geborgenheit. „Der Krieg, er ist nicht tot, er schläft nur“, wird als eines der wenigen späten Reiser-Stücke zu einer Art Klassiker. 2,0

5. ÜBER ALLES 1993 Zu einer Zeit, als in Deutschland die Bands Blumfeld, Die Sterne, Captain Kirk & Die Goldenen Zitronen oder Die Regierung längst die hellwache Arroganz der Scherben in neue Worte übersetzt haben, wirkt Rio Reiser wie ein einfallsloser, gestriger Rock-Liedermacher, der einen guten Partner wie Lanrue dringend brauchen könnte. Produzentin Annette Humpe lockert den Klang auf, macht die biederen Riffs von Rios Band auf die Art noch biederer. „Irrenanstalt“, das beste Stück, hat Rio 13 Jahre vorher für ein schwules Musical geschrieben, selbst die Texte wirken ansonsten phrasenhaft. „Über alles“ schafft es bis Platz 81 der Charts. 1,5

6. HIMMEL UND HÖLLE 1995 Zu der Zeit arbeitete Rio fast wieder so freikünstlerisch wie vor der Scherben-Gründung, spielte und sang für den Münchener „Tatort“, schrieb Stücke für Leander Haußmann und verschiedene Musical-Theater. „Himmel und Hölle“ besteht zum Großteil aus Stücken dieser Auftragsarbeit, und durch Zufall stand mehr oder weniger dieselbe Band im Studio wie bei „Rio I.“, die seine Lieder viel liebevoller anfasste als die Kollaborateure auf den Platten davor. Folkloristische Elemente und Bottleneck hellen den gewohnten Poprock auf, neben Zeitkritik und Beziehungsstress umschreibt Rio Märchen und Utopien. Ein zärtlicher Ausklang. 3,0

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