Der Tagträumer :: Sonic Youths Thurston Moore bekennt sich auf seinem zweiten Soloalbum zu alten Utopien und einer neuen Musikszene
Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Jugendzimmer. Auf dem Boden Musikmagazine, Plattencover: Stooges, Captain Beefheart, Alice Cooper, Can. An der Wand ein Bild der Sparks und ein Poster aus dem amerikanischen „Creem“-Magazine, das Iggy Pop zeigt, wie er gerade mit einem Hammer einen Haufen Schallplatten Zertrümmert. Ein schlaksiger, etwa 13-jähriger Junge sitzt mit einer Sprühdose vor einem Aufnahmegerät und spricht in ein Mikro: „Was du jetzt hören wirst, ist wie ich die Kappe von einer Dose mit Lysol-Desinfektionspray nehme (zieht die Kappe ab). So. Was du jetzt hören wirst, ist wie ich Lysol Desinfektionsmittel versprühe (versprüht Spray im Raum. So.“
Wir befinden uns in Bethel, Connecticut, im Zimmer von Thurston Moore. Anfang der 70er Jahre. Diese Kassettenaufnahme des jungen Thurston ist der letzte Track auf „Trees Outside The Academy“, Moores zweitem Soloalbum. „Wenn ich das heute höre, finde ich es immer noch etwas seltsam, wie sich mein ganzen Leben damals darum drehte, für mich allein in unserem Haus zu sein“, meint Moore, mittlerweile Ende 40. „Sicher, ich hatte einen Bruder und eine Schwester, ich hatte Vater und Mutter, einen Hund und eine Katze. Also eigentlich ein ganz normales Leben. Aber ich habe mich trotzdem meist allein beschäftigt. Nur die Informationen aus den Magazinen, die ich las, und die Plattencover deuteten auf eine Welt außerhalb des Hauses, die mich interessierte.“ Vermutlich träumte er schon damals von diesem utopischen Ort im amerikanischen Underground, den seine Band Sonic Youth später „Daydream Nation“ nennen sollte.
Die Platte gleichen Namens ist mittlerweile fester Bestandteil des amerikanischen Pop-Kanons und wurde jüngst von der Band Song für Song noch einmal aufgeführt. Und auch nach fast 20 Jahren ist die „Daydream Nation“ noch ein Ort, an den man gerne zurückkommt. Ja, gegen diesen Noise’n’Roll wirkten selbst die doch eher traditionellen Songs vom letzten Sonic Youth-Album „Rather Kipped“ wie scheckheftgepflegte Auslaufmodelle. „Ich interessiere mich zur Zeit eben auch für klassisches Songwriting“, meint Moore. „Unsere letzten Sachen waren eine Mischung aus experimentellen Ideen und Songs, wie sagen wir Neil Young sie schreibt. Als wir mit ihm durch die USA getourt sind, haben wir auch zusammen ein paar Sachen ausprobiert. Er ist sehr offen für Neues.“
Der Präsident der Daydream Nation wäre — wenn es nach Sonic Youth gegangen wäre – Dinosaur Jr.-ChefJ Mascis gewesen. Und in dessen Haus hat Moore nun auch „Trees Outside The Academy“ aufgenommen. Er hat den Hausherrn sogar dazu bewegen können, ein paar verschlurfte Gitarrensoli auf seine Tracks zu legen. Doch das Album klingt nicht nach einem nostalgischen Trip zweier US-Underground-Helden, eher fühlt man sich an den Sound von Bands wie Six Organs Of Admittance und anderer experimenteller Folkbands erinnert, die das US-Magazin „The Wire“ 2003 unter dem Begriff „the new weird America“ zusammenfasste.
„The new weird America? Dort lebe ich“, lacht Moore und erzählt, dass David Keenan, der damals den Artikel über den neuen Folk-Underground schrieb, in seiner direkten Nachbarschaft wohnt. „Inspiration für seine Story war die Gemeinschaft in Northampton, in der wir leben. Da wohnen Leute wie der Avantgarde-Saxofonist Paul Flaherty, experimentelle Folk-Bands wie Sunburned Hand of Man, die Charalambides oder Feathers und Noise-Acts wie Hair Police oder Carlos Giffoni. Auch Derek Bailey hat dort bis zu seinem Tod gelebt. Es ist eine sehr spannende Szene, in der es anders als im Punk-Underground nicht um bestimmte Bands geht, sondern mehr um das Miteinanderspielen einzelner Musiker.“
Moore, der ähnlich wie die anderen Sonic Youth-Mitglieder, wie seine Frau, die Bassistin Kim Gordon, und Gitarrist Lee Renaldo immer ein künstlerisches Leben außerhalb der Band hatte, ist aktives Mitglied dieser Szene, viele der Musiker veröffentlichen außerdem auf seinem Label Estatic Peace und spielen auch auf „Trees Outside The Academy“ mit. „Diese Platte ist quasi die Geste, mit der ich erkläre, dass ich aus dieser Szene komme“, meint Moore. Die Plattencover und Magazinartikel aus seinem Jugendzimmer haben Thuriston Moore zu diesem neuen Zuhause geführt. Da ist es egal, ob „Daydream Nation“ oder „new weird America“ auf dem Ortseingangsschild steht.