Die Belagerung der Welt :: Paul Nizon

(Suhrkamp, 19.95 Euro) PHILIPP HAIBACH

Der Prosa Prousts überdrüssig, von seiner halb pflanzlichen, halb mensch l ic hen Freundin verlassen, tut Ferdinand das, was wohl jeder in seiner Lage tun würde: Der gemütsschwere Vampir zieht los, um Bücher und Platten zu kaufen. Seine Opfer beißt er übrigens nur mit einem Zahn, damit die Wunde nach einem Mückenstich aussieht. Und nachts schwebt er gern heimlich durch Museen, um die Sonne auf Gemälden zu betrachten. Als der leicht neben der Kappe wirkende und in Litauen hausende Nosferatu-Verschnitt einer rothaarigen Vampirin begegnet, die auf Gothic Punk steht und sich stante pede in ihn verknallt, ist das nur der Beginn einer Reihe romantischer Missverständnisse. Dass das kein gutes Ende nehmen würde, hätte er freilich ahnen können, glaubte sie doch, er habe seine Katze Imhotep nach einem gleichnamigen Rapper benannt und nicht nach dem berühmten Pyramidenbauer.

„Grand Vampire“, wie das französische Original heißt, ist ein Knotenpunkt im weitverzweigten Œuvre von Joann Sfar, was allein eine Fülle an Nebenfiguren belegt, die man aus anderen seiner Werke kennt. Dass nun die ersten vier farbenprächtigen Geschichten um den täppischen Blutsauger erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen, sollte hierzulande Grund zur Freude für alle Comicfreunde sein. Der Szenarist, Zeichner und Filmregisseur mit einem auffälligen Faible für Katzen beweist sich in „Vampir“ ein weiteres Mal als Großmeister der wehmütigen Groteske. (Avant-Verlag,

29,99 Euro)

Dieses 720-seitige Florilegium im Foliovulgo Telefonbuchformat ist mehr als ein Buch für die einsame Insel. Es ist die Bibel für den säkularen Geist. Brunold schreitet die mehrtausendjährige Geschichte der Schriftkultur ab und sammelt aus allen Epochen anthropologische Denkwürdigkeiten von den großen Philosophen, Belletristen, Journalisten und Quadratspinnern. Nichts Menschliches ist ihm fremd und seinen Gewährsleuten schon mal gar nicht. Und so geht es in diesem Buch um die ganz wichtigen Fragen der conditio humana -etwa der, wie man ein „Mädchen erobert“. Ovid rät im Jahre 1 n. Chr. zu „nachlässiger Schönheit“, aber „unter den Achseln soll nicht der stinkende Bock, der Herr der Ziegenherde, hausen“. Marcel Proust trägt sein nicht minder aktuelles „Lob der schlechten Musik“ bei, die wir heute als Pop bezeichnen. Ihr Wert „in der Geschichte der Gefühle“ sei gar nicht hoch genug zu veranschlagen, denn je häufiger man sie spiele, „desto mehr füllt sie sich allmählich an mit den Träumen, den Tränen der Menschen“. Pop als außerordentlich leistungsfähiger Emotionsakku -eine aparte Ehrenrettung! Albert Londres inspiziert 1925 die französischen Irrenhäuser, in die man leicht hineingerät, aber offenbar kaum mehr hinaus. Joseph Roth schreibt bereits 1930 eine bittere Polemik gegen die „Misswahl“, die ihn an jene Tradition erinnert, als Frauen noch „auf öffentlichen Märkten dargeboten wurden“. Und Norman Mailers grandiose Illumination der Mondlandung von Apollo 11 fehlt ebenso wenig wie Philip Zimbardos Versuchsbeschreibung des legendären Stanford-Gefängnis-Experiments, das den Beweis erbringt, dass in jedem von uns ein Sadist steckt. Brunold kaum auszulesender, leider auch sehr unhandlicher Trumm versammelt nicht nur immenses Weltwissen, er ist zugleich eine gewaltige Leistungsschau der Kunstform Essay. (Galiani ,85 Euro)

Der neue Murakami erschien hierzulande Mitte Januar, pünktlich zum 60. Geburtstag des Autors. Es ist der erste Roman, den er nach „1Q84“ veröffentlichte. Dieses fantastische dreiteilige Epos sprengte nicht nur ein ums andere Mal die Imagination des Lesers, sondern in seiner Heimat auch alle Verkaufsrekorde und wurde im Rest der Welt ebenfalls zum Bestseller. Erstaunlich eigentlich, wo Murakamis Schreiben bei aller westlichen Prägung doch stark von den Feinheiten der japanischen Sprache getrieben zu sein scheint. Selbst in der Übersetzung bleibt immer etwas Fremdes in diesem Murakami-Sound, den die Übersetzerin Ursula Gräfe kreiert hat und dem wir alle verfallen sind.

Der Titelheld des neuen Romans, Tsukuru Tazaki, war in seinen Teenagerjahren Teil einer scheinbar unzertrennlichen Clique -zwei Mädchen, drei Jungs -im japanischen Bagoya. Da er der Einzige war, der keine Farbe in seinem Nachnamen trug und von sich glaubte, im Gegensatz zu seinen Freunden kein großes Talent zu besitzen, fühlte er sich stets als Außenseiter und war zugleich stolz, trotz seiner Mängel zu diesem Freundeskreis zu gehören. Doch eines Tages -er studierte bereits in Tokio, wollte später Bahnhöfe bauen – brachen seine Freunde den Kontakt ab, Tsukuru fiel in tiefe Depression und entwickelte eine Bindungsangst, die sich dann aber aufzulösen scheint, als er mit Mitte 30 die zwei Jahre ältere Sara kennenlernt. Die bittet ihn aber, seine Vergangenheit aufzuklären, bevor sie über eine gemeinsame Zukunft nachdenken. Da wird Tsukuru seinem Vornamen („der, der etwas macht“) endlich gerecht und sucht seine alten Freunde auf, um die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit aufzuklären.

Murakami scheint sich von der epischen, surrealen Erzählweise seiner letzten Romane abgewandt zu haben und kehrt mit dieser einfachen Geschichte zur traurig-schönen Poesie seiner frühen Prosa zurück. Kühl und doch berührend zeigt er fünf Menschen, die jeder auf seine Weise aus der Tradition (Familienname) in die Individualität (Vorname) treten, beleuchtet Freundschaft und Liebe, Begehren und Schuld.

(Dumont, 22,99 Euro) MAIK BRÜGGEMEYER

Die melancholischen Wölkchen um den Kommissar Kimmo Joentaa wollen sich nach dem Tod seiner Frau auch im inzwischen fünften Teil von Jan Costin Wagners finnischer Krimireihe nicht verziehen. Im Gegenteil: In drei parallel verlaufenden Handlungssträngen erzählt der Roman „Tage des letzten Schnees“ erneut vom Verlust eines nahestehenden Menschen. Nachdem ein Banker seine neue Liebe, eine Prostituierte aus Osteuropa, tot in seiner Zweitwohnung findet, stirbt bald darauf die Tochter eines Architekten bei einem rätselhaften Autounfall. Und auch einer jungen Frau droht ihr Bruder mit dessen wahnhaften Amokfantasien allmählich zu entgleiten. Dass zwischen diesen verworrenen Schickalsdramen eine geheime Verbindung besteht, wird Joentaa, der sich in larmoyanten Mitleidsepisoden eher dem Vater des verunglückten Mädchens zuwendet, als zu ermitteln, erst spät bewusst. Doch selbst die Auflösung wirkt dürftig. Zwar beherrscht Wagner in atmosphärischer Stilsicherheit die Klaviatur finnischer Lakonie, dennoch zerfasert das Spannungsgewebe in schleppenden Trauerbewältigungen und epischem Herzschmerz. Ein Emo-Krimi. (Galiani ,19,99 Euro)

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