GLOBAL VILLAGE :: von Kein-Josch-Müllrich

Zum verspäteten Jahreswechsel erreicht uns, die wir im heimatlichen Tanger mit Blick auf die Felsen von Gibraltar überwintern, aus Europa die Botschaft mit intellektuellem Sprengstoff für Jahrtausende: „Love, Peace & Happiness!“ „Welch titanischer Weltentwurf.“ denken wir und eilen zurück nach Germanien, wo Briefkasten und E-Mail mit Nachrichten über neue Musik überquellen.

Wir reißen die ersten Cellophanhüllen von jungfräulichen CD-Silberlingen und sind schon beim ersten Hören angenehm überrascht. Die Geschichte des argentinischen Tango gehört sicher zu den ersten Kapiteln der Weltmusik. Niemand hat diesen Tango so geprägt wie ASTOR PIAZZOLA. Endlos sind seine Meriten und brauchen an dieser Stelle gewiß nicht mehr vorgetragen werden. Zur CD nur soviel: „Live At The ßßCi989″(Intuition/SMD) dokumentiert den Meister des (von einem Krefelder namens Band erfundenen) Bandoneons in einem seiner letzten atemberaubenden Konzerte. Wenig später erlag er in Paris einem Herzinfarkt.

Nach London und Paris mausert sich auch Berlin immer mehr zum Schmelztiegel der Kulturen. Nicht nur schickt von dort aus Radio Multikulti sein Gegengift gegen Langeweile im mitteleuropäischen Äther vom Band, auch die lokale Szene (think global, act locat) überrascht uns mit immer neuen interessanten Projekten. Als zuverlässiger Scout im weltweiten Dschungel der Töne und Geräusche entpuppt sich hier aufs neue Jimi Wunderlich und sein aufstrebendes Label United One. Deren segensreichem Wirken verdanken wir dieser Tage die CD eines ebenfalls in Berlin beheimateten Herrn HAROUN RACHID, der uns zwar profan in der bei arabischen Produktionen tausendfach geübten Paßbüdpose vom Cover anblickt, aber nach überwinden dieser optischen Hemmschwelle um so mehr mit seinen fröhlichen arabisch-andalusischen Klängen versöhnt Wer bei andalusischer Musik nur an Flamenco denkt, lernt hier noch etwas hinzu. Die Wurzeln von Rachids Musik liegen weit zurück, in den Tagen des frühen Mittelalters, als die Mauren noch Teil der multikulturellen spanischen Gesellschaft waren. Fazit: ein kurzweiliger Trip an die musikalischen Roots des Mittelmeerraumes. Außerdem nützliche amphetaminfreie Medizin für alle, die morgens immer Schwierigkeiten mit dem Aufstehen aus dem Bett haben (United One Records/Fenn). 3,0

Von der Metropole in die Provinz. Daß auch die Münchner durch das Globale Dorf surfen, respektive nicht alle im kolumbianischen Schneesturm festsitzen, beweist wieder einmal der Alt-Amon Düül II-Ex-Embryo-Popol Vuh-Veteran, Multiinstrumentallst, Komponist und kosmopolitische Dandy CHRIS KARRER. Für sein aktuelles Album „Sufisticated“ hat der „deutsche Brian Jones“ unter den Legionen seiner ehemaligen Mitstreiter einen beachtlichen musikalischen Eingreiftrupp ausgewählt und auf die Suche nach den globalen Ursprüngen des Rock & Roll geschickt. Obwohl Karrer unbestreitbar zu den europäischen Veteranen des multikulturellen Crossover zählt und im Tokioter Museum für Rockgeschichte bereits ein staubiges Dasein als wachsfigurene Legende führt, klingt „Sufisticated“ (Think Progressive/EFA) rauh, roh und ungehobelt, ab hätte er sich gerade erst auf den Weg gemacht. Falls Amon Düül II tot sein sollte, worüber ja immer wieder Gerüchte kursieren: Chris Karrer lebt! 3,0

Noch tiefer in die Provinz: Seit Jahren schon versorgt uns Friedemann Leinert mit seinem Stuttgarter World-Label „Blue Flame“ immer wieder mit interessanten Neuigkeiten aus den weißen Flecken unserer akustischen Weltkarte. Diesmal sind es unter anderem Klänge aus dem hohen Norden. Durch diesen geographischen Hinweis sollten wir uns allerdings nicht verwirren lassen: Das neue Album „First Summer“ (Blue Flame/BM) der Gruppe MYNTA präsentiert uns indische Musik unter den erschwerten Bedingungen eines schwedischen Elch-Tests. Die Test-Crew setzt sich zusammen aus indischen und skandinavischen Musikern, die, scheinbar unbeschwert ob ihrer Verschiedenheit, etwas Neues schaffen – Musik aus Skandinavistan. Das dies unter Einsatz eines aus scheinbar allen Winkeln der Erde zusammengetragenen Instrumentariums geschieht, sei nicht verschwiegen und macht gewiß auch einen großen Teil des Reizes dieses gelungenen musikalischen Treffens aus. Mit dabei: Fazal Qureshi, jüngerer Bruder der Tabla-Legende Zakir Hussain, selbst aufsteigender Stern am gleichen Instrument). Rice-Plate mit Knäckebrot, ungewohnt aber interessant. 4,0

Brasilien ist immer gut für musikalische Überraschungen. Der brasilianische Komponist und Musiker MIGUEL KERTSMAN läßt uns mit seiner in der europäischen Klassik wie in der brasilianischen Folklore gleichermaßen verwurzelten Musik aufhorchen. Orffsche Chor-Hymnen wechseln auf „Amazonica“ (Sony Classical) mit amazonischen und arabischen Rhythmen, aus dem Nichts schwebt eine naive Flöte herein, wie die Vertonung eines mittelalterlichen Breughel-Gemäldes. Bluegrassartiges Geigenfiedeln löst sich ab mit barocken Spinettklängen untermalt von dumpfen Galeerenpauken. Kertsman zieht so ziemlich alle Register der Welt-Musikgeschichte. Im Ganzen bleibt diese Musik unbeschreibbar und entzieht sich jeglicher Kategorisierung. Zurück bleibt der Eindruck, eine unglaubliche Zeitreise durch die musikalische Geschichte Brasiliens oder besser noch der Amerikas seit ihrer Besiedlung durch die Europäer gemacht zu haben. 4,0

Wer kennt noch die legendären 3Mustapha3? Lange nix mehr gehört? Richtig. Einer der Mustapha-Cousins hat nun Post aus Indonesien geschickt. Es dürfte einer der ersten sein, dem es gelungen ist, schräge indonesische Bambusflöte, gamelangefarbte Gongs und die für europäische Ohren chronisch atonale indonesische Geige in das sonst recht profane Idiom des englischen Popsongs integriert zu haben. Nur soviel können wir erkennen: Sabah Habas Mustapha ist auf Reisen. Das Sammelsurium besteht aus unüberschaubaren Einflüssen aus der lieben weiten Welt Nicht einzuordnen, aber gut. „Jalan Kopo“ (Kartini) ist erratische, inspirierte Weltmusik im besten Sinne – etwas beliebig und verwirrend in der Fülle auch. 3,0

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