Goodspeed You Black Emperor! – Levez Vos Skinny Fists Comme Antennas To Heaven

Ich weiß noch genau, was das Wichtigste am Progressive Rock war: „Mann! Auf dem neuen Yes-Doppelalbum sind nur VIER Stücke! Alle über 20 Minuten lang!“ Da saß man dann eineinhalb Stunden mit kurzen Saphir-Knister-Pausen, war total „weggeflippt“ und kämpfte sich mit dem offenen Klappcover auf dem Schoß durch ein endloses Textgeflecht über Ur-Gottheiten, universelle Sinnfindung und das Schicksal des Universums. Aber irgendwas muss doch drangewesen sein?

Stimmt, denn jetzt gibt es Progressive Rock ohne Tarkus, Indien, Debussy und Roger Dean, ohne mystische Sättigungsbeilage, und er ist verdammt gut – mindestens so gut, wie er damals immer war, wenn man ihn nicht hören musste, sondern nur darüber redete. Godspeed You Black Emperor! sind neun junge Menschen mit Gitarren, Trommeln und Streichinstrumenten aus dem kanadischen Montreal, die vor zwei Jahren mit ihrem ersten Album unter (vor allem britischen) Kritikern ein Erdbeben der Begeisterung auslösten, das sich nun verstärkt wiederholen wird.

Da trifft sich die intime Weltmüdigkeit der Tindersticks mit der hypnotischen „Ummagumma“ -Hermetik der frühen Pink Floyd und jener Grandezza, die sehr, sehr selten entsteht, wenn viele naive Musiker ihren persönlichen Leistungs- und Geltungsdrang über Bord werfen (oder solchen gar nicht haben) und sich gänzlich in ein musikalisches Abenteuer stürzen, von dem niemand weiß, wie es endet. Manchmal passiert dann fast gar nichts, schweben einzelne Töne über endlosen musikalischen Wüsten und Urwäldern, sammeln sich fast unmerklich zu Wolken und entladen sich in Wirbelstürmen. Dabei dehnt sich die Zeit ebenso wie der Raum. Bis sich Melodien wie Findlinge aus dem Lavastrom kristallisieren, vergehen Minuten, am Ende jedes der vier Stücke sind gute 20 Minuten vergangen, und wenn in der folgenden Stille dann der Blick zufällig auf ein Plattencover von, sagen wir, U2 fällt, erscheinen einem die Weltkönige der musikalischen Großlandschaftsgestaltung wie eine Tanzkapelle aus dem Irish Pub an der Ecke.

Die vier Stücke hier heißen „Storm“, „Static“, „Sleep“ und „Antennas To Heaven“, sie tragen Untertitel und bestehen aus Teilen, die durch nur zufällig aufgefangene Geräusche und Stimmen aus dem Äther organisch verbunden sind. Ansonsten kommen sie so weitgehend ohne Worte aus, dass der reißende Fluss von Bildern und Gefühlen, der den Hörer trägt – zwischen Verwirrung, Verzweiflung, Ekstase und grenzenloser Freiheit – nur aus dem eigenen Kopf entspringen kann.

Man braucht Zeit und ein offenes Gemüt, um die Qualitäten dieser Musik nicht nur schätzen zu können, sondern überhaupt Zugang dazu zu bekommen. Menschen, die im Kino bei unerwarteter Überlänge alle 20 Minuten auf die Uhr sehen, werden Probleme haben. Aber der Gewinn könnte einer fürs Leben sein. Und während ich das schreibe, sitzen drei Katzen seit 80 Minuten bewegungslos vor den Lautsprechern und starren in eine Ferne, die es nicht gibt.

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