Jonathan Lethem :: Dissident Gardens

Jonathan Lethem hat für den ROLLING STONE schon Bob Dylan und James Brown interviewt und ist zudem Autor grandioser persönlich gefärbter Essays zu Musik, Comics und Pulp-Literatur. Wie er selbst sind auch die Figuren seiner Romane tief in der Popkultur verwurzelt. Mit Werken wie „Motherless Brooklyn“, „The Fortress Of Solitude“ oder „Chronic City“ wurde der  heute 49-Jährige zudem der in seiner Generation wohl wichtigste Chronist seiner Heimatstadt New York. Sein neuer, gerade in den USA erschienener Roman, „Dissident Gardens“, hat seinen Ursprung allerdings in der Alten Welt, gegen Ende der bürgerlichen Epoche. Genauer gesagt: im Lübeck des frühen 20. Jahrhunderts. Hier wuchs Albert Zimmer als Sohn eines Bankiers und einer Opernsängerin auf. Sein Vater starb nach der Machtergreifung der Nazis an einem Herzinfarkt. Albert floh in letzter Minute mit seiner Mutter Alma und seinem Onkel Lukas nach – natürlich! – New York. Nur ein Erinnerungsstück konnten sie in die Neue Welt retten: einen schweren schwarzen Aschenbecher aus Granit, der im Verlauf der Familiengeschichte von Generation zu Generation weiterwandert.

Lethem hat den Ausgangspunkt seiner Geschichte also nicht ohne Grund gewählt. In „Dissident Gardens“ erzählt er eine moderne Variation der „Buddenbrooks“. In Sätzen von Mann’schem Umfang. Den Zeiten geschuldet allerdings nicht in linearer Narration, sondern in Fragmenten, die sich erst langsam zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Seine Protagonisten sind zudem selbstverständlich keine großbürgerlichen Kaufleute, sondern – im Gegenteil – radikale Linke. Albert träumt davon, mit seiner Frau Rose, geborene Angrush (ein Kompositum aus „angry“ und dem biblischen „burning bush“), in einer jüdisch-kommunistischen Siedlung in New Jersey zu leben. Mit einer echten New Yorkerin – und das ist Rose ohne Zweifel – ist so ein Umzug aufs Land allerdings nicht zu machen. Ihr schwebt eher ein „Utopia with a skyline“ vor – nämlich das in den Zwanzigern als Kommune angelegte Bauprojekt Sunnyside Gardens in Queens. Schnell schwingt Rose sich mit ihrem herrischen Wesen zur Matriarchin des Viertels auf, während es ihren Ehemann, der doch, wie sie bemerkt, eher Deutscher ist als Jude, nach dem Ende des Krieges als Spion zurück in die Heimat zieht.

Rose bleibt zurück, zieht die gemeinsame Tochter Miriam alleine groß, hat eine Reihe von Liebhabern und wird aufgrund einer Affäre mit dem verheirateten schwarzen Polizisten Douglas Lookins aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen; federführend in diesem Ausschlussverfahren ist einer ihrer Ex-Geliebten.

Rose und Miriam sind das Zentrum dieses epischen Romans. Zwei starke Frauen, die sich in ihrer bestimmten, dominanten Art gleichen und zugleich abstoßen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie aneinandergeraten. Zum Bruch kommt es an dem Abend, als Miriam in einer Art emanzipatorischem Akt beschließt, sich entjungfern zu lassen – eine Frau und somit eine Konkurrentin ihrer Mutter zu werden. Es kommt zum Kampf und Rose versucht, den Kopf ihrer Tochter in den Küchenofen zu stecken. Miriam flieht nach Greenwich Village, Rose wendet ihre Aufmerksamkeit Cicero Lookins zu, dem Sohn ihres Geliebten. Der entwickelt sich unter ihrem Einfluss – und zugleich in Abgrenzung zu ihr – zu einem dicklichen, homosexuellen Intellektuellen, der am Ende ihres Lebens, als sie sich von der realen, konfliktreichen und am Ende gescheiterten eigenen Familie schon der heilen Welt der TV-Seifenopern zugewendet hat, ihr letzter Bezugspunkt sein wird. Miriam heiratet Thomas Gogan, einen irisch-stämmigen Folksänger aus Kanada, der zunächst mit seinen Brüdern Clancy-Brothers-artige Trink- und Stimmungslieder singt und schließlich unter Einflussnahme seiner Frau zum Protestsänger wird – allerdings ohne großen Erfolg, die Rezension seines ersten Albums „Bowery Of The Forgotten“ von einem gewissen P. T. Tooth (den Lethem-Leser als Protagonisten aus „Chronic City“ kennen) vernichtet ihn. Miriam und Thomas ziehen mit ihrem Sohn Sergius in eine Quäker-Kommune und gehen schließlich nach Nicaragua, um ihre Solidarität mit den Sandinista zu zeigen.

Lethem, selbst Sohn einer politischen Aktivistin und eines Avantgarde-Malers, erzählt in „Dissident Gardens“ die Geschichte von linken Utopien im Land (des kapitalistischen Mythos) der unbegrenzten Möglichkeiten – vom Kommunismus der Vierziger und Fünfziger, über die Gegenkultur der Sechziger und Siebziger bis zur Occupy-Bewegung. Doch „Dissident Gardens“ ist weder Geschichtsstunde noch politische Parabel. Lethem tut das, was er wie zurzeit vielleicht kein Zweiter kann: Er beschreibt urbane Milieus und ihre Bewohner. Getreu der obersten Devise des dialektischen Materialismus, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, untersucht er die Rolle, die linke Ideologie – in Konkurrenz zu Religion, Herkunft und Sexualität – für die Identitätsentwürfe seiner Protagonisten spielt und zeigt, wie sich das Politische und das Private durchdringen, wenn sich das Individuum ins Verhältnis zu Tradition und Gesellschaft setzt.

Gegen Ende des Romans lernt der als Quäker aufgewachsene Hippie-Waise Sergius Gogan eine junge Occupylerin kennen, die die Lieder seines Vaters singt. Er fragt sie, ob sie Teil einer revolutionären Zelle ist. Sie schleppt ihn in eine Flughafentoilette, hat Sex mit ihm, lacht und sagt: „There’s no cell, you big dummy.“ Occupy sei überall, erklärt sie. „Like a way of being, Sergius. Just living differently.“ (Doubleday, ca. 18 Euro)

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