Keren Ann :: 101

Etwas weniger ätherische, immer noch faszinierende Liebeslieder

Keren Ann Zeidel kann man sich gut in einem Horrorfilm vorstellen – wie sie durch finstere leere Zimmer läuft und dabei immer wieder ruft: „Ist da jemand?“ Auch die Songs der in Israel geborenen, in den Niederlanden aufgewachsenen und in Paris erfolgreich gewordenen Sängerin werden oft von einer unheimlichen Stimmung durchzogen. Die 37-Jährige ist so etwas wie die urbane Variante des ebenfalls sehr effektvoll raunenden Hippie-Mädchens Hope Sandoval.

Auf ihrem sechsten Soloalbum, dem ersten seit vier Jahren, blickt Keren Ann aus dem 101. Stock eines Hochhauses in das Leben der Anderen. Jeder Song erzählt eine neue Geschichte. Den Anfang macht das tänzelnde „My Name Is Trouble“, das von einer jungen Frau handelt, die wie eine Ertrinkende liebt – zwanghaft, masochistisch und aus Angst vor der Einsamkeit: „I’m petrified of emptiness/ And let aside the loneliness/ The lovers tend to break me in two.“ Die Musik dazu marschiert dennoch tapfer voran und lässt sich nichts anmerken.

„Run With You“ schickt einem allerdings eine Gänsehaut über den Rücken: Da sind sie wieder, diese Chöre aus dem Jenseits, die man von Alben wie „Not Going Anywhere“ und „Nolita“ kennt. Auch in dieser morbiden Momentaufnahme geht es um Einsamkeit und eine veränderte Wahrnehmung der Realität. Ein Glück, dass das folgende „All The Beautiful Girls“ von jungen Mädchen und ihren oberflächlichen Vergnügungen erzählt. Da wird bis in die Puppen bei reichlich Wein über Ginsberg und Pollock gequasselt und hinterher noch der Kleiderschrank umdekoriert. Das etwas alberne „Sugar Mama“ hüpft ein wenig im Beat des Ye-Ye, mit dem junge Franzosen in den Sechzigern den Beatles nacheiferten. Auch „Blood On The Floor“ klingt munter – hämmerndes Piano, ironisches Streichquartett -, obwohl es von der Liebe unter Waffenfetischisten handelt: „Then there was blood on my shoes/ There was blood on my makeup There was blood on the ceiling/ There was blood on the piano.“ Quentin Tarantino würde sicher mit Freude ein passendes Video drehen. Im verrätselten Titelsong zählt Keren Ann schließlich ein ganzes Leben herunter: Von 101 Stockwerken über 48 Paar Schuhe und 37 Lebensjahren bis zu „one god“. Ein finaler Mahlstrom, eine Wendeltreppe zu Gott.

Alle Stücke des Albums wurden wie gewohnt von Keren Ann geschrieben und in Paris und Reykjavik von ihr produziert. Auch der musikalische Langzeit-Partner Bardi Johannsson ist wieder dabei. Und dennoch ist „101“ (zumindest musikalisch) etwas weniger ätherisch ausgefallen als die Vorgänger. Keren Ann hat ihre Gespenster jetzt im Griff. (EMI) Jürgen Ziemer

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